Wenn man der Huffington Post glauben darf, häufen sich zur Zeit die Falschanzeigen von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen: Zumindest einer der Vorfälle an Silvester hat so nie stattgefunden. Auch die 15-Jährige in Mönchengladbach, die 29-Jährige in Dresden und die 17-Jährige in Schweinfurt wurden weder vergewaltigt, noch von einem Mann mit Migrationshintergrund; Auch das Ohr, das ein Asylbewerber einem Mädchen in Donauschingen nach einer brutalen Vergewaltigung als Trophäe abgeschnitten haben soll, ist noch dran. Und die Liste geht weiter. Was soll uns das alles sagen?
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Erst einmal herzlich wenig.Vor allem „nach Silvester"—synonym auch „nach Köln"—rief die Polizei öffentlich dazu auf, dass sich Opfer bei ihnen melden sollten. Entsprechend gab es mehr Anzeigen und damit eben auch eine statistisch höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich die eine oder andere Falschanzeige darunter befindet. Was wir zur Zeit erleben, ist das eigentlich erfreuliche Phänomen, dass Betroffenen zugehört wird und damit ein Teil der Dunkelziffer von sexualisierter Gewalt in den sichtbaren Bereich rückt—und zwar vom euphemistisch bezeichneten „Angrabschen" bis hin zu Vergewaltigungen. Was wir nicht haben, sind repräsentative Zahlen—weder für die Häufigkeit von Übergriffen, noch für die von Falschaussagen. Das werden wir alles irgendwann im Rückblick bewerten können, wenn darüber wissenschaftliche Arbeiten verfasst worden sind, die dann aber natürlich deutlich weniger Leute lesen als die ganzen aufgeregten Artikel heute. Da wir aber bisher noch nicht so weit sind, können wir uns aktuell nur mit der problematischen Art und Weise auseinandersetzen in der dieser Diskurs geführt wird.Ein Best-Of der Dinge, die mich aufregen:Falschbeschuldigungen sind ja nur wirksam, wenn sie aufgegriffen und verbreitet werden. Normalerweise werden Vergewaltigungen bei der Polizei angezeigt und das war es erst einmal. Nur ein kleiner Teil kommt überhaupt zur Verhandlung, die Öffentlichkeit erfährt relativ wenig davon und das ist auch richtig so—aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und um ein allgemeines Gefühl von Bedrohung und Panik zu vermeiden, wie es sich „nach Silvester" eingestellt hat. Und vor allem, um zu vermeiden, dass sich Bürgerwehren formieren, um „unsere Frauen" zu schützen und Jagd auf vermeintliche Täter zu machen, oder auch nur auf Leute, die so aussehen, wie man sich Täter vorstellt, dito wie nach „Silvester".
Nummer 1: Rechtspopulisten schüren die Angst vor den muslimischen Horden vor den Toren des weiblichen Genitals
Die kolportierten Geschichten gerade über Vergewaltigungen haben etwas merkwürdig Symbolisches, so als wäre der „geschändete" Körper der Frau das Land, das sich nicht vor dem Eindringen einer dunklen Bedrohung wehren könne.
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Doch machen erfundene Geschichten schon ein wenig länger wieder die Runde. Es ist ja keineswegs so, dass erst innerhalb der letzten Woche Falschanzeigen aus dem Boden gesprossen sind, wie der Huffington Post-Artikel impliziert. Viele der Beispiele stammen bereits aus dem letzten Sommer und Herbst, als die Flüchtlingsproblematik schon längst nicht mehr nur an den Grenzen Europas stattfand, sondern auch vor dem LaGeSo und in Flüchtlingsunterkünften in Kleinstädten. Und während anfangs hauptsächlich die Angst umging, dass „die" die Immobilienpreise senken und illegal Ziegen schächten könnten, kamen rasch Gerüchte über auch im sexuellen Sinne grenzüberschreitende Flüchtlinge auf. Der AfD-Politiker Uwe Wappler machte Schlagzeilen, weil er erklärte, dass in Unterweser ein 12-jähriges Mädchen von Asylsuchenden vergewaltigt worden sei und die Polizei aus political correctness nicht eingreifen würde. Als Journalisten von Panorama nach Beweisen oder einfach nur Hinweisen fragten, wann und wo die Tat genau stattgefunden haben solle, räumte Wappler ein, dass „es diesen Fall irgendwie nicht gibt".Schon lange vor „Köln" wurde der arabisch aussehende Mann™—wie meine Kollegin Nadia Shehadeh diese neu kreierte Identität getauft hat—als Gefahr wahrgenommen. Die kolportierten Geschichten gerade über Vergewaltigungen haben etwas merkwürdig Symbolisches, so als wäre der „geschändete" Körper der Frau das Land, das sich nicht vor dem Eindringen einer dunklen Bedrohung wehren könne. Der Unterschied zu vor „Silvester" ist, dass seitdem auch außerhalb von AfD- und Pegida-Kreisen offen diskutiert wird, ob die Flüchtlinge aus „der muslimischen Welt" ein Problem für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Deutschland darstellen.
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Nummer 2: Kaffeesatzlesen mit Vergewaltigungsgeschichten wird weder Opfern sexueller Gewalt gerecht, noch Opfern von Falschaussagen
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Dabei muss sich, wenn jemand eine Vergewaltigung oder ein anderes Verbrechen begeht, nur diese Person dafür vor Polizei und Gericht verantworten—und nicht alle Menschen, die irgendwie ähnlich aussehen oder die gleiche Schuhgröße haben, und noch nicht einmal seine oder ihre Familie. Das wäre Sippenhaft und wurde in Deutschland nach dem Nationalsozialismus abgeschafft, weil es nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar ist.Was ist aber mit der Sippenhaft für alle Frauen, denen nun nicht mehr geglaubt werden könnte, wenn sie eine Vergewaltigung anzeigen?Es steht ja schon in der Bibel: 1. Buch Mose, Kapitel 39, Joseph und das Weib des Pontiphars. Was auch immer ein Pontiphar ist. Dass dessen Frau den schönen Joseph verführen wollte, er sie aber abwies, und sie daraufhin aus Rache behauptete, er habe sie vergewaltigt ist allgemein bekannt. Ansonsten muss man sich nur ein Gemälde von Rembrandt anschauen oder eine Oper von Richard Strauss oder ein Musical von Andrew Lloyd Webber, um nur einige zu nennen, die dieses Bild bemühen. Die zurückgewiesene Frau, die „Vergewaltigung schreit" ist ein Topos, meist noch mit dem Adjektiv „hässlich" bedacht, nach dem Motto: Wer will die schon vergewaltigen?Bei den wichtigen Reformen des Sexualstrafrechts von 1974 und 1997 kämpften Feministinnen gerade gegen dieses Vorurteil. Da Vergewaltigung ebenso wie das Asylrecht vor der Jury der öffentlichen Meinung verhandelt wird, ist es gerade jetzt, wo die nächste Reform des §177 StGB vor der Tür steht, so ein Schock, wenn nicht nur rechte Politiker oder Blogs, sondern auch vermeintliche Opfer selbst eine Tat erfinden. Dabei sollte es nicht schockierend sein, wenn Menschen in—subjektiv oder objektiv empfundenen—Notsituationen auf ein gesellschaftliches Muster zurückgreifen, das sie kennen. Und Vergewaltigung ist nun einmal nach wie vor eines der ersten Narrative, das uns in den Sinn kommt, wenn eine 13-Jährige nicht nach Hause kommt.
Nummer 3: Das Joseph-Phänomen und ähnlicher Unsinn zieht sich weiterhin durch unsere Populärkultur
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Berichte wie die über den „Fall Lisa" oder die 21-Jährige aus dem thüringischen Sonnenberg, die die Geschichte erfunden hatte, sie sei „von drei Flüchtlingen angegriffen und sexuell missbraucht worden", verraten uns eine Menge darüber, welche Debatten wir gerade in Deutschland und international führen, aber nur wenig über eine tatsächliche oder eventuelle Häufung von Falschaussagen. Es kann, sobald echte Zahlen vorliegen—und die haben wir noch nicht!—interessant sein, zu reflektieren, welches (politische) Klima welche Falschaussagen begünstigt. Doch darf das keine Auswirkungen auf einen Umgang mit Opfern haben. Das würde auch überhaupt keinen Sinn machen: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn es eine völlig andere Person ist, die gelogen hat?Es ist Zeit, das Falschbeschuldigungs-Tabu zu durchbrechen: Natürlich gibt es Falschanzeigen und es wäre auch ein Wunder, wenn das nicht so wäre. Das würde Vergewaltigung aus dem Bereich der menschlichen Interaktionen herauslösen und sie zu einer Art Naturgesetz machen. Politisch wird es allerdings, wenn es um den Anteil an Falschaussagen bei Vergewaltigungsvorwürfen geht. Die Zahlen, die in der Regel zitiert werden, variieren zwischen 2% und 41%, wobei letztere wissenschaftlich massiv umstritten ist und erstere sich nur auf aufgeklärte Fälle bezieht, so dass die Dunkelziffer selbstverständlich höher ist—wie bei jedem anderen Verbrechen übrigens auch.Natürlich gibt es Falschanzeigen und es wäre auch ein Wunder, wenn das nicht so wäre.
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Und Falschbeschuldigungen sind ein Verbrechen. In Deutschland steht darauf eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren—wenn sie vor Gericht oder einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen zuständigen Stelle gemacht werden. Allerdings ist die Polizei noch keine solche Stelle. Die Verurteilungsrate bei Falschbeschuldigungen, so es denn zu einer Anzeige kommt, ist ähnlich niedrig wie die bei Vergewaltigungen. Und ebenso wie wir die Opfer von Vergewaltigungen ernst nehmen müssen, müssen wir die Opfer von Falschbeschuldigungen ernst nehmen. Nicht zuletzt, weil Menschen, die wegen einer Vergewaltigung ins Gefängnis müssen, dort ein höheres Risiko laufen, selbst Gewalt zu erfahren.Die Verurteilungsrate bei Falschbeschuldigungen, so es denn zu einer Anzeige kommt, ist ähnlich niedrig wie die bei Vergewaltigungen.