Jede Woche höre ich mir die gesamte Diskografie einer One-Hit-Wonder-Band an und lasse euch wissen, ob man sich auch die restlichen Songs anhören sollte. Diese Woche: Madness.
Die erste Sache, die ich und mein Mitbewohner taten, als wir vor zwei Jahren in die neue Wohnung zogen, war, von unserer Treppe aus auf unsere neue einfache Lehmziegelmauer zu gucken, uns einander zuzuwenden und zu singen „Our house! In The middle of the street! Our house! In the middle of our—“OK, technisch gesehen ist unser Haus eher seitlich versetzt, aber egal; es ist mittig genug, um das zu singen. Mein (Ex-)Mitbewohner ist zwar inzwischen nach Kanada gezogen, aber seitdem steht unser Haus—naja, mein Haus—in der Mitte der Straße. Und dieses Lied—selbst 30 Jahre nach der Veröffentlichung—gilt immer noch als eine der größten Heimat-Hymnen der Popmusik. (Übrigens: Ich habe jetzt einen Mitbewohner, der absolut verrückt nach Madness ist, und wie verrückt zu „Our House“ zu tanzen, immer wenn es läuft, ist so etwas wie unsere kleine Tradition geworden. Das passiert öfter, als ihr denkt.)
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Bevor jetzt wieder jemand zu mir sagt „Was ist mit euch Amerikanern los?“—was ich übrigens nicht bin, amerikanisch—mir ist durchaus bewusst, dass Madness eine Menge erfolgreicher Single in United Kingdom hatte und ich sage es euch gleich am Anfang, dieser Erfolg war sehr verdient. Sie waren in UK so beliebt, dass sie in den sieben Jahren zwischen 1979 und 1986, 21 Top-Zwanzig-Hits landeten. Hier drüben in den US of A überschattete „Our House“ dennoch alle anderen Madness-Songs (mit einem Platz 7 in den Charts). Der einzige andere Song, der es in die Charts schaffte, war der Cover-Song „It Must Be Love“, der es aber nur in die Top 40 auf den Platz 33 schaffte. Was ich damit sagen will, ist, dass auf dieser Seite des Teichs, Madness oft als dumme Band abgetan wird, die einfach nur übereifrig über ihr Zuhause gesungen haben. Aber ÜBERRRASCHUNG—diese Typen singen über viel mehr, als nur über ihr Zuhause.
Als ich mich durch ihr Diskografie grub, kannte ich nur ein paar ihrer Singles, aber ich wollte mich mit Madness auf einer ganzen tiefen Ebene auseinandersetzten. Wie vermutet, hatte die Band aus Camden Town bereits einiges hinter sich. Sechs Jahre vor dem „Our House“-Erfolg kam eine Gruppe von Teenagern zusammen, um eine Band zu gründen, die sich selbst The North London Invaders nannte, und gaben sich Künstlernamen, die den Charakteren aus Trainspotting gleichkamen: Monsieur Barso (Mike Barson), Chrissy Boy (Chris Foreman) und Kix (Lee Thompson), die im selben Jahr noch Gesellschaft von Chas Smash (Cathal Smyth), John Hasler und Dikron Tulane (das scheint sein echter Name zu sein) bekamen. Schon im ersten Jahr des Bandbestehens gab es unendlich viel Drama, aus allen möglichen Gründen. Zum Beispiel wurde der Lead-Gitarrist Suggs (Graham McPherson) rausgeworfen, weil er zu viel Football guckte, und eine Saxophonist verließ die Band, weil seine Gefühle verletzt wurden oder so. Wie ihr euch vorstellen könnt, waren die ersten zwei Jahre anstrengend. Lange Rede, kurzer Sinn: noch mehr Leute mit dummen Namen wurden aufgenommen (Bedders und Woody), einige der Leute mit den anderen dummen Namen gingen, kamen dann wieder, die Band änderte ihren Namen zu Morris and the Minors, bis schließlich, im Jahre 1979, sie mit sieben Mitgliedern und dem Namen Madness zur Ruhe kamen. Uff. Noch ein bisschen mehr davon und ich hätte an dieser Stelle einen Strich gemacht.
Außerhalb des ganzen Band-Dramas regte Madness, am Anfang ihrer Karriere, eine kleine Kontroverse für ihre Beliebtheit in der Skinhead-Szene. Oft wurden sie von Fans mit dem Hitlergruß begrüßt, was die Band sehr ärgerte—einige Mitglieder haben ihr Missfallen an dieses rassistischen Gesten geäußert und haben sich sogar während der Shows mit den Skinheads geprügelt. Es hat eine Weile gedauert, bis sie die unwillkommene Asoziation abschütteln konnten und jetzt, wo Skinheads zu den aussterbenden Gattungen gehören, rocken Madness immer noch (und die Leute tragen auch immer noch Fred Perry Shirts).
Obwohl Madness nie bei einem Genre blieben, werden sie vor allem als britische Ska-Band gesehen, was mich zu der Frage brachte: Ist es peinlich, Ska zu hören? Ich habe das Gefühl, es ist peinlich, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Aber es ist mir trotzdem egal, weil ich wirklich auf Madness stehe. Ich wünschte, ich hätte noch einen Monat Zeit, damit ich euch eine umfassendere Analyse ihrer Musikkarriere geben könnte, aber hier ist nun mein Ergebnis nach einer Woche Bemühungen:
Die ersten beiden Alben von Madness One Step Beyond (1979) und Absolutely (1980) hatten viele Einflüsse aus Ska und das bedeutet, das einige Lieder ein bisschen zu boppity-doo-bop-bop für meinen Geschmack waren (Ist das eine angemessene Ska-Lautmalerei?). Abgesehen davon war ihre eigens getaufte „hirnrissige Musik“ war in fast allen richtigen Weisen hinrissig und stellte sich heraus, eine erfrischende Abwechslung zu dem deprimierendem englischen Leben zu sein. Ich verstehe langsam, warum Madness nur in UK so beliebt war. Sie waren so vollkommen britisch—wie „Die Scheiße stinkt zum Himmel, aber wir werden schmunzeln und es es ertragen, weil wir britisch sind“-britisch—dass die Stimmung bei den Amerikanern wahrscheinlich nicht ankam. Es war auch nicht förderlich, dass das alles mit einem krankhaft englischen Akzent übertönt wurde. Beweise? Schauen wir mal auf die Zahlen: ihr Debütalbum One Step Beyond stürmte auf Platz 2 in UK, aber kam in den US nur auf Platz 128, während ihre zweite Platte Absolutely einen ähnlichen Erfolg in UK feierte, aber in den USA noch weiter sank auf Rang 146. Unangenehm.
Hier sind einige Perlen, die ihr nicht beachtet habt, Amerika:
„My Girl“ aus One Step Beyond. Schaut euch nach ungefähr einer Minute das Gesicht des Drummers an—er schaut wie „Ich habe keine Ahnung, warum er so tanzt.“
“Embarrassment” aus Absolutely handelt von dem Tabu zwischenrassischer Beziehungen.
1981 releaste Madness Seven, was eine Wendepunkt für die Band war, das sie die Ska-Einflüsse ein wenig zurückschraubten und sanft auf der Brit-Pop Schiene fuhren (JAWAOHL, HALLO). Die erste Single des Albums „Grey Day“ war eine drastische Veränderung zu ihren früheren Liedern. Es geht um die bedrückende Routine des Alltags—mit Schmerzen ins Bett zu gehen und mit den selben wieder aufzuwachen—und das Lied endet mit der wiederholten Strophe „So begins another weary day“. Ich kann es füüüühlen.
Außer dass das Video anzuschauen, jegliche Anwandlung von Ernsthaftigkeit zunichte macht.
Das war die neue Seite von Madness, die darum bettelte, sie ernst zu nehmen, und es schien so, als ob diese Typen eben nicht immer schmunzeln und es ertragen; manchmal ist die Last auf ihren Schultern auch schwer. Es stellte sich heraus, dass das ein guter Schritt für die Gruppe war, als sie plötzlich als vielseitige Band wahrgenommen wurden. Während Madness in ihrem Heimatland konstant auf dem Weg nach oben waren, dauerte es vier Alben, bis sie endlich in Amerika ankamen. Der Ruhm kam mit, wie ihr wisst, „Our House“ war auf ihrem 1982er Release The Rise & Fall—auf seine Art war der Titel eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ich fand das Album im Ganzen ziemlich gut, aber sein Hit stach als der klare Gewinner gegenüber den anderen Tracks heraus—damit meine ich, dass kein anderes Lied eine potentielle Hit-Hook wie „Our House“ hatte. Nach The Rise & Fall brach die Band ihre Tradition,jedes Jahr ein neues Album herauszubringen und auch die Richtung der Band änderte sich.
1984 war ein durchgehender Abstieg in der Karriere von Madness, als die Band die Situation nach dem Tod von Gründungsmitglied Mike Barson im Jahr zuvor wieder normalisieren musste. Das Ergebnis daraus war Keep Moving, ein Album, das die letzten Überreste von Barsons Arbeit beinhaltete, aber mehr oder weniger eher ein Post-Barson-Album wurde. Diese Platte ist kein Lieblingsstück der meisten Madness-Hörer und hatte auch am wenigsten Erfolg in den Charts—zu glatt, zu produziert, zu vergessenswürdig, bla bla bla—aber, ähm, ich verstehe es nicht. Ich fand dieses Album unglaublich—vielleicht sogar mein Favorit bis jetzt…Bin ich mit diesem Gedanke ganz alleine? Moment kurz, ich bin gleich wieder da. Ich höre mir schnell nochmal alles an.
OK, ja. Keep Moving ist das Beste. Was zur Hölle? Hier ist ihre Single „Michael Caine“, was ihre erste Veröffentlichung ohne Barson war. Auf den ersten Blick scheint es die Madness-Krankhaftigkeit behalten zu haben, mit „My name is Michael Caine“, das den ganzen Song über wiederholt wird, aber die schöne Melodie und die Hintergrundgeschichte von dem IRA-Informant Sean O’Callaghan zeigt, dass die Jungs es ernst meinen.
Und hier ist noch ein lustiger Track von dem Album. Einfach so:
Ungeachtet dessen, dass auf dem Album wirklich großartige Songs, wie die oben, zu finden sind, war Keep Moving relativ unerfolgreich. Die Bitterkeit daraus ergoss sich in ihrer darauffolgenden Anstrengung Mad Not Mad (1985), was ein Album war, das vor Emotionen nur so sprudelte: von „Fuck The Man“ (die Musikindustrie) über „Things will get better, right?“ zu „Mike, come back, we need you“. Wieder war das Album absolut glatt und überproduziert (um fair zu bleiben, es war Mitte der Achtziger Jahre), was den Leadsänger Suggs dazu inspirierte, zu sagen, es sei ein „polierter Kackhaufen“. Hart, aber irgendwie auch wahr—das war auf jeden Fall ein großer Schritt zurück nach ihren vorigen Releases. Frustriert und verbittert trennte sich die Band 1986.
…Psycho! Nur eineinhalb Jahre später kamen sie wieder zusammen und nannten sich in The Madness um—wirklich kreativ, Jungs—und veröffentlichten ein Album mit dem gleichen Namen, in dem Bemühen, ihre Bekanntheit wiederaufleben zu lassen. Es funktionierte nicht, also trennten sie sich erneut.
Diese zweite Trennung war ernsthafter und die Band brachte 11 Jahre lang nichts mehr raus, bis 1999—dieses Mal mit dem stark vermissten Mike Barson zurück im Team. Wonderful war echt nicht schlecht, wie ich finde, während die meisten Bands, die nach einer Dekade wieder zusammenfinden, dazu tendieren, sich schrecklich zu verschlechtern, vor allem wenn sie die Erwartungen des Comebacks mit einem überheblichen Albumtitel hoch schrauben. Danach brauchten sie weitere zehn Jahre, um ihr nächstes Album mit Originalmaterial zu veröffentlichen (zwischendurch mit einem Coveralbum im Jahr 2005): The Liberty of Norton Folgate, 2009. Ich fand, das Album war nur okay, aber mal wieder, gingen die Meinungen auseinander. Liberty wurde sehr gut aufgenommen und viele Zeitungen nannten es sogar das beste Madness-Album jemals. JEMALS. WIRKLICH, JEMALS? Wow. (Jetzt stelle ich meinen eigenen Musikgeschmack wieder in Frage.)
Bei einer Band wie Madness, mit so einer riesigen Diskografie, die mit unzähligen Hits und nur ein paar wenigen Fehlschüssen gefüllt ist, kann man die Stärkern am besten in einer Greatest Hits Compilation darstellen. Ich bin ein großer Fan von diesen „Greatest Hits“/“Very Best Of“-Alben und Madness hat eine Menge zu protzen: Complete Madness, Total Madness, Divine Madness, sagt ihr es mir. Es gibt schon auf diesen Compilations viel zu entdecken und ich denke, selbst ein Superfan kann dem zustimmen: Sie sind schön verkürzte Illustrationen der musikalischen Genialität der Band. Außerdem solltet ihr, wenn ihr sie euch anhört, unbedingt Keep Moving anhören, weil das meine Lieblings-Madness-Platte ist, und trotzdem die unbekannteste, deswegen muss ich wissen, ob ich die einzige bin, die das so sieht.
Aber moment, ES GIBT NOCH MEHR! Madness haben gerade erst vor wenigen Tagen einen neuen Song herausgebracht (ich schwöre, ich habe das nicht geplant, mein Timing ist einfach unfehlbar). Er heißt „My Girl 2“, die Fortsetzung von „My Girl“, welches, falls ihr euch erinnert (wenn nicht, scrollt nochmal hoch) auf ihrem Debüt 1979 releast wurde. Und ES ROCKT. Vielleicht ist das die Chance für Madness, sich zu erlösen—für mich, weil ich nicht auf ihr letztes Album stand, und für die Amerikaner wegen der ganzen „Our House“-One-Hit-Wonder-Sache. Kann es dem Original „My Girl“ die Stirn bieten? Das kann ich im Moment noch nicht sagen, aber es ist trotzdem verdammt gut. Hört es euch drüben bei Spinner an.
Ich freue mich so auf das neue Album. Es heißt Oui, Oui, Si, Si, Ja, Ja, Da, Da—das sind acht Ja in vier verschiedenen Sprachen—und es wurde am Freitag veröffentlicht. Es ist so, als hätten sie sich ihr Releasedatum nur wegen mir ausgesucht. Auch wenn diese Dinge einen schnell enttäuschen können, ist die die Single wirklich vielversprechend und wenn sich Madness ihre alten Alben zum Vorbild nehmen, was ich vermute, habe ich allen Grund, optimistisch zu bleiben. Juhu! Der Herbst 2012 wird absolute, komplette, göttliche Madness.