Vor Kurzem stürmte R. Kelly während eines Interviews mit Carolina Modarassey-Tehrani von HuffPo Live erbost aus dem Raum, nachdem ihm die Journalistin Fragen zu den wiederholten Vorwürfen des systematischen Missbrauchs von minderjährigen Mädchen gestellt hatte.
Nach vier Minuten geht Modarassey-Tehrani schon in die Vollen und fragt den Musiker: „[Dein neues Album The Buffet] verkauft sich nicht so gut wie Black Panties. Woran liegt das?” Kelly weicht der Frage noch aus: „Ich glaube, dass sich jedes meiner Alben gut verkauft, aber die Leute können sich ja auch einfach an den Computer setzen und es runterladen.”
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Im weiteren Verlauf des Interviews geht Kelly dann immer weiter in die Defensive. „Scheiß drauf”, meint er zum Beispiel auf die Frage, was er zu Fans sagen würde, die sich in Bezug auf ihn nicht mehr ganz sicher sind. Des Weiteren lässt er dann noch folgende Aussage vom Stapel: „Wenn jetzt noch irgendetwas Negatives aus deinem Mund kommt, dann bin ich raus. Dann gehe ich zu McDonald’s—hoffentlich haben die dort einen McRib am Start—, fliege nach Chicago, werde ein bisschen Basketball spielen und dann noch mein neues Album aufnehmen.”
Der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen bringt, ist dann Modarassey-Tehranis Frage, was Kelly zu den Fans sagen würde, die seine Musik nicht mehr kaufen wollen. Da steht der Musiker auf und meint: „Dieses Interview ist vorbei.”
Man muss hier jedoch auch anmerken, dass R. Kellys gesamte Karriere zum jetzigen Zeitpunkt mehr oder weniger vorbei zu sein scheint.
Noch vor zwei Jahren hat R. Kelly so etwas wie eine Renaissance erlebt. Trotz der allgemein bekannten und beständigen Anschuldigungen, dass der Sänger sich an minderjährigen Mädchen sexuell vergangen und sie vergewaltigt haben soll, hat das Musikportal Pitchfork dem damals 45-jährigen Künstler einen Headliner-Slot bei einem Musikfestival angeboten. Beim Coachella-Festival trat Kelly zusammen mit der bekannten Indierock-Band Phoenix auf und performte seinen Hit „Ignition (Remix)“. In gleichen Herbst durfte er außerdem noch bei Saturday Night Live und den American Music Awards vor einem Millionenpublikum auftreten. Hot Panties, das 13. Soloalbum des Sängers, wurde im Dezember 2013 rausgebracht und vornehmlich positiv aufgenommen.
Aber dann kamen (genau wie jetzt) die Anschuldigungen gegen Kelly wieder auf. Kurz nach der Veröffentlichung von Black Panties veröffentlichte die Zeitung Village Voice ein Interview zwischen der berühmten Musikredakteurin Jessica Hopper und dem Chicago Sun-Times-Journalisten Jim DeRogatis, der damals als erstes über die Vergewaltigungsvorwürfe gegen R. Kelly berichtet hatte und sich seitdem unerbittlich mit der Story beschäftigt. DeRogatis meinte, dass sich mehr als zwei Dutzend von Kellys angeblichen Opfern zwecks Interviews bei ihm gemeldet hätten. Außerdem erklärte er, dass Kelly trotz der vielen hundert Seiten Anschuldigungen, die sich in den Akten des Chicagoer Justizsystems befinden, niemals wegen Vergewaltigung vor einen Richter gebracht wurde. In allen Fällen wurde sich außergerichtlich geeinigt und die Details dieser Einigungen werden unter Verschluss gehalten.
„Das Traurigste, das ich bei dem Ganzen gelernt habe: Niemand ist unserer Gesellschaft mehr egal als junge, schwarze Frauen. Wirklich niemand”, meinte DeRogatis und betonte nochmals, dass es sich bei Kellys Opfern ausschließlich um „junge, schwarze Frauen handelte, die sich alle auf einen außergerichtlichen Deal einließen. Das haben sie jedoch nur gemacht, weil sie nicht daran glaubten, dass ihnen wirklich Gerechtigkeit widerfahren könnte. Sie hatten keine Chance.”
Neben dem Interview veröffentliche Village Voice außerdem alle Dokumente, die DeRogatis gegen Kelly gesammelt hatte. Laut dem ehemaligen Village Voice-Musikredakteur Brian McManus (der jetzt bei VICE ist) wurde der Artikel vier Millionen Mal angeklickt und stellte einen Wendepunkt für das Ansehen von R. Kelly dar.
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2014 sagte Kelly seinen Headliner-Gig beim Fashion Meets Music Festival in Columbus wieder ab, nachdem aufgrund der Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs scharfe Kritik geäußert wurde. Aus Protest gegenüber Kelly weigerten sich auch andere Künstler, dort aufzutreten. So schrieb die Band Saintseneca auf ihrer Website folgendes Statement: „Unserer Meinung nach ignoriert man mit der Entscheidung, R. Kelly einzuladen, die schwerwiegenden Anschuldigungen des sexuellen Missbrauchs und der Gewalt.”
Und auch dieses Jahr zog Kellys Auftritt beim Free Press Summer Festival in Houston Proteste nach sich—ein Demonstrant meinte dabei gegenüber lokalen Medien: „Ich kann einfach nicht glauben, dass er noch irgendwo auftreten darf, obwohl jeder weiß, was er getan hat.”
Noch wichtiger ist aber vielleicht noch, dass R. Kellys 14. Soloalbum The Buffet bis jetzt nur 39.000 Mal verkauft wurde—eine relativ unspektakuläre Zahl. Mit nur wenigen Ausnahmen wurde das Album von den meisten Musikportalen komplett ignoriert und stattdessen lobte man lieber die Alben von Jeremih und Ty Dolla $ign (beide Künstler können als so etwas wie R. Kellys musikalische Erben angesehen werden) in den höchsten Tönen.
Für einen so großen Musiker wie R. Kelly ist Ignoranz schlimmer als Kritik. Zwar wird in der Öffentlichkeit immer noch viel über den Sänger diskutiert, aber dabei geht es eben wieder mehr um seine mutmaßlichen Verbrechen als um seine Musik. Und es hat tatsächlich den Anschein, als ob Kellys hauptsächlicher Ansporn für das Interview bei HuffPo Live der Wunsch gewesen wäre, überhaupt irgendjemanden darauf aufmerksam zu machen, dass er ein neues Album herausgebracht hatte.
Es hat den Anschein, als ob die Öffentlichkeit endlich an dem Punkt angekommen ist, an dem sie sich die Frage stellt, die DeRogatis schon von Anfang an in den Raum geworfen hat: „Warum zum Teufel hören wir immer noch R. Kelly?”
Im Dezember 2000 war R. Kelly schon gut zehn Jahre ein echter Superstar gewesen. Kurz nach der Veröffentlichung seines vierten extrem erfolgreichen Soloalbums TP-2.com schien ihn nichts aufhalten zu können. Im gleichen Monat erschien in der Chicago Sun-Times dann allerdings der erste von vielen Artikeln, in denen über R. Kellys vermeintlicher Missbrauch von jungen Mädchen berichtet wurde. Dabei wurden zwei Anklagen gegen den Sänger ans Tageslicht gebracht—inklusive Hunderter Seiten an erschreckenden Zeugenaussagen. Anfangs interessierte sich allerdings nicht wirklich jemand für die Story: Mit Ausnahme der Associated Press verfolgte kein Nachrichtenportal die Nachricht weiter. Die Vorwürfe verkamen zu einer kleinen Fußnote in R. Kellys Karriere und reihten sich dabei neben Gerüchten bezüglich inkorrekten Verhaltens während der schnell wieder geschiedenen Ehe mit der damals 15-jährigen Aaliyah ein.
Aber in den Jahren nach der Veröffentlichung des ersten Artikels meldeten sich schließlich immer mehr Frauen zu Wort und behaupteten, dass Kelly sie als Minderjährige sexuell missbraucht hätte. Zudem wurde eine anonyme Videokassette bei der Sun-Times abgegeben, auf der zu sehen ist, wie der Sänger Sex mit einem augenscheinlich minderjährigen Mädchen hat und dazu noch auf sie uriniert.
Am 5. Juni 2002 kam es dann zu dem Zwischenfall von R. Kellys Karriere, über den am meisten berichtet wurde: Die Chicagoer Polizei und Staatsanwaltschaft kündigte an, den Künstler in 21 Anklagepunkten der Kinderpornografie vor Gericht zu bringen (sechs Jahre später befanden Geschworene Kelly in allen Anklagepunkten für nicht schuldig). 2002 wurde dann auch noch eine zweite Klage gegen den Sänger eingereicht—nämlich von einer Frau, die behauptete, als Minderjährige von Kelly erst geschwängert und dann zu einer Abtreibung gezwungen worden zu sein. In diesem Fall wurde eine außergerichtliche Einigung erzielt.
Kellys mutmaßliche Verbrechen existieren trotz ihrer extrem abscheulichen Natur nicht in einem Vakuum. Laut den Daten, die vom National Center for Victims of Crime zusammengetragen wurden, sind 40 bis 80 Prozent der Kindesmissbraucher „selbst Opfer von sexuellem Missbrauch geworden.” Und so schreibt R. Kelly in seiner Autobiografie Soulacoaster: The Diary of Me auch davon, wie man sich in seiner Kindheit sexuell an ihm vergangen hat.
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Der Sohn einer alleinerziehenden Mutter wuchs in einem Haushalt in Chicago auf, wo immer etwas los war. Schon im jungen Alter war er sexuellen Aktivitäten ausgesetzt. So erinnert sich Kelly in Soulacoaster daran, wie er mit acht Jahren Erwachsene durch den Türspalt dabei zusehen konnte, wie sie miteinander schliefen. Außerdem behauptet er, von einer Verwandten regelmäßig sexuell missbraucht worden zu sein: „Jedes Mal, wenn sie es tat—und das über mehrere Jahre hinweg—warnte sie mich davor, was geschehen würde, wenn ich irgendjemandem etwas erzähle. Egal wie oft es auch passierte, ich wusste immer, dass ich niemals etwas sagen könnte.”
Aber egal in welchen Kontext man die ganze Sache auch setzt, für DeRogatis und viele andere Menschen gibt es bei der Entscheidung, R. Kellys Musik zu hören oder nicht, kaum Zweifel. So meinte er gegenüber Hopper: „Man muss sich nur mal Textzeilen wie ‚I want to marry you, pussy’ anhören und darüber nachdenken, dass er das zu Aaliyah gesagt hat, die damals 14 Jahre alt war. Außerdem hat er ihr Album Age Ain’t Nothing but a Number geschrieben und produziert. Aaliyahs Mutter hat sich an meiner Schule ausgeweint und mir erzählt, dass das Leben ihrer Tochter danach kaputt und nie wieder das Gleiche gewesen sei.”
Nun hat es den Anschein, als ob die Öffentlichkeit nach einem Jahrzehnt der Unentschlossenheit damit anfängt, DeRogatis Standpunkt zu übernehmen. Der öffentliche Aufschrei in Bezug auf R. Kellys mutmaßliche Verbrechen hat das Image des Sängers endlich eingenommen.