„Foetus in foeto” ist die Bezeichnung für ein außergewöhnlich seltenes Phänomen in der Medizin. Es handelt sich hierbei um eine fetale Inklusion im Mutterleib. Dabei werden zunächst mindestens zwei Embryos (in manchen Fällen auch Mehrlinge) entwickelt, einer schließt den anderen dann ein, absorbiert ihn, entwickelt sich dann weiter und lässt den anderen Mehrling zurück. Weltweit sind kaum hundert Fälle des Phänomens bekannt.
Dabei können sich die Brüder oder Schwestern an verschiedenen Körperstellen des Anderen „einnisten”. Im Schädel, neben den Eierstöcken oder im Magenbereich. Viele der bisher bekannten Fälle dieser Inklusion wurden entdeckt, weil die Betroffenen über anhaltendes Bauchweh klagten und je nach Größe des Fötus kaum noch atmen konnten. Erst dann begaben sie sich in ärztliche Behandlung. Der wohl aufsehenerregendste Fall dieser seltenen Mutation wurde 2007 bekannt, als dem damals 36-jährigen Inder Sanju Baghat dessen Zwillingsbruder, der plötzlich in seinem Bauch genährt und gewachsen war, gegen Sanjus Zwerchfell stieß. Der Mythos um „den schwangeren Mann” erregte damals große Aufmerksamkeit in den Medien.
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Zum ersten Mal hörte ich von der Sache mit dem Zwilling, als ein Freund mir erzählte, dass die Tochter seiner Arbeitskollegin einen Fötus im Kopf hatte. Das war 2012. „Was?”, fragte ich, „sie hat ihren Zwilling gegessen?” „Nun, Nein. Die Dinge liegen in diesem Fall ganz anders. Weit komplizierter.”
Mein Freund arbeitete damals an einem Roman. In diesem Auszug aus seinem Manuskript hat er eines seiner vielen Gespräche mit Christa* verarbeitet:
„Eineiige Zwillinge verstehen sich wie kaum andere Menschen untereinander. Sie können schon an der Miene des anderen die Gedanken erkennen, haben die gleiche Intelligenz, die gleichen Interessen und oft nahezu identische Lebensverläufe. Aber das ist bei meiner Zwillingsschwester und mir anders. Ich habe ihr schon in der Gebärmutter Gewalt angetan. Ich habe sie mir einverleibt. Dafür hat sie sich gerächt und sich den besten Platz in meinem Körper ausgesucht. Sie hat sich in meinem Gehirn eingenistet, genauer gesagt, hinter meinem linken Auge. So kriegt sie alles mit, was ich sehe und denke.”
Ich rede mit der jungen Griechin, die in Köln lebt, über ihren Fall. Während wir telefonieren, hört man lachende Kinderstimmen im Hintergrund. Es ist Samstag und sie ist schon seit frühmorgens unterwegs. „So ist das, wenn man Kinder hat”, lacht sie.
Ihre Stimme klingt hell, etwas wehmütig, aber zufrieden, während sie berichtet.
Im Sommer 2007 begann Christas Kopf, seltsame Dinge zu tun. Ihre Augen taten weh und ihr Schädel schmerzte einseitig. Zunächst nahm sie an, es sei eine stressbedingte, besonders hartnäckige Migräne. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie in Frankfurt und hatte einen extrem anstrengenden Job angenommen. Doch es hörte nicht auf zu drücken und zu pochen. Eines Tages starrte sie in den Spiegel und sah entsetzt zu, wie ihr linkes Auge tränte. Weder hatte sie eine allergische Reaktion noch weinte sie, und dennoch bahnten sich kleine Rinnsale den Weg über ihre Wangen. In diesem Moment beschloss sie, nun doch einen Mediziner aufzusuchen. Der Hausarzt überwies die verzweifelte Patientin zum Radiologen, welcher schnell feststellte, dass ein tennisballgroßer Fremdkörper hinter Christas linkem Auge lauerte. Was genau es war, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand. Die junge Frau vegetierte die folgenden vier Wochen im Krankenhaus. Sie konnte kaum den Gedanken an einen Riesentumor in ihrem Schädel verdrängen.
Ihre Eltern, die zu diesem Zeitpunkt in Sizilien Urlaub machten, ließen sofort alles stehen und liegen, um ihrem Kind beizustehen.
Wie sich herausstellte, war es kein Tumor, sondern ein parasitäres, embryonales Teratom, in Form von verwachsenem Gewebe, welches gegen Christas Sehnerv drückte und ihr das Leben damals zur Hölle machte.
Christa fühlte sich in dieser Zeit einfach nur noch müde. „Es war mir mittlerweile schon ganz egal, was sich da versteckt hielt und warum, ich wollte nur noch, dass es weg ist”, erzählt sie.
Nach einer erfolgreichen Operation und einer ebenfalls unkompliziert verlaufenden Reha ging es langsam bergauf und Christa schöpfte wieder neue Lebensenergie, auch wenn sie äußerlich noch etwas „abenteuerlich aussah”, wie sie lachend hinzufügt. Die Ärzte damals hätten sich äußerst überrascht gezeigt vom ungewöhnlichen schnellen Heilungsverlauf und der positiven Energie ihrer Patientin.
„Ich sehe das alles, das Leben an sich, nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Ein gesunder Mensch wünscht sich, dass einige Ziele und Träume in Erfüllung gehen. Der einzige Wunsch eines kranken Menschen ist, gesund zu werden.”
Als sei das alles nur ein Albtraum gewesen, verblassen die Ereignisse heute langsam. Wie schlechte Träume, gestohlen aus einem Stephen-King-Roman. Tatsächlich soll dessen Werk The Dark Half von ähnlichen Geschehnissen inspiriert worden sein.
Die junge Frau würde diesen Abschnitt ihres Lebens nicht noch einmal durchstehen können. Davon ist sie überzeugt. Nach der Behandlung sagte man ihr, dass nur etwa 5% aller Fälle von embryonaler Inklusion in Schädelnähe gefunden werden. 95% der „kleinen Geschwister” machen es sich in der Magengegend gemütlich. Wie auch in einem anderen spektakulären Fall eines neunjährigen Mädchen aus Griechenland, deren Schwester oder Bruder sechs Zentimeter lang war und bereits Augen entwickelt hatte.
„Wenn ich seitdem Zwillinge sehe”, sagt Christa und macht eine kleine Pause, als würden ihre Gedanken irgendwohin fliegen und sich schwer wieder einfangen lassen, „habe ich ein Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Es ist etwas unheimlich zu wissen, dass wir uns nie ein echtes Leben teilen konnten. So wie andere Zwillinge. Alles, was wir uns geteilt haben, war mein Kopf. Eine zweite Christa, die immer da war, aber nie wirklich gelebt hat.”
Christa geht es mittlerweile wieder gut. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Nähe von Köln und genießt jeden Augenblick. „Niemals hätte ich das damals alles ohne meine geliebte Familie und Gottes Kraft durchgestanden, aus der ich schöpfen konnte, wenn meine eigene verbraucht war”, sagt sie.
Gesehen hat die Christa ihren Zwilling nie. Der Anblick wäre traumatisierend, hatte der Arzt gewarnt. Der Fötus hatte bereits Wirbelknochen und Haare entwickelt. Was die Ärzte mit dem unfertiger Haufen Gewebe gemacht haben, weiß sie nicht. Wahrscheinlich haben sie ihn einfach vorschriftsmäßig entsorgt und verbrannt.
*Name geändert. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.