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Die deutsche Journalistin Meşale Tolu sitzt seit 1. Mai in Istanbul im Gefängnis, weil ihr Terrorpropaganda vorgeworfen wird. Auch der Vorwurf der “Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation” kommt dazu.
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Selbst, wenn Tolu freigesprochen wird: Bis es soweit sein könnte, wissen sie und ihre Familie nicht, was die Zukunft bringen wird: “Die Strafe ist bereits die Untersuchungshaft. Wir wissen nicht, wie lange es bis zum Prozess dauert, wir rechnen mit mindestens 7 bis 8 Monaten”, erzählt ihr Vater Ali Riza Tolu im Gespräch mit der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland.
Seit mittlerweile mehr als 100 Tagen ist der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel inhaftiert. Der Vorwurf auch hier: Terrorpropaganda. Am 8. Mai hat es dann den französischen Journalist Mathias Depardon getroffen. Er wurde in Gaziantep im Süden der Türkei verhaftet.
Vorgeworfen wird Depardon, dass er im kurdischen Südosten der Türkei Bilder von PKK-UnterstützerInnen gemacht und publiziert hätte. Das wäre “Terrorpropaganda”. Ich selbst war im November 2015 als Wahlbeobachter in dieser Region. Auch ich habe Bilder publiziert, die eindeutig SympathisantInnen der PKK zeigen.
So wie Tolu, Yücel und Depardon geht es Tausenden Menschen, darunter nach Schätzungen über 150 JournalistInnen. Sie alle sitzen derzeit in türkischen Gefängnissen. In der Warteschlange vor der Passkontrolle geht mir das alles durch den Kopf. Doch was wäre die Alternative zum offenen und ehrlichen Aufschreiben der Ereignisse? Nicht mehr berichten, was ist? Schere im Kopf? Selbstzensur?
Bei der Passkontrolle fühle ich die Anspannung: Wird es Probleme geben? Könnten Artikel aus der Vergangenheit mich in Schwierigkeiten bringen? Unrealistisch ist das nicht. Schließlich geht alles gut. Der Grenzbeamte bleibt unverbindlich, ich bekomme mein Visum, er winkt mich durch. Eine Reise in die Türkei bedeutet heute auch, Überlegungen zur eigenen Sicherheit vor Ort anzustellen. Also wird eine Social-Media-Gruppe eingerichtet. Jedes Mal, wenn ich während meiner Reise potenziell problematische Orte besuche, werde ich in die Gruppe schreiben, wo und mit wem ich mich treffe, danach melde ich mich wieder zurück.
Die Türkei verlangt bei der Einreise ein Visum. Für UrlauberInnen ist das eine Formalität und eher eine Art Einreisegebühr.
Allerdings ist davon auszugehen, dass vor allem seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 alle Visa-Anträge genauer überprüft werden. (Mehr über diesen Putsch könnt ihr hier lesen.) JournalistInnen brauchen nochmals ein besonderes Visum. Mein Besuch war selbstverständlich touristisch.
Beim Außenamt melde ich online meine Reise an. Kontakte zu RechtsanwältInnen werden organisiert.Auch Passwörter für meine Social Media Accounts werden an sicheren Orten hinterlassen – für den Fall, dass jemand diese Accounts übernehmen muss (die ersten #jesuis-Witze lassen nicht lange auf sich warten). Ich schreibe auch kurz zusammen, was im schlimmsten Fall mit meinen Habseligkeiten passieren soll.
Mein erster Anlaufpunkt ist die Region rund um die Mittelmeer-Metropole Izmir. Mehrere Millionen Menschen leben hier, darunter nach Schätzungen rund 200.000 geflüchtete Menschen, vor allem aus Syrien. In einem kleineren Ort treffe ich Hassan, einen lokalen Flüchtlingsaktivisten. Hassan heißt eigentlich nicht Hassan. Doch Hassan meint, dass es in der aktuellen politischen Situation besser wäre, wenn er Hassan heißt.
“Ich bleibe lieber unter dem Radar und bin sehr vorsichtig”, sagt er. Er erzählt auch von der Stimmung in seiner Umgebung. “Hier in der Küstenregion hat die Regierungspartei AKP von Präsident Erdoğan traditionell ziemlich wenig Unterstützung”, erklärt er. “Dennoch, die Leute passen sehr genau auf, was sie sagen und mit wem sie worüber sprechen.”
Berit hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Die junge Deutsche arbeitet als Freiwillige für die “İmece İnisiyatifi” (Initiative Solidarität) in Çeşme, dem noblen Küstenort der Oberschicht von Izmir. Die Initiative unterstützt Flüchtlinge, aber auch die ärmere lokale Bevölkerung, die durch die steigenden Mieten zunehmend verdrängt wird.
“Vor allem mit dem Ausnahmezustand seit Juli 2016 hat sich enorm viel verändert. Alle sind viel vorsichtiger, sagen weniger Dinge, die kritisch sein könnten, überlegen sehr genau, was sie auf Facebook posten”, erzählt Berit. Sie sagt, dass es dabei an der Küste noch besser wäre.
“Hier in Çeşme merken wir, dass die AKP weniger Einfluss hat. Doch in Ankara habe ich das sehr deutlich gespürt.” Ihr Kollege Ali Güray Yalvaçlı, der Begründer der İmece İnisiyatifi, sieht weniger Veränderungen seit dem Ausnahmezustand: “Erdoğan bleibt Erdoğan”.
Immer wieder treffe ich auf Menschen, die bereits verhaftet wurden, die ihre Verhaftung für möglich halten oder die Verwandte oder FreundInnen haben, die bereits im Gefängnis sitzen. Auch Yalvaçlı meint: “Es kann jederzeit passieren, dass die Polizei hereinkommt und die Einrichtung schließt. Und natürlich gibt es die Gefahr, dass wir verhaftet werden.”
In Istanbul verabredete ich mich mit mehreren Personen für Gespräche. Manche kommen zustande, andere nicht. Menschen haben Angst, teils gibt es auch technische Probleme, die mit der aktuellen Situation zusammenhängen. Ein linker Künstler kann sich leider nicht mit mir treffen – er ist gerade im Ausland. Nur zur Sicherheit, wie er sagt.
Die pro-kurdische HDP bietet mir ein Gespräch mit einer ihrer Abgeordneten an. Die HDP ist die drittgrößte Partei im Parlament, doch Hunderte Abgeordnete und FunktionärInnen sitzen mittlerweile im Gefängnis, sogar die beiden Co-Vorsitzenden der Partei, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ.
Das Problem: Ich müsste für das Gespräch mit der HDP-Abgeordneten einen Übersetzer finden. Denn die Partei hat parallel einen Kongress in Ankara, wo über die Zukunft der Organisation unter den Bedingungen der aktuellen Repression beraten wird. Und alle Leute, die Englisch können, sind bereits in Ankara. Doch so kurzfristig finde ich niemanden, der übersetzen kann. Wir müssen das Gespräch auf eine andere Gelegenheit verschieben.
Andere Gespräche können stattfinden, doch nur unter der Bedingung der Vertraulichkeit. Ich treffe einige Arbeiter-Aktivisten, ihre Organisation hat in den großen Industriebetrieben rund um Istanbul einigen Einfluss. “Aktuell können wir aus Sicherheitsgründen in den Fabriken nicht einmal mehr Flugblätter verteilen”, berichten sie. “Damit unsere Sympathisanten über unsere Veranstaltungen Bescheid wissen, besuchen wir sie zu Hause und laden sie ein.”
Meine beiden Gesprächspartner wirken ruhig und entschlossen. Einer der beiden, ein entspannt wirkender älterer Mann, erzählt, dass er bereits mehrmals in Haft gefoltert wurde. Als ich ihn frage, wie er die Schmerzen ertragen hat, sagt er nur: “Du musst überzeugt sein von dem, was du tust.”
Die Macht der Überzeugung sieht auch Ali Ergin so, Chefredakteur des linken Nachrichtenportals sendika.org. Die Plattform zählt in ihrer URL, wie oft sie bereits verboten wurde. Als wir uns Mitte Mai
trafen, war die Adresse noch sendika40.org. Mittlerweile ist es bereits sendika42.org. “Wir haben aber noch einige URLs in Reserve”, sagt Ergin lachend.
Auch Ergin wurde kürzlich verhaftet, genau in dem Redaktionsbüro, in dem wir uns treffen. “Ich war dann eher überrascht, dass ich wieder freigelassen wurde”, sagt Ergin. Doch Ergin glaubt, dass die Arbeit seiner Redaktion stärker ist als die Repression. “Solange diese Regierung an der Macht ist, wird auch unser Netzwerk existieren und der Widerstand weitergehen.”
Es ist ein sehr spannender Austausch mit den RedakteurInnen von Sendika. Gleichzeitig ist die Situation auch sehr surreal. Alle wissen, dass während unserer Gespräche jederzeit die Polizei auftauchen könnte.
An einem anderen Tag fahre ich nach Gazi, einem Viertel am nördlichen Stadtrand auf der europäischen Seite. Hier haben die verschiedenen linken Guerilla-Organisationen bedeutenden Einfluss, die Polizei patrouilliert ausschließlich mit gepanzerten Fahrzeugen.
An einer Busstation am Weg fährt auf einmal der Konvoi von Präsident Erdoğan an mir vorbei. Rund 30 schwere Limousinen, abschließend ein Radpanzer. Als ich beginne zu fotografieren, kommt sofort ein Polizist und will mir das verbieten. Als ich auf Englisch antworte, scheint ihm die Diskussion dann doch zu mühsam und er lässt mich gehen. Doch gerade bei Aufnahmen der Polizei ist immer wieder besondere Vorsicht geboten.
Dieses Muster begegnet mir immer wieder – die Polizei möchte nicht gern fotografiert werden. Und die allgemeine Stimmung wirkt nicht danach, als sollte das ignorieren werden und ich mir Zeit für meine Bilder nehmen. Viele Aufnahmen entstehen also “aus der Hüfte”. Und auch andere wollen ihren Geschäften lieber ungestört nachgehen.
In Izmir ziehe ich böse Blicke auf mich, als ich ein Geschäft fotografiere, wo Rettungswesten für die Flucht über das Mittelmeer verkauft werden. Ich kenne das schon von einem vergangenen Aufenthalt. Damals wurde ich bedroht, nachdem ich Geschäfte mit Schlauchbooten und Motoren fotografiert hatte.
Woran das liegt, bleibt offen. Sicher ist aber, dass in Izmir teilweise sehr schlechte Ware verkauft wird. In der Vergangenheit gab es zum Beispiel einen Skandal um Rettungswesten, die gefälscht waren und sich
sogar mit Wasser vollsaugten. Von einer Hilfe in höchster Not wurden sie so zu einer weiteren lebensbedrohenden Gefährdung für Refugees.
Flüchtlingshelfer Hassan erzählt, dass mittlerweile mafiöse Strukturen in das Geschäft mit den Menschen auf der Flucht involviert wären. “Und es wirkt auch so, als würden die Behörden erstaunlich oft die Augen zudrücken.”
Nach einigen Tagen ist meine Reise vorüber, der letzte Stopp ist der Flughafen Istanbul. Ich habe bewusst während meines Aufenthalts sehr wenig gepostet und keine Artikel zur Türkei veröffentlicht. Das ändert aber nichts daran, dass ich mich bis zum letzten Moment frage, ob das denn reichen wird oder die Grenzbeamten vielleicht doch Probleme machen.
Schließlich geht alles gut. Ich kann nun überlegen, wie hoch das persönliche Risiko einer weiteren Reise in die Türkei ist. Diese Überlegung stellen aktuell wohl viele internationale JournalistInnen an. Die AktivistInnen und JournalistInnen vor Ort haben diese Wahl nicht. Sie können nur flüchten oder standhalten. Und egal wie sie sich entscheiden: Sie verdienen unsere Unterstützung.