“Wenn Kinder sterben, ist das wie ein Fehler im System”

Leo Ritz weiß, wer sie waschen und anziehen wird, wenn sie tot ist und wo sie begraben liegen will. Sie weiß, welche Songs auf ihrer Trauerfeier laufen werden, die Playlist hat sie bei Spotify gespeichert und auf dem Handy immer dabei. Neil Young steht da unter Roxy Music, Against Me! mit “Baby, I’m an Anarchist!” ist drauf und “Bohemian Rhapsody” von Queen.

Dass sie das alles weiß, nimmt ihr die Angst vor dem Tod.

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Leo Ritz ist 31 und Bestatterin. Sie wäscht, schminkt, präpariert tote Menschen. Die meisten sind nicht viel älter als sie selbst, einige sind Kinder. Wenn Ritz heute durch Berlin fährt, erinnern sie Orte nicht mehr nur an die Partys, die sie dort erlebt hat. “Über der Stadt liegt ein Grauschleier vom Tod”, sagt sie. Die Orte erinnern sie auch daran, wo sie einen Verstorbenen abgeholt und trauernde Familien getröstet hat. Nie werde sie auch nur einen vergessen, sagt sie.

Eine Beisetzung mit Lego-Figuren nachgestellt
Leo Ritz zeigt Kindern mit Lego-Figuren, was bei einer Beisetzung passiert

Begegnet man Ritz auf dem Friedhof, ist sie Kontrast: blonder Micro Fringe, helle Bluse, Springerstiefel, unter der Kleidung lugt viel Tinte hervor. Spricht sie über den Tod, klingt sie wie eine weise, alte Frau.

Mit dem Tod arbeitet sie seit knapp vier Jahren, vorher studierte sie Fotografie in Brighton, jobbte später für verschiedene Agenturen in Berlin. Ritz aber wollte mir ihrer Arbeit menschlich etwas bewegen, sagt sie, überlegte, erst Soziale Arbeit zu studieren, und kündigte schließlich ihren Job. Über Ecken lernte sie den Musiker und Bestatter Eric Wrede kennen und machte wie er eine Fortbildung im Kinderhospiz. Dort begegnete sie zum ersten Mal dem Tod in ihrem Leben, erlebte das Leid mit, was ihm vorauseilt. Gemeinsam mit Wrede gründete sie 2014 das Bestattungsunternehmen lebensnah. Ritz versucht, die Leere zu füllen, die der Tod bei Hinterbliebenen hinterlässt, und nimmt ihnen den lästigen Papierkram ab. Sie weint mit, lacht mit, trinkt mit. Oder beobachtet die letzte Reise aus der Distanz und souffliert die Angehörigen, wenn sie Hilfe brauchen. Hier beschreibt sie, wie es ist, Kinder zu bestatten und mit ihnen über den Tod zu sprechen:

“Wenn verstorbene Kinder vor mir liegen und die Eltern nicht dabei sind, spreche ich mit ihnen. Auch wenn es am Ende nur ein toter Körper ist, fühlt es sich anders an. Das Reden macht die Situation ein bisschen leichter. Ich bin in diesem Moment verantwortlich für sie, schließlich sind sie ohne Mama und Papa bei mir.


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Wenn ein Kind stirbt, ist das wie ein Fehler im System. Rational gesehen ist es natürlich normal: Auch Kindern passieren Unfälle, auch Kinder leiden unter Krankheiten. Trotzdem ist es schwerer für mich, ihren Tod zu begreifen. Es ist, als fehle ein Baustein im Gehirn, der mir sagt: Das ist in Ordnung, so wie es ist.

Ich biete an, die Sterbenden – wenn das möglich ist – kurz vor dem Tod kennenzulernen, besuche sie im Hospiz. Vielleicht ist es für sie einfacher, den Tod zu akzeptieren, wenn sie wissen, in wessen Hände sie kommen. Mir hilft dieses Wissen, die Sicherheit. Ich weiß, wer mich waschen, anfassen, anziehen wird, vor wem ich nackt auf dem Tisch liege, wenn ich plötzlich sterben sollte. Es macht es für mich einfacher zu wissen, wer meinen leblosen Körper auf seinem letzten Weg begleitet.

Die Menschen vor ihrem Tod kennenzulernen, fällt mir ehrlich gesagt nicht leicht. Mich macht das etwas nervös, gerade bei sehr jungen Menschen und Kindern, denke ich oft: Oh man, ist das unfair. Die Fortbildung im Kinderhospiz hat mir mehr Sicherheit gegeben. Ich habe dort auch gelernt, wie Kinder um andere trauern. Vorher hatte ich Angst, mit Kindern über den Tod und das Sterben zu sprechen, jetzt weiß ich: Ich muss da nichts verschweigen. Doch es gibt viel Unwissen in der Gesellschaft darüber, wie Kinder trauern.

Die Bestatterin Leo Ritz mit einem Kinderbuch über den Tod
“Mit Kindern sollte man offen über den Tod sprechen”, sagt Ritz

Wenn die Eltern eines Kindes sterben, muss man dafür eine ganz klare Sprache finden. Da gibt es viele Missverständnisse. Statt ‘Papa ist eingeschlafen’ oder ‘Deine Schwester ist im Himmel’, sollte man einfach sagen, dass jemand tot ist. Mit etwa elf Jahren verstehen Kinder, was Sterben bedeutet. Vorher lernen sie das erst mit dem Alltag: Mama kommt wirklich nicht zurück. Sie suchen dann einen Weg, das zu verarbeiten, und sei es, weil ihnen erklärt wurde, dass Papa ja wieder heiraten kann, und ihnen das hilft.

Viele Menschen fragen sich: Kann ich mit einem Sechsjährigen zu seinem toten Vater gehen oder wird ihn das dann für immer verfolgen? Oder wird er danach Albträume haben?

Mit einem Mädchen saß ich im Krematorium, als ihre Mutter verbrannt wurde. Sie fand das spannend, sie war das einzige Kind, also habe ich mich neben sie auf den Boden gehockt, während der Vater getrauert hat. Die Fünfjährige hat ihre Urne bunt bemalt und konnte es nicht abwarten, bis Mamas Asche in ihrem Kunstwerk ist.

Eine bunt bemalte Urne im Bestattungsunternehmen
Ritz lässt die Urnen von den Kindern bemalen, um den Tod eines Angehörigen zu verarbeiten

Ich bringe zu Beerdigungen, bei denen Kinder dabei sind, immer viele bunte Kerzen mit, dann schmücken wir den Raum zusammen. Wenn wir den Raum zum ersten Mal betreten, in dem das verstorbene Familienmitglied aufgebart wurde, ist das Kind meist einen Moment lang irritiert. Ein kleiner Junge sagte vor Kurzem: Der Papa ist doch gar nicht tot, der schläft doch nur. Dann bin ich mit ihm zu seinem verstorbenen Vater gegangen und habe erklärt, dass sich der Mensch jetzt, wo er tot ist, anders anfühlt, ganz kalt ist. Erst nachdem er laut ausgesprochen hatte: ‘Stimmt, der Papa ist tot’, konnte er das auch verinnerlichen. Wenn das Kind das verstanden hat, gehen wir zurück zu den Kerzen. Man darf die Toten nicht vor den Kindern verstecken, sollte ihnen aber eine Beschäftigung geben.

Kinder trauern auf ihre Art. Manche haben Angst vor der Situation und verstecken sich hinter dem anderen Elternteil. Aber es gibt auch Kinder, die eine Bestattung und die Zeremonie total spannend finden. Ich zeige ihnen das Sarglager, den Kühlraum und das Krematorium, nicht nur den Raum der Anteilnahme. Es hilft tatsächlich, Eltern und Kinder in dieser Situation voneinander zu trennen, den Kindern ihren Raum zu geben, damit sie sich nicht nur nach den Eltern richten und denken: Ich muss jetzt traurig sein, weil meine Mutter weint. Das Emotionale kommt bei Kindern erst später, wenn sie fühlen und durch den Alltag merken, dass jemand tatsächlich nicht zurückkommt.

Ich liebe diesen Beruf, aber es gibt auch Tage, an denen ich unfassbar traurig bin. Jede Begegnung mit Familien und Verstorbenen ist anders, ich lasse mich jedes Mal emotional tief auf eine neue, persönliche Geschichte ein. Deswegen wird der Umgang mit dem Tod auch nicht leichter. Er wird vielleicht routinierter, weil ich meinen Rahmen kenne und weiß, wo ich mich entlanghangeln kann, wie der Weg in etwa aussieht. Aber der emotionale Part wird nicht einfacher. Und das ist auch gut so. Man würde merken, wenn ich irgendwann abgebrühter wäre. Natürlich darf man auf einer Beerdigung auch lachen, aber eine falsche Fröhlichkeit ist fehl am Platz.

Leo Ritz schaut aus dem Fenster des Bestattungsunternehmens
“Ich gehe durch meinen Beruf bewusster mit dem Tod”, sagt Bestatterin Ritz

Das Vertrauen, was mir die Leute schenken, wenn sie einen toten Menschen in meine Hände geben, hat mich sehr selbstsicher gemacht. Ich gehe durch meinen Beruf bewusster mit dem Tod um und nehme auch mein eigenes Leben und dessen Endlichkeit bewusster wahr. Vor allem, wenn ein Mensch im gleichen Alter vor mir liegt. Das macht den eigenen Tod weniger abstrakt, zeigt mir ganz deutlich und unbestreitbar, dass auch junge Menschen sterben können.

Ich mag, dass bei mir das Ende passiert. Ich kümmere mich darum, wenn das Leben vorbei ist. Bei mir ist der kalte Körper, er liegt friedlich vor mir. Wenn ich Verstorbene wasche und anziehe, dann mit dem Gefühl ehrlicher Fürsorge. Mit der gleichen Fürsorge will auch ich verabschiedet werden.”

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