BLANK GENERATION
Richard Hell
Edition TIAMAT
Es ist immer mit Vorsicht zu genießen, wenn Einzelpersonen als „Begründer” eines Genres oder einer Bewegung verkauft werden. Es gibt mindestens 20 „Begründer” von Techno, 30 von Rock ‘n’ Roll, und circa 150 Leute, die „die elektronische Musik” als solche „revolutioniert” haben. Über Richard Hell kann man allerdings guten Gewissens sagen, dass sein Einfluss auf Punk und die Szene um das CGBG immens war. Er ist der Typ, dem wir von Sicherheitsnadeln zusammengehaltene zerrissene T-Shirts zu verdanken haben, er spielte Bass bei Television und sang bei den Voidoids. Darüber hinaus war sein Stil die Blaupause für die Sex Pistols. Blank Generation ist seine Autobiografie, im Original I Dreamed I Was a Very Clean Tramp. Darin erzählt er, Überraschung, von seinem Leben, beginnend in den Vororten Amerikas bis zum Ende seiner musikalischen Laufbahn. Er ist dabei brachial ehrlich. Manchmal ehrlicher, als man es sich wünschen würde. Geboren als Richard Myers schlägt er sich nach seinem Auszug zunächst mit Gelegenheitsjobs durch, wobei er aus der Not eine Tugend macht: „Es gab Wege, sich für öde Jobs zu entschädigen: kleine Diebstähle vor allem, aber meine große Erleuchtung war die Strategie, die ersten drei Wochen so brauchbar und fleißig zu sein, dass ich unverzichtbar erschien, und dann konnte ich monatelang faulenzen, bevor der erste Eindruck nachließ.” Er geht nach New York und gründet mit Tom Miller und Bill Ficca die Neon Boys. Hell erzählt pointiert und ohne große Sentimentalitäten. Köstlich kultiviert er beispielsweise seinen Hass auf die Beatles. „Anfang Juni 1967″ schreibt er „kam Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band raus. Ich musste so tun, als ob ich das Album mochte, weil es mir von diesem Mädchen vorgespielt wurde, das ich in dem Büro kennenlernte, wohin mich eine Zeitarbeitsfirma geschickt hatte. Sie hatte auch Marihuana, und ich wollte sie gerne ficken. Ich zeigte mich ihr zuliebe beeindruckt, wie man es bei einer Fremden tun würde, die einem eine persönliche Anekdote vorträgt, besonders wenn sie einen sehr kurzen Rock trägt. Ich sage nicht, dass ich nicht auch langweilig war. Ich war’s. Bedeutete das aber, ich müsste auf Geschlechtsverkehr verzichten? Nein!” Sein Blick auf sich selbst und die Szene ist angenehm abgeklärt und frei von Illusionen; natürlich ist es in Anbetracht des Themas schwer, Klischees vollständig zu meiden: “Als Rock ‘n’ Roll-Musiker war man wie ein Zuhälter. Es ging darum, junge Mädchen dazu zu bringen, dass sie dir Geld gaben, um in deiner Nähe sein zu können.” Selbstredend geht es also auch um Drogen und Sex, man erfährt, welches Groupie die besten Brüste hatte (Roberta Bailey) und welche Bands am schlechtesten waren (die, die später am erfolgreichsten sein sollten). Blondie beispielsweise nahm damals kaum jemand ernst. Hell, der nach eigenen Angaben nie einen Topf oder eine Pfanne kaufte, bis er 35 war, wollte eigentlich Dichter sein, aus Imagegründen. Er besprach seine eigenen Auftritte in langen, wahnwitzigen Artikeln, die nie gedruckt wurden. Television war zu großen Teilen seine Vision. „Ich liebe Lärm. Ich liebe es, wenn eine Gruppe scheinbar aus dem Takt und wieder hinein kommt, wenn sich etwas langsam bewegt und dann in ein Fach hineinrutscht wie eine Kugel in einem Roulettekessel. Es ist wie ein Kleinkind, das laufen lernt, oder wie ein kleiner Vogel, der gerade so den Absturz in den Dreck vermeiden kann, oder zwei Jugendliche, die ihre Unschuld verlieren. Es sieht unbeholfen aus, aber es ist fesselnd und erhebend und lustig.” Diese Eigenwilligkeit und die Liebe zum Fehler ist es, die Blank Generation lesenswert macht. Aber auch der Fakt, dass Hell von den New Yorker Punks sicher der Smarteste war, kann nicht davon ablenken, dass er sich zuweilen zu sehr in Namensaufzählungen und Anekdoten verliert. Eine Schwäche, die viele Autobiografen haben, für die man in diesem Fall aber reichlich entschädigt wird. Eine Geschichte, die er gegen Ende des Buches erzählt, sagt mehr über ihn aus als die Beschreibungen seiner Drogensucht und seiner Romanzen: In den Achtzigern recherchiert er für einen Artikel über Peter Laughner. Nachdem er eine Woche in Cleveland verbringt, um Leute zu interviewen, die ihn gekannt hatten —Laughner galt als eines der großen Talente, das mit 24 an einer Pankreatitis verstarb—besucht er schließlich dessen Grab. Und dann, nachdem Hell die Grabinschrift liest—eine sentimentale Phrase von dessen Eltern—spuckt er auf Laughners Grab. Eine Geste, die Punk und damit auch Richard Hell besser beschreibt als jede mögliche Geschichte über Heroin und Groupies.
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LUST FOR YOUTH
Compassion
Sacred Bones
Lust For Youth sind neben Ice Age der Nummer 1-Export Kopenhagens, was androgyne blasse Jünglinge angeht. Ich wollte sie eigentlich hassen, weil sie entsetzlich gehypt werden. Trotzdem kam ich nicht umhin, die wavigen, anstrengenden Beats von Growing Seeds und Hannes Norrvides merkwürdigen Gesang zu mögen. Ihr neues Album erschien im März bei Sacred Bones, und es ist poppiger als alles, was sie vorher gemacht haben. Wie gesagt, diese Szene von jungen schönen Instagram-Boys, die sich für das Geilste auf der Welt halten, weil sie ach so kaputt sind und schonmal für ein Foto mit ‘nem Typen geknutscht haben, ist an sich ziemlich abturnend, obwohl diese bösen Blicke, die sie immer draufhaben, schon witzig sind. Vielleicht steht das im Bandvertrag. Es ist auch echt niedlich, wie Loke Rahbeck immer mit BDSM kokettiert, und wenn man bei Posh Isolation was bestellt, sind so 80er Pornobildchen beigelegt. Wozu es eine super Geschichte gibt: Und zwar hat Loke als Croatian Armor mal ein Album gemacht und nur auf Kassette rausgebracht, und dann hat er gesagt, dass man es nicht kaufen kann, sondern nur kriegt, wenn man ihm an seine Emailadresse einen Nacktselfie von sich schickt. Natürlich ist irgendjemand auf die Idee gekommen, diesen Deal weiterzuverbreiten, aber Lokes Email gegen seine eigene auszutauschen, woraufhin die ganzen Groupies ihre Nacktbilder an jemand Wildfremden verschickten. Wie dem auch sei, das neue Album setzt die Historie von LFY fort: Während Growing Seeds ist noch recht grob war, sehr harte, beinahe faschistisch anmutende Beats hatte und mehr in die Neofolk/Postindustrial-Richtung ging, klingt Compassion wie Depeche Mode mit fröhlicheren Beats. Man denkt beim Hören die ganze Zeit, man hätte es schon mal 1:1 gehört. Wahrscheinlich liegt das daran, dass man eh fast die gesamte 80er Wavegarde damit identifizieren kann. LFY sind im Pop angekommen, aber nun, was soll man machen: sie kommen aus der Pubertät. Auf einmal ist der ganze Hass weg, und die Pickel, man bekommt Geld und Anerkennung, und Oma sagte schon immer, „Was machst du denn da so einen Krach. Du hast doch damals im Chor so schön gesungen. Wo hast du eigentlich Opas Lederjacke hingetan? Ich suche sie seit Tagen. Gib sie zurück.” Keine Sorge, liebe Oma, Compassion wird dich glücklich machen, und die Groupies, die den Lärm heimlich immer nervig fanden und LFY eh nur wegen der heißen Boys gut finden, auch. Ende gut, alles gut.
ASSASSINATION CLASSROOM
Yusei Matsui
Carlsen
In Assassination Classroom geht es um eine Schule, in welcher der Job der Schüler ist, ihren Lehrer (eine Art Krake mit Smileykopf, aus tofuartigem, sich regenerierenden Gewebe) zu töten. Er ist natürlich kein richtiger Lehrer, sondern ein außerirdisches Monster, dass 70 Prozent des Mondes gesprengt hat und droht, das Gleiche mit der Erde zu tun. Auf Wunsch des Außenministeriums sollen die Schüler ihn umbringen, um die Menschheit zu retten—und eine Belohnung von 10 Milliarden Yen einzustreichen. Allerdings hat die Lehrerkrake übermenschliche Kräfte und ist beinahe unmöglich kleinzukriegen. Was klingt wie etwas, dass sich Mittelschüler im ersten Vollrausch ausgedacht haben, ist tatsächlich ein witziger, zu Recht extrem erfolgreicher Manga. Auf Amazon gibt es als Merchandise-Shotgun-Schlüsselanhänger. Das klingt zwar in der Theorie alles schwer bedenklich, ist aber in der Praxis auf merkwürdige Art und Weise herzerwärmend und noch dazu ein fantastisches Geburtstagsgeschenk für die Sprösslinge spießiger Verwandter (das man am Ende doch lieber selber behält).
UNDERWORLD
Barbara Barbara We Face a Shining Future
Caroline International/ Universal Music
Alle paar Jahre wird das Spätwerk von Musikern, bei denen man sich eigentlich fragte, ob man ihnen die Blumen noch ins Altersheim oder doch lieber schon zum Friedhof schicken soll, zum „kreativen Neubeginn” oder zur „Wiedergeburt” stilisiert. Darum vorab: Barbara Barbara we face a shining future ist kein kreativer Neubeginn, außer man betrachtet es auch als „kreative Neuerfindung”, wenn der Friseur für die Frühjahrssaison hellblonde statt dunkelblonder Strähnchen vorschlägt. Aber es ist gerade deswegen ein gutes Album. Underworld machen seit den frühen 90ern sowohl klanglich als auch visuell intelligenten und geschmackssicheren Techno. Mit Höhen und Tiefen, aber ohne nennenswerte Totalausfälle. Mittlerweile sind sie eine britische Institution für elektronische Musik—eine der wenigen verbliebenen, die nicht zur Karikatur ihrer selbst verkommen ist. Ihr Repertoire reicht von brachial über Rave bis Ambient. Wer The Fall kennt, wird bei der ersten Single lachen müssen, weil sie nicht nur wahnsinnig nach The Fall klingt, sondern Underworld auch vor Sprechchören und Posaunen nicht zurückschrecken. Überhaupt klingen die neuen Sachen teilweise erfrischend dreckig. Böse Zungen könnten Barbara nachsagen, es handle sich bei ihr um Altherren-Techno; und ja: Es ist nichts, was Underworld nicht schon vor zehn Jahren gemacht hätten, aber seit wann fragt man eine Lady nach ihrem Alter?
LIBERTINE MAGAZIN
Nummer 1
Ich musste die ganze Zeit lachen, als ich begann, die erste Ausgabe von Libertine zu lesen. Ein Magazin für Frauen, die Frauen lieben, mit „muslimischen queeren feministischen” Themen klang wie aus einer Comedy von vor zehn Jahren. Serienvater: „Honey, wo warst du denn, warst du mit Bea shoppen?”—Serientochter: „Nein, Papa, Bea und ich shoppen nicht mehr. Wir machen jetzt ein muslimisches queeres feministisches Magazin für Frauen, die Frauen lieben! NIEDER MIT DEM PATRIARCHAT!” Natürlich ist das Ganze unfassbar sympathisch und, gerade in Zeiten, in denen das rechte Gesocks und Islamophobie auf dem Vormarsch sind, auch wichtig. Wir brauchen mehr solche Magazine! Zumal die Emma spätestens seit ihrem Köln-Artikel unkaufbar geworden ist. Die erste Ausgabe von Libertine ist nichts radikal Neues, das Layout ist Geschmacksache, aber es gibt liebevoll recherchierte Storys über San Francisco und Isabell Suba, Fotos von Jessica Jatrowsky. In der deutschen Pressewelt gibt es immer noch nur drei oder vier Chefredakteurinnen, und der Magazinmarkt kann Neues gebrauchen—in diesem Sinne, her damit! Und nieder mit dem Patriarchat!
ZWEI HIMMELHUNDE
Clemens Meyer und Claudius Niessen
Voland & Quist
13 Flaschen Gin, 340 Flaschen Tonic, 162 Dosenbier, 21 Tüten Erdnussflips, ein Erdbeerjoghurt sowie „Döner, Döner und nochmals Döner” wurden laut Statistik konsumiert, während Clemens Meyer und Claudius Niessen im literarischen Selbstversuch an 91 Filmabenden 207 Filme schauten. Tot, lebendig, Zombie—egal, Hauptsache „outer space”. Aber falls die Zahlen stimmen: 84 Minuten, so haben die Herren herausgefunden, sind die ideale Länge für Filme wie Cannibal Holocaust—Nackt und zerfleischt. Zur Hälfte ist das Buch Essaysammlung, zur Hälfte Protokoll eines endlosen Videoabends. Ein Tonband lief beim Videoschauen mit. Man bekommt Lust auf die Filme, aber ein Buch darüber ist so, als würde man auf Facebook nur Kommentare lesen. Dabei sind die zwei keineswegs so blöd, wie sie tun: Clemens Meyer hat 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Claudius Niessen ist Leiter des Leipziger Literaturinstituts. Richtig böse sein kann man ihnen nie. Nur darf man ruhig hin und wieder zur Fernbedienung greifen und spulen. „Wir spulten und spulten, bis Jean-Claude Van Damme endgültig aufhörte zu labern und reihenweise Fressen wegklatschte in Bloodsport. Wir spulten und spulten, bis der Videoknopf glühte.”