Es tut sich was im Kampf gegen Rassismus. Die Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA hat zu Massenprotesten geführt, die auch Europa und Deutschland erfassten. In den USA und anderen Ländern wurden in der Folge Statuen von Sklavenhändlern von ihren Sockeln gerissen, aber auch ganze Polizeibehörden sollen reformiert werden. In Deutschland soll das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz künftig Menschen helfen, die von rassistischer Polizeiarbeit betroffen sind. Dass es so schnell durch den Berliner Senat kam, war wohl indirekt auch ein Verdienst der Proteste. Und dann gibt es noch die Veränderungen durch einzelne Menschen wie Blaise Francis El Mourabit.
Der 36-jährige El Mourabit hat am Montag einen Post auf Instagram veröffentlicht, der in dem Netzwerk vielfach geteilt wurde. Darin bietet er seine Dienste als Rechtsanwalt kostenlos an – Pro Bono. Für alle Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Egal, ob es um Alltagsrassismus geht, rassistische Beleidigungen, rassistische körperliche Angriffe, Racial Profiling oder Beschwerden gegen rassistische Polizisten.
Videos by VICE
Seitdem haben sich zahlreiche Menschen mit ihren Schilderungen bei Blaise Francis El Mourabit gemeldet. Das Ausmaß der Vorfälle, sagt er, habe ihn selbst schockiert.
VICE: Wie viele Anfragen haben dich in den letzten zwei Tagen seit deinem Instagram-Post erreicht?
Blaise Francis El Mourabit: Bisher waren es etwa 600 Nachrichten. Drei Viertel davon waren Zuspruch von meist Schwarzen Mitbürgern, die unfassbar glücklich sind, dass sich jemand engagiert. Der Rest, um die 150 Nachrichten, sind Anfragen. Dabei geht es teils um kleinere Rassismus-Fälle, in etwa zehn Anfragen aber auch um wirklich schwerwiegende Vorfälle: von massiver Polizeigewalt bis hin zu Angriffen von Neonazis.
Welche Fälle wurden dir geschildert?
In mehreren Fällen ist das sogenannte Racial Profiling der Auslöser. Polizisten halten Schwarze Mitbürger an und kontrollieren sie. Man nennt das anlasslose Kontrolle. In der Regel sollen damit Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz aufgedeckt werden. Meist werden diese Kontrollen an großen Hauptbahnhöfen und manchmal in der Bahn durchgeführt, weil die meisten Landesgesetze solche Ermächtigungsgrundlagen für die Polizei vorsehen.
Eigentlich sind diese Ermächtigungsgrundlagen neutral formuliert. Das heißt, eigentlich sollte die Polizei nicht nur ausländisch aussehende Menschen kontrollieren. Fakt ist aber, und das kann ich leider aus eigener Erfahrung bestens beschreiben, dass dabei sehr stark nach dem Aussehen gegangen wird.
Bei all den Anfragen musst du wahrscheinlich eine Auswahl treffen. Wie machst du das?
Ich überfliege die Nachrichten, um grob einzuschätzen, wie dringend und wie schwerwiegend der Fall ist. Es gibt Leute, die mit etwas kommen, dass schon vor einem Jahr passiert ist. Da macht es nun auch nichts mehr, wenn ich es drei weitere Tage liegen lasse. Die ganz aktuellen Fälle haben Priorität: Je jünger der Fall ist, desto bessere Aussichten hat man, entsprechende Nachweise zu führen und vor Gericht Erfolg zu haben.
“So etwas Widerliches wie den Mord an George Floyd habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.”
Welche Erfahrungen hast du selbst mit Racial Profiling gemacht?
Als Rechtsanwalt trage ich oft einen Anzug. Wenn ich darin durch den Düsseldorfer Hauptbahnhof laufe, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ich von Polizisten kontrolliert und nach dem Ausweis gefragt werde. Ich werde als normaler Mitbürger geduldet. Wenn ich aber Jeans, neue Turnschuhen und ein Sweatshirt trage, ist die Wahrscheinlichkeit, kontrolliert zu werden, deutlich höher. Wenn ich Abends nach dem Sport am Hauptbahnhof aus 50 Metern Entfernung Polizeibeamte sehe, weiß ich schon, dass ich gleich die Bahn verpassen werde. Denn natürlich werde ich kontrolliert. Das beginnt dann meist unfassbar unhöflich.
Auch bei VICE: Die Black Women’s Defense League kämpft mit Waffen gegen Rassismus und Frauenfeindlichkeit
Was passiert, sobald die Polizisten merken, dass du Rechtsanwalt bist?
Sobald ich meinen Anwalts-Ausweis zeige, wechselt der Ton rapide und drastisch. Plötzlich werde ich gesiezt, davor wurde ich geduzt – wenn überhaupt. Manchmal höre ich auch einfach nur “Ausweis her!”.
Ich habe viele Weiße Freunde und wenn wir abends nach einem Barbesuch auf dem Nachhauseweg sind, lachen sie schon, wenn sie einen Polizeibeamten sehen. Denn sie kennen das bereits: Ich werde gleich kontrolliert, sie gehen ein paar Schritte weiter und warten dann. Und das, obwohl wir ähnlich angezogen sind.
Was war der Moment, in dem du gesagt hast: Jetzt reicht’s, ich muss etwas unternehmen?
Das George-Floyd-Video war für mich der Moment des Wiedererwachens. Als ich diese acht Minuten und vierzig Sekunden angeschaut habe, ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen. Ich habe in dieser Nacht nicht geschlafen. Es hat mich sehr mitgenommen. Ich habe noch nie einen Mord “live” gesehen, auch nicht über diese Zeitdauer. Das war ein Unterschied zu anderen Fällen, die ich gesehen hatte, in denen Polizisten womöglich aus dem Affekt in einer Sekundenentscheidung geschossen haben. Das hier war mit Ansage. So etwas Widerliches wie den Mord an George Floyd habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.
Die Stimmung in der Schwarzen Bevölkerung ist aufgeheizt. Viele wollen sich nicht mehr mit dem Rassismus abfinden und möchten aktiv wehren. Deswegen haben mich jetzt viele Fälle erreicht, in denen Schwarze Frauen oder Männer sich bei solchen Identitätsfeststellungen lautstark wehren und aus Sicht der Polizei “frech” werden. Das haben viele Polizeibeamten gar nicht gerne und dann eskalieren solche Situationen schnell. In einem Fall, der vor einer Woche passiert ist und zu dem mir ein Video vorliegt, wurde eine Person nach einer Ausweiskontrolle am Boden von mehreren Polizeibeamten fixiert. Und die ganze Zeit schreit diese Person vor Panik.
Ist es aus deiner Sicht als Rechtsanwalt hilfreich, wenn solche Videos veröffentlicht werden, oder ist das für den späteren Prozess eher hinderlich?
Wir haben in Deutschland folgendes Problem: Das Filmen von Polizeibeamten ist aus rechtlicher Sicht deutlich schwieriger als zum Beispiel in den USA. Laut Urheberrecht braucht man zur Veröffentlichung die Genehmigung der gefilmten Person – außer es ist eine Person des öffentlichen Lebens. Das kann ein Polizeibeamter nur dann werden, wenn er drastisch gegen Gesetze verstößt. Angenommen, ein Polizeibeamter vermöbelt auf gut Deutsch gesagt einen Schwarzen Mitbürger mit einem Stock oder tritt ihn, dann dürfte man das filmen. Wenn er aber “ganz normal” seiner Arbeit nachgeht, wie zum Beispiel bei einer Identitätsfeststellung, gibt es für das Filmen leider keine Rechtsgrundlagen.
Racial Profiling ist zwar illegal, aber unheimlich schwer nachzuweisen. Wenn also Schwarze Menschen in so einer Situation die Polizei filmen, wird es problematisch. Die Polizisten unterstellen in der Regel, dass das veröffentlicht werden soll. Sie sehen das als Gesetzesverstoß und beschlagnahmen das Handy. Im schlimmsten Fall eskaliert die Situation und der Betroffene mit dem Handy wird festgehalten.
“Sie schrien mich an, aber ich wollte einfach nicht erschossen werden und habe geweint.”
Was empfiehlst du: filmen oder nicht?
Wenn die Stimmen der Beamten im Video zu hören sind, kann man sich strafbar machen. Es gibt einen Straftatbestand, der das nicht öffentlich gesprochene Wort schützt. Es ist also sehr undurchsichtig. Deswegen sage ich den Leuten eher, lasst es sein. Außer es ist wirklich ein ganz drastischer Fall, wo es wirklich evident ist, dass da gerade massiv gegen Gesetze verstoßen wird.
Hast du dich irgendwann daran gewöhnt, dass Rassismus dein Alltag ist?
Leider ja. Irgendwann findet man sich damit ab. Ich kenne diese Form von Rassismus schon seit meiner Jugend. Mit 19 Jahren habe ich mir von meinem ersparten Geld und einem kleinen Zuschuss meiner Mutter einen kleinen, abgenutzten Sportwagen gekauft. Der sah teuer aus, war es aber nicht und hatte schon über 200.000 Kilometer auf der Uhr. Um bei der Versicherung zu sparen, hatten wir ihn auf den Namen meiner Mutter zugelassen. Das darf man ja. Ich bin in Wuppertal aufgewachsen und wurde damals von einem Polizeiwagen in zivil verfolgt.
Du wurdest grundlos von der Polizei verfolgt? Wie ging das aus?
Er kurvte wild an anderen Autos vorbei und fuhr schließlich parallel zu meinem. Mit der Waffe in der Hand winkte mich einer der Polizisten an die Seite. Dann gingen beide links und rechts des Autos mit gezogenen Waffen auf mich zu und sagten, ich solle das Auto verlassen. Ich musste die Hände auf die Motorhaube legen und habe vor Angst geheult. Damals war in den USA gerade ein Schwarzer Mann von Polizisten erschossen worden, weil er seinen Ausweis aus der Hosentasche ziehen wollte. Die Polizisten hatten das für eine Waffe gehalten. Deshalb habe ich mich nicht getraut, den Ausweis aus der Tasche zu ziehen. Sie schrien mich an, aber ich wollte einfach nicht erschossen werden und habe geweint.
Der Hintergrund war, dass sie dachten, ich hätte das Auto gestohlen. Sie haben das Kennzeichen kontrolliert und den deutschen Vornamen meiner Mutter gesehen. Dass ihr Nachname afrikanisch war, hat sie wohl nicht interessiert. Aus Frau, deutscher Name, teures Auto und Schwarzer Fahrer haben sie geschlossen, dass ich das Auto gestohlen haben müsste.
“Unter den Rechtsanwälten bin ich ein Exot.”
Wurdest du wegen all dieser Rassismuserfahrungen Rechtsanwalt?
Solche Ereignisse haben mich auf den Gedanken gebracht, Rechtsanwalt zu werden. Ich wollte mich auskennen, um mich zur Wehr setzen zu können. Das Engagement für andere Menschen kam dann erst im Jurastudium. Ich wurde oft zu Workshops zum Thema Integration eingeladen, um da so eine Art Vorbildrolle zu übernehmen. Ich habe das gerne gemacht, weil es eine Gelegenheit war, mit Gleichgesinnten Erfahrungen auszutauschen. Ein Stück weit war das Therapie. Nach dem Studium habe ich mich immer mal wieder engagiert, aber nicht in diesem Ausmaß wie jetzt. Damals kamen die Anfragen über mein privates Netzwerk. Da wurde dann zum Beispiel mal ein Freund eines Freundes vom Vermieter mit einer rassistischen Begründung außerordentlich gekündigt. Jetzt ist das Ausmaß aber viel größer.
Wie verdienst du bei all der Pro-Bono-Arbeit noch Geld – kann man dich unterstützen?
Diese Frage höre ich sehr oft, mir wurden auch schon Spenden angeboten. Ganz herzlichen Dank dafür, aber das ist nicht nötig. Ich arbeite hauptberuflich in einem internationalen Konzern als Compliance Officer und verdiene da ganz gut. Dementsprechend mache ich diese Pro-Bono-Tätigkeit in meiner Freizeit und komplett unentgeltlich. Ich nehme dafür keinen Cent.
In den USA gibt es viele bekannte Schwarze Bürgerrechts-Anwälte. In Deutschland fehlen solche Figuren. Woran liegt das?
Das liegt meines Erachtens ein Stück weit am strukturellen Rassismus im Bildungssystem. Menschen aus sozial schwachen oder einkommensschwachen Familien, in denen die Schwarze Bevölkerung überrepräsentiert ist, haben es sehr viel schwerer, eine höhere Bildung zu erlangen als Menschen aus einkommensstarken Familien. In der Schule und im Studium hat man mit Rassismus zu kämpfen. Da muss man sich mehr behaupten als unsere Weißen Mitbürger. Die Vereinten Nationen haben 2018 auch die Bundesregierung aufgefordert, strenger gegen Rassismus vorzugehen. Subjektiv betrachtet würde ich sagen, es hat sich seitdem nicht viel verändert.
Kann man sagen, dass du als Schwarzer deutscher Rechtsanwalt an Gerichten eher eine seltene Erscheinung bist?
Absolut. Als Schwarzer bin ich in Deutschland sowieso eine Minderheit. Unter den Rechtsanwälten bin ich ein Exot. Ich habe früher in einer sehr renommierten Kanzlei für Wirtschaftsstrafrecht in Düsseldorf gearbeitet. In dieser elitären, eingeschworenen Gemeinde war ich wahrscheinlich in der Region der einzige mit Migrationshintergrund. Zumindest habe ich keinen anderen kennengelernt.
Gibt es auch an deutschen Gerichten strukturellen Rassismus?
Ja, wobei es darauf ankommt, wie man strukturellen Rassismus definiert. Viele Politiker aus dem Spektrum der CSU und am etwas rechteren Rand der CDU sagen: Nein, so etwas gibt es nicht. Darauf würde ich antworten: Ja, per Gesetz sind wir alle gleich. In der Theorie gibt es so gesehen keinen strukturellen Rassismus. Was ich darunter verstehe, ist aber, dass in den Behörden, im Justizsystem, bei der Polizei, in den Staatsanwaltschaften und bei den Richtern natürlich leider auch Rassisten sitzen. Ich sage nicht, dass das die Mehrheit ist, aber natürlich gibt es sie. Dass diese Diskussion überhaupt geführt wird, wundert mich total. Es dürfte doch eigentlich klar sein, dass auch diese Berufe einen Querschnitt der Gesellschaft abbilden, in der es nunmal zweifelsfrei Rassisten gibt.
Bekommst du in deiner Arbeit Rassismus zu spüren?
Es gibt Kolleginnen und Kollegen unter den Rechtsanwälten, die nicht mehr richtig differenzieren können. Wenn ich dann dabei bin, werden trotzdem rassistische Äußerungen gemacht, aber ich bin schon so gut in die Gruppe integriert, dass die gar nicht mehr die Sensibilität dafür haben, dass mich das gleichzeitig auch verletzt. Wenn dann irgendwelche ausländerfeindlichen Sprüche geklopft werden, gucken mich alle an und wundern sich, warum ich nicht mitlache. Ganz langsam geht ihnen dann ein Licht auf. Das passiert wirklich sehr häufig. Nicht in dem Unternehmen, in dem ich jetzt aktuell bin, aber in den Kanzleien in denen ich vorher war.
In Berlin wurde vor kurzem das Landes-Antidiskriminierungsgesetz eingeführt. Reicht das, um gegen rassistische Praktiken wie zum Beispiel Racial Profiling vorzugehen?
Es reicht nicht, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Darauf kann man aufbauen. Insofern bin ich den Politikern sehr dankbar, weil bei ihnen angekommen ist, wie viele Menschen auf die Straße gegangen sind. Offenbar hat doch der ein oder andere Politiker gesehen, dass das doch nicht nur ein Problem in den USA ist, sondern auch in Deutschland. Ich hoffe, dass in den nächsten Jahren noch mehr aus dieser Richtung kommt.
Es gab in den letzten Wochen einige große Demos gegen Rassismus in Deutschland. Was kann jeder einzelne tun, damit das Momentum nicht abflaut und das Thema weiter präsent bleibt?
Am Wochenende sind die nächsten Demos. Da ist es erstmal ganz wichtig, dass wieder möglichst viele Menschen kommen, um ein Signal zu senden. In der Vergangenheit war es häufig so, dass einmal demonstriert wurde und dann war es vorbei. Und das reicht leider nicht. Denn für uns ist das Thema nicht vorbei. Vernetzung ist ebenfalls wichtig: für die Schwarze Community untereinander, aber wir müssen uns auch mit den Weißen Mitbürgern vernetzen, die gegen Rassismus sind. Und es ist wichtig, dass Weiße sich auch Lautstark gegen Rassismus aussprechen. Denn – und diesen Satz hat man in letzter Zeit häufig gehört, aber er ist einfach wahr – es reicht nicht aus, kein Rassist zu sein, sondern man muss Antirassist sein, wenn man Veränderung in der Gesellschaft herbeiführen will.
Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.