Finnland schickt vier Punks mit geistiger Behinderung zum Eurovision Song Contest

Am Samstag haben die finnischen Fernsehzuschauer offiziell Pertii Kurikan Nimipäivät (PKN), eine Punkband, die aus vier Männern mittleren Alters mit Lernbehinderungen besteht, als ihren Teilnehmer für den Eurovision Song Contest 2015 ausgewählt. Der Wettbewerb findet vom 19. bis 23. Mai in Wien statt.

Viele Finnen haben große Hoffnungen, dass PKN, die erste Punkband überhaupt beim Eurovision Song Contest, ihnen ihren zweiten Sieg bescheren wird. (Ihr letzter Gewinn war 2006 mit „Hard Rock Hallelujah“ von der Heavy-Metal-Band Lordi, die in Monsterkostümen auftritt.) Die Mitglieder der Band sehen ihre Teilnahme an dem Wettbewerb als eine Möglichkeit, um ein Bewusstsein und Respekt für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu fördern—ein respektabler Verwendungszweck für dieses historisch bizarre und protzige Event.

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„Wir rebellieren auf verschiedene Arten gegen die Gesellschaft, aber wir sind nicht politisch“, hat der Bassist von PKN, Sami Helle, vor Kurzem dem Guardian gesagt. „Wir ändern ein wenig die Einstellungen, es kommen viele Leute zu unseren Konzerten und wir haben viele Fans. Wir wollen nicht, dass Leute für uns abstimmen, weil sie Mitleid mit uns haben, wir sind nicht anders als andere Leute—einfach normale Typen mit einer Lernbehinderung.“

PKN haben sich 2009 bei einem Workshop für Erwachsene mit Lernbehinderungen gegründet, der von Lythy veranstaltet wurde, einer Organisation aus Konala in Finnland, die Wohnraum, Ressourcen und innovative und spannende Aktivitäten für Erwachsene mit geistigen Behinderungen anbietet. Nach der Veranstaltung ist Pertti Kurikka, ein Gitarrist mit Cerebralparese, mit Sänger Kari Aalto, Bassist Sami Helle und Schlagzeuger Tony Välitalo und dem Workshop-Koordinator (und anschließenden Bandmanager) Kalle Pajamaa in Kontakt geblieben. Sie haben angefangen, regelmäßig zu proben und Songs zu schreiben, die von ihren Erfahrungen mit Unterdrückung und Respektlosigkeit, die geistig Beeinträchtigten in betreuten Wohnheimen entgegengebracht werden, berichten, mit Texten wie „Ich brauche ein wenig Respekt und Würde in meinem Leben.“

„Wir sind anders als andere Leute“, hat Aalto vor Kurzem dem Centre for Welfare Reform über die Gefühle, die ihre Arbeit beeinflussen und die Botschaften, die PKN ihren Hörern vermitteln wollen, gesagt. „Einige Leute sind einfach anders—aber wir haben die gleichen Rechte wie alle anderen.“

2012 hat die Band durch die Veröffentlichung von The Punk Syndrome eine größere Anhängerschaft aufgebaut, eine Dokumentation der finnischen Filmemacher Jukka Kärkkäinen und Jani-Petteri Passi, die den Werdegang der Band von den ersten Proben bis zur ersten Europatour nachzeichnet (übrigens ohne viel Kommentar und Schnitt). Mit den üblichen Band-Possen (einem Womanizer als Sänger, einem pingeligen Bassisten, einem divenhaften Gitarristen und einem liebenswerten Schlagzeuger, deren Streitereien von einem ausgeglichenen Manager geschlichtet werden) und kurzen Songs über die Probleme des täglichen Lebens, wie schrecklichen Fußpflegern, haben sie in Skandinavien und Deutschland eine große Anhängerschaft gewonnen und sind durch Europa und Nordamerika getourt—nicht nur als ein besonderer Act, sondern als ernsthafte und beliebte Punkband.

„Es gibt nichts, das mehr gegen das Establishment ist, als vier hitzköpfige Individuen mit einer Behinderung, die es den Institutionen, von denen sie umgeben sind, wirklich zeigen“, schrieb Nick Hard 2013 auf der Seite List und erklärt damit seine Liebe und die vieler anderer für den Liebling der Filmfestivals, The Punk Syndrome.

Die breite Unterstützung für PKN wurde im Februar während des Uuden Musikiin Kilapailu deutlich, dem nationalen finnischen Wettbewerb zur Qualifikation für den Eurovision Song Contest, bei dem die Band es mit 17 anderen aufnehmen musste, die von Bhangra- über Pop- bis zu Reggaeton-Acts reichten. Mit ihrem 85-sekündigen „Aina Mun Pitää“ („Ich muss immer“), einer Tirade gegen gesundes Essen, Hausarbeit und generelle Alltäglichkeiten, hat die Band bei der Abstimmung der Jury den dritten Platz belegt, aber dank eines erdrutschartigen Siegs bei der Telefonabstimmung dürfen sie denselben Song im Halbfinale des Eurovision Song Contest in zweieinhalb Monaten darbieten.

Beobachter sagen, dass die Beliebtheit der Band die Einstellungen in Finnland bereits verändert hat.

„Wir sehen, dass die Leute geistig Behinderte für gleichwertiger als vorher halten“, hat Kärkkäinen 2013 dem Sydney Morning Herald gesagt. „Sie haben Gefühle, sie wollen Kinder bekommen, sie wollen Alkohol trinken und sie wollen Sex haben.“

Und die Band scheint zu hoffen, dass ihr Erfolg auch andere Menschen mit Lernschwierigkeiten dazu inspiriert, einen Schritt zu machen, sich selbst voranzubringen und ihre eigenen Rechte und auch Respekt einzufordern.

„Jede Person mit einer Behinderung sollte mutiger sein“, hat Aalto vor Kurzem YLE gesagt. „Er oder sie sollte selbst sagen, was er oder sie tun will oder nicht.“

Die Teilnahme am Eurovision Song Contest wird eine großartige Plattform für PKN bieten, um ihre Fanbase zu vergrößern und ein Bewusstsein und mehr Respekt für Leute mit geistigen Behinderungen zu schaffen.

„Die wichtigste Sache für die Band ist die Musik“, hat Teuvo Merkkiniemi, PKNs neuer und derzeitiger Manager, VICE gesagt, „aber uns ist klar, dass unsere Teilnahme am Eurovision Song Contest ein riesiges Statement für die europäischen Länder ist, in denen Leute mit Behinderungen relativ wenig Rechte haben.“

Trotz des Rufs für bizarre und kitschige Acts (denk nur an den russischen Geiger auf Schlittschuhen oder die irische Truthahn-Handpuppe) ist der Wettbewerb in den letzten Jahren dank seiner 180 Millionen umfassenden, transnationalen, treuen Anhängerschaft und der Vorliebe für merkwürdige bis bahnbrechende Acts zu einem Forum für kontinentale Diskussionen und soziale Debatten geworden. Die Gewinne der israelischen Transgender-Künstlerin Dana International 1998 sowie der bärtigen österreichischen Drag-Queen Conchita Wurst (alias Thomas Neuwirth) 2014 haben eine umfangreiche Diskussion über Geschlecht und Sexualität befeuert. Und die Hoffnung ist jetzt, dass ein starkes Abschneiden von PKN ein paar dringend notwendige Dialoge über die Rechte, Möglichkeiten und den sozialpolitischen Status von Leuten mit geistigen Behinderungen in europäischen Gesellschaften entfachen kann.

Die Buchmacher sehen die Gewinnchancen von PKN bei Fünf zu Eins, was die drittbeste Quote hinter Italien und Estland ist (trotz der Tatsache, dass sie mit dem wahrscheinlich kürzesten Song in der Geschichte des Eurovision Song Contest antreten). Selbst wenn sie nicht gewinnen, die Sichtbarkeit, die mit diesem Wettbewerb einhergeht, wird ihre Anhängerschaft sehr wahrscheinlich noch vergrößern und es ihnen ermöglichen, ihre Botschaft von Respekt und Potential über ein paar mehr Grenzen hinweg zu verbreiten.

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