Während der erste Lockdown in diesem Frühjahr zwar aus offensichtlichen Gründen zum Kotzen aber immerhin etwas Neues war, ist jetzt alles viel schlimmer.
Wenn dir dieser Gedanke bekannt vorkommt, bist du nicht alleine. Das Phänomen taucht weltweit auf und hat einen Namen: “Pandemic fatigue” – “Pandemiemüdigkeit.” Einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge sagen sechzig Prozent aller Befragten, dass sie von Corona und den Restriktionen erschöpft seien. Der Economist schrieb über ähnliche Forschungsergebnisse.
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Die WHO berichtete auch, dass der Großteil der Europäer die Maßnahmen noch unterstützt – aber das Risiko, das Vertrauen der Menschen zu verlieren, bestehe durchaus, sagt ihr Regionaldirektor für Europa Hans Kluge. Menschen könnten anfangen, die Restriktionen als einen zu hohen Preis für die Eindämmung des Virus zu betrachten. Das wäre natürlich fatal.
Um Pandemiemüdigkeit besser zu verstehen und herauszufinden, wie du damit klarkommst, habe ich mit dem Psychologen Renato Troffa gesprochen.
Was ist Pandemiemüdigkeit?
Troffa erklärt, dass das Risiko existiere, “gelernte Hilflosigkeit” zu entwickeln. Dieses Phänomen entsteht, wenn wir glauben, etwas Negatives durchgestanden zu haben – es dann aber zurückkommt.
“Wir verlieren unser Kontrollgefühl. Das bestärkt den negativen Einfluss der Geschehnisse”, erklärt Troffa. Konstante mentale Anstrengung raubt unsere Energie. Viele Menschen spüren die folgenden Symptome: “Angst, Sorgen, Einsamkeit, Frustration, Burnout und Desillusion.”
Das hat natürlich auch gesellschaftliche Konsequenzen. Troffa sagt, man könne beobachten, wie Menschen “weniger Motivation für ihre Arbeit oder andere Aktivitäten”, “vermehrte Aggressionen” und weniger “soziale Interaktionen” haben.
Auswirkungen auf unsere körperliche Gesundheit
Pandemiemüdigkeit ist eine normale Reaktion auf das, was gerade vor sich geht. “Wenn eine Alarmstufe lange auf rot steht und kein Ende in Sicht ist, reagieren die meisten Menschen mit Angst,” erklärt der Psychologe.
Und es sei auch verständlich, sagt er, dass Menschen versuchten, die Restriktionen und Regeln teilweise zu umgehen. Manche brauchen das, “um mentalen und physischen Stress abzubauen”.
Aber eine fatalistische Einstellung zur Pandemie zu entwickeln führt nur noch zu mehr Stress. Eine solche Einstellung führt auch dazu, dass Menschen sich mehr auf “simplifizierte oder falsche Informationen” verlassen, um zu rechtfertigen, warum sie nachlässig sind. Wenn du Freunde oder Familienmitglieder hast, die sich gerade in Verschwörungstheorien verlieren, könnte das eine mögliche Erklärung sein.
Troffa erklärt auch, dass unsere erhöhte Frustration zu mehr Aggression und Wut führen kann – die wir unter normalen Gegebenheiten besser kontrollieren können, “weil sie weder sozial akzeptabel noch nützlich ist”.
Die große Frage lautet: was können wir dagegen tun? Sollten wir diese Gefühle als Normalzustand akzeptieren? Oder sollten wir uns am Besten 24 Stunden am Tag einsperren?
Wie können wir mit Pandemiemüdigkeit umgehen?
Es gibt ein paar Dinge, die wir unternehmen können – sowohl als Individuen als auch als Gesellschaft. Für unser persönliches Wohlergehen, sagt Troffa, sei es essentiell wichtig, dass wir unsere Emotionen nicht nur “erkennen, kontrollieren und kommunizieren”, sondern auch “ausdrücken, bevor sie sich aufstauen und uns oder andere Menschen verletzen”.
Die Weltgesundheitsorganisation schreibt dazu, dass es wichtig sei, eine Routine einzuhalten und Freunde und Verwandte weiterhin zu sehen. Du solltest auch versuchen, keine Falschinformationen über das Virus zu konsumieren, in dem du verlässlichen Quellen vertraust.
Die WHO hat aber auch verschiedene Strategien für Regierungen identifiziert. Die Bevölkerung darf nicht als Objekt wahrgenommen werden, der ausspioniert wird, sondern als Teil der Lösung. Menschen soll geholfen werden, Risiken zu reduzieren und trotzdem ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Auch sollen die massiven Verzichte, zu denen die Bevölkerung bereit sein muss, anerkannt werden.
Über die Zukunft nachzudenken, kann tatsächlich auch Abhilfe schaffen, zumindest kurzfristig. Wie Troffa sagt: “Es ist normal, sich so zu fühlen, als gäbe es keine Zukunft, aber unsere Leben werden wieder wie vor der Pandemie werden. Das müssen wir im Kopf behalten.”