Drogen

Ich bin eine cleane Süchtige: Der Lockdown hat mich fast umgebracht

Monatelang dachte ich, ich hätte nur zwei Möglichkeiten: Corona bekommen oder rückfällig werden.
Durch eine Brille sieht Sophia Dora einen bunten Himmel, Sophia ist clean, im Lockdown fiel es ihr schwer nicht rückfällig zu werden
Bild: Sophia Dora | Bearbeitung: VICE

Im März sitze ich auf meinem Balkon in Köln und meditiere. Die morgendliche Sonne scheint mir ins Gesicht und alles fühlt sich leicht an. Bis in meiner Instagram-App eine Nachricht der Tagesschau aufploppt: Kontaktbeschränkungen. Lockdown. Ich schreibe schnell Freunde an: Finden die Meetings der Selbsthilfegruppen jetzt nicht mehr statt? Nein.  Fuck, mir geht der Arsch auf Grundeis.

Ich bin eine cleane Süchtige, hier habe ich darüber geschrieben. Ausnahmezustände sind für mich eine Bedrohung. Ein Lockdown bedeutet für mich: Galgen oder Strick. Entweder ich infiziere mich mit Corona, weil ich es nicht aushalte, allein zu sein – oder ich nehme wieder Drogen. Beides könnte mich umbringen.

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Menschlicher Kontakt ist für mich überlebenswichtig. Vor Corona war ich täglich in Meetings, um zu lernen, wie man ein cleanes Leben führt. Es geht darum, das Schweigen über meine Sucht zu brechen, meinen Schmerz zu teilen und Anteil an anderen zu nehmen. Abgeschottet zu sein von der Außenwelt, den Zwölf-Schritte-Selbsthilfegruppen, der Zugehörigkeit und der Liebe anderer, ist ein ziemliches Problem. 

Isolation bedeutet für mich: viel Zeit für Gedanken, alte Erinnerungen leben auf. Alte Gefühle, Ängste und Schmerzen kommen zurück und fühlen sich so real an, dass ich mich nicht mehr auf das Heute konzentrieren kann.

Angst

Als mich auf meiner Dachterrasse die Nachricht erreicht, habe ich sofort Angst. Alles um mich herum scheint plötzlich so still und ich erinnere mich an eine Situation aus meiner Draufzeit. Ich sehe mich, 2018 inmitten einer tanzenden Menge in einem randvoll gefüllten Kölner Club. Irgendein bekannter Techno DJ legt auf, alle sind mega drauf. Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, der Club jubelt. Ich reiße die Arme in die Luft und beginne zu tanzen.

"Was gab es damals eigentlich wieder zu feiern", kommt mir schlagartig in den Kopf. Ich fühlte zu diesem Zeitpunkt absolut nichts mehr. Weder Freude noch Lust aufs Feiern noch die Euphorie durch die Drogen, die ich in dieser Nacht genommen habe. Ich war einsam und innerlich wie tot. 

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Isolation war auch ein großer Teil meiner Kindheit. Ich war ein sogenanntes Schlüsselkind. Ich erinnere mich, wie ich als Sechsjährige in einen vollen Bus stieg und mich darüber wunderte, weshalb ich merkwürdig angeschaut wurde. Heute weiß ich, dass meine Selbstgespräche die Fahrgäste wohl verwundert haben. Als Achtjährige bekam ich meinen ersten PC von meinem Vater. Wenn ich aus der Schule kam, setzte ich mich mit meinem Schulranzen auf dem Rücken vor den Computer und spielte zehn Stunden lang Die Sims.

Isolation

Ich merke, wie es mich in diese Zeit zurückversetzt, wenn ich zu körperlichem Abstand gezwungen bin. Immer wieder begegnen mir Menschen in Bus und Bahn, die mich anschauen und dann einen Schritt rückwärts machen, weil sie feststellen, dass die 1,5 Meter nicht eingehalten sind. Mein Minderwert springt dann an und ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, obwohl ich eigentlich weiß, dass es um das Infektionsrisiko geht. Keine Nähe zu bekommen, kenne ich und es tut weh. 

Später im März sitze ich alleine in meiner Wohnung, ich war seit Tagen nicht draußen, habe mit keinem gesprochen, niemanden getroffen. Ich fühle meinen Körper, angefangen bei meinen Händen. Ich fühle meine Fingerspitzen wie noch nie zuvor. Ich bin einsam. Und die erste Lösung, die mir in den Sinn kommt, ist: wieder Drogen nehmen. Als Süchtige will ich sofortige Schmerzlinderung. Ich überlege, was ich nehmen würde, wenn ich wieder anfange. Alles! Ich hatte ja schon so lange nichts mehr. 

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Ich weiß auch, dass ich den Rückfall nach fast zwei Jahren Cleanzeit vielleicht nicht überleben würde. Mein Körper ist komplett auf null. Er ist weder Alkohol noch Drogen gewöhnt. Gerade deshalb sterben so viele Menschen, die rückfällig werden. "Ein Süchtiger alleine ist oft in keiner guten Gesellschaft", heißt es in den Selbsthilfegruppen. 

Sucht

Im Mai bekomme ich die Zusage für einen Auftrag. Als ich nach dem Telefongespräch auflege, ploppt in meinem Kopf auf: "Jetzt erst mal ein Sektchen." Ich muss lachen: Als wäre es jemals bei einem Gläschen geblieben. Ab zwei Flaschen Sekt wurde ich gerade einmal langsam warm. Und zwei Flaschen waren immer der Anfang von allem anderen: nächtelangem Feiern auf Drogen. Ich beneide Menschen, die eine Flasche Wein oder Sekt öffnen können, ohne sie ganz leer trinken zu müssen. 

Alles, was ich tue, ist Sucht. Seit dem ersten Lockdown noch stärker als sonst. Computer und Handyspiele zocken, mich bis zur Übelkeit vollfressen, Onlinemeetings der Selbsthilfegruppen konsumieren und meinen Pornhub-Account durchforsten. Und tindern: Getrieben von meiner Bedürftigkeit nach Nähe, installiere ich die App wieder auf mein Handy. 

Ich schreibe eine Weile mit jemandem. Ein tätowierter, liebevoller Ruhrpott-Bär. Ich date ihn spontan. Er holt mich zu Hause ab, wir fahren zu McDonalds und essen zusammen in seinem Auto. Wir unterhalten uns offen und sind irgendwie auf einer Welle. Ein wirklich netter Kerl.

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Dann outet er sich als Drogendealer. Ich versuche, mir meine Panik nicht anmerken zu lassen, mache weiter Smalltalk mit ihm und bitte ihn dann, mich wieder nach Hause zu fahren. Die Nummer ist mir zu heiß. "It ́s a match"- belustigt mich im Nachhinein doch sehr.

In einem Werbespot, der auf die Coronasituation anspielt, höre ich den Spruch: "Kannst du die Welt gerade nicht entdecken? Dann entdecke einfach dich!" "Auf geht’s!", denke ich und beschließe, die Zeit als eine Art Urlaub anzusehen: einen Urlaub mit mir selbst. 

Urlaub

Ich nehme mir vor, in mein Inneres zu schauen und herauszufinden, ob sich tatsächlich ein Monster in mir verbirgt, das nur darauf wartet, dass ich in der Isolation schwach werde. So wie ich es all die Jahre gedacht habe. 

Meine Therapeutin erklärt mir, ich müsse meiner Sucht den Nährboden nehmen. Ich schließe alle Fenster für absolute Ruhe, mache ein Räucherstäbchen und eine weiße Kerze an. Auf meinem wunderschönen alten Schreibtisch liegen die Schreibsachen in fast schon zwanghafter Genauigkeit. Ich setze mich auf den Stuhl, er knarzt, dann atme ich tief ein und wieder aus.

Ich schreibe meinen vierten Schritt aus dem Zwölf-Schritte-Programm der Selbsthilfegruppe Narcotics Anonymous auf: "Eine furchtlose und moralische Inventur von mir Selbst." Ich fertige Listen darüber an, was mir Groll bereitet und welche Beziehungen ich habe. Dann konzentriere ich mich auf alles, was in meiner Macht liegt. Ich frage mich, was ich als Kind gerne gemacht habe, bevor die Einsamkeit überall war. 

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Während die Reisebeschränkungen immer härter werden, setze ich mich hin und überlege, wo ich hin möchte mit meinem Leben. Ich stelle mir meinen eigenen Garten vor, den ich auf einem gekauften Stück Land angelegt habe. Mit Obstbäumen und richtigem Acker. Ich sehe viel Grün und flaches Land, viel Licht und Helligkeit. Ein paar Tiere habe ich, Hühner und einige Schafe. Ich würde sehr simpel und bescheiden in einem alten Zirkuswagen leben, mit Solarzellen auf dem Dach.

"Sophia, geh dorthin, wo die Angst sitzt", wird mir von meiner Sponsorin gesagt. 

Ich beginne es zu genießen, alleine zu sein. Ich weiß, dass ich mein Leben lang süchtig sein werde und gezwungen bin, meine Sucht immer im Auge zu haben. Wachsam zu sein. Ich beginne mit dem Rollerskaten und werde 30-fache Zimmerpflanzen-Mutter. 

Mir fehlen noch immer die Umarmungen, die Zugehörigkeit und das Zusammensein.  Aber irgendwie sehe ich die gezwungene Isolation als Chance, bei mir zu sein. Denn ich habe plötzlich Zeit und Raum zu überprüfen, was ich wirklich will. Will ich wirklich clean sein?

Ich fahre mit einer Freundin Rollerskates in einem menschenleeren, apokalyptisch anmutendem Parkhaus. Wir haben den besten Blick über ganz Köln, während das Abendrot wie unecht wirkt. Es ist leer, aber statt dunkler Gedanken habe ich einen Ohrwurm im Kopf, "Sabali" von Amadou & Mariam: "Chérie, la vie est belle." Es ist Dezember, ich habe es geschafft.

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