Sara steht einer “Männerübermacht” gegenüber – einer symbolisch dargestellten Ahnenlinie männlicher Vorfahren, die in ihr sichtlich Gefühle von Angst und Verzweiflung auslösen. Sie wimmert leise vor sich hin. Für den Leiter der Familienaufstellung ist der psychische Knackpunkt aber noch nicht erreicht.
Er lässt rituell jemanden aufstellen, der ihren Vater darstellen soll. Langsam hebt Sara ihren Kopf und blickt dem Darsteller ihres Vaters direkt in die Augen. “Der Vater” erwidert kühl ihren Blick. Sara beginnt, kräftig zu zucken und zu zittern. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten.
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Mit letzter Kraft übergibt Sara “dem Vater” ihr Trauma – die Schuld die eigentlich er zu tragen hat. Heulkrämpfe nehmen ihr die Kontrolle über den Körper. Sie schreit verzweifelt auf. Der Aufstellungsleiter ruft energisch Frauen herbei, die ihre Chakren halten sollten. Drei Frauen umgeben sie nun und berühren Saras Bauch, Stirn und Rücken. Der Aufstellungsleiter, auch Psychotherapeut, hält die Hände über sie und “kanalisiert” positive Energie. Sara beruhigt sich langsam und beginnt rhythmisch hin- und herzuschaukeln.
Die Familienaufstellung ist in den 80er-Jahren durch Bert Hellinger, einem ehemaligen Priester im europäischen Raum bekannt geworden. Nach seiner Missionsarbeit in Südafrika kombinierte er die dort bei dem Stamm der Zulu entdeckten, familientherapeutisch wirksamen Heiltechniken mit seinen konservativen, eurozentrischen Vorstellungen von Familie und Elementen aus dem Psychodrama.
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Diese Elemente vermischte er zu einer neuen, christlich-esoterischen Therapierungsform – der mittlerweile klassischen Familienaufstellung. Im Gegensatz zur damals schon verbreiteten Familientherapie musste in seinen Aufstellungen nur ein Mitglied der Familie anwesend sein, da nach der Auffassung der Familienaufstellung ein “wissendes Feld” produziert wird, das den Rest erledigt.
Für die Familienmitglieder werden sogenannte Repräsentanten aus dem Publikum ausgewählt, die vom Patienten auf den “richtigen Platz” gestellt werden sollen. Dadurch entsteht eine Konstellation von Menschen, die sich einander zu- oder abwenden, anblicken oder wegschauen. Darauf aufbauend entwickelt sich dann eine Art intuitive Eigendynamik, die von außen an ein Improvisationstheater erinnert und je nach Therapeut und Teilnehmer mit verschiedenen Weltbildern gerahmt wird. Auch Sara meint, dass ihr das Improvisationstheater beim “Rollenspielen” in der Familienaufstellung sehr geholfen hat.
Familienaufstellungen schaffen es seit ihrer “Erfindung” immer wieder in die Schlagzeilen. Aufgrund des Wahrheitsanspruchs, den Hardcore-Aufstellungen à la Hellinger stellen, erzeugen die Ergebnisse immer wieder Leid und Konflikt.
So erfahren die einen überraschend von Missbrauch in der Familie, und anderen wird erklärt, dass ihre Krebserkrankung das Ergebnis fehlender partnerschaftlicher Treue sei. Diese totalitären Diagnosen entbehren natürlich jeder wissenschaftlich fundierten Basis und können schwerwiegende psychosoziale Folgen mit sich bringen.
Trotz der offenen Kritik besteht heute nach wie vor ein ungebrochener Boom der Aufstellungsarbeit. Nach Oliver König, selbst Soziologe und “kritischer” Aufsteller, klagen kassenärztliche Psychotherapeuten über ein nachlassendes Interesse an der langwierigen Gruppenpsychotherapie. (Oliver König in: Strauß/Geyer (Hg.) Psychotherapie in Zeiten der Globalisierung, S. 79 bis 80)
Familienaufstellungen, die am freien Markt von jedem auch ohne psychosoziale Ausbildung angeboten werden können, sind dagegen sehr erfolgreich und nehmen unterschiedliche Formen an. Von der Organisationaufstellung an der Wirtschafts-Uni bis zu schamanischen Krafttieraufstellungen ist auch in Österreich alles zu finden.
Die Grundmethode ist die gleiche, aber die Ziele und das dahinterstehende Deutungsmuster sind sehr unterschiedlich. Besonders Psychotherapeuten machen Gebrauch von der Methode – und greifen dabei auf sehr unterschiedliche Deutungsmuster zurück, was große Auswirkungen auf die Definition von Krankheit und Gesundheit und auf das Erleben der Aufstellung durch die Teilnehmer hat. Oft finden sich in der Aufstellungsszene Therapeuten, die psychologisches “Know-how” mit spirituellen Weltbildern und Heiltechniken verbinden.
Für Kritiker wie die Psychologin Susanne Frei sind das oft Versuche, um sich auf dem stark umkämpften Therapiemarkt zu profilieren und eine Art Guru-Status zu erlangen. Dadurch kann es zu pathologischen Abhängigkeitsverhältnissen von selbsternannten “Wunderheilern” kommen und eben zu den oben angeschnittenen psychosozialen Gefahren.
Auf der anderen Seite berichten Teilnehmerinnen wie Sara immer wieder von wundersamen Veränderungen und schwören auf die intensive Kurzzeittherapie durch Heilrituale in Aufstellungen. Herkömmliche Psychotherapie “war ganz nett”, habe sie aber nicht von den Socken gehauen.
Durch eine “Esoterik-Richtlinie” will der österreichische Psychotherapieverband jede Form von Religiosität, Esoterik und die Beschäftigung mit dem Leben nach dem Tod aus der psychotherapeutischen Praxis verbannen. Psychotherapeuten dürfen keine esoterischen Heilrituale oder ähnliches in die psychotherapeutische Intervention einfließen lassen.
Sara, 27, beschreibt sich als sehr analytischen Menschen. Sie liebt aber auch ihre spirituelle Seite, weil sie nicht damit leben könnte, dass alles durch Naturwissenschaften erklärbar ist.
Ich war auf Familienaufstellungen in Österreich und habe mit Teilnehmerinnen und Aufstellerinnen über ihre umkämpfte Leidenschaft zum spirituellen Psychoschauspiel befragt.
Sara, 27, ist selbst Psychologiestudentin und beschreibt sich als einen sehr analytisch denkenden Menschen. Sie liebt die empirische Vorgangsweise und die festgelegten diagnostischen Kategorien des DSM III, dem Klassifikationssystems der Psychiatrie. Sie liebt aber auch ihre spirituelle Seite, weil sie – in ihren eigenen Worten – nicht mit der Vorstellung leben könnte, dass alles durch das materialistisch-naturwissenschaftliche Paradigma erklärbar ist.
Deshalb sucht sie immer wieder nach ekstatischen Erlebnissen, die ihr das Gefühl geben, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt. Dass es dort “etwas gibt”, das beständig und unabhängig von ihrer Persönlichkeit und ihrer eigenen Biographie ist.
Mit dem Ausgang ihrer Aufstellung ist sie sehr zufrieden. Sie hat sich noch nie mit irgendwelchen Chakras beschäftigt, aber der Effekt habe sie umgehauen. “Echt spooky, aber echt cool”, sagt sie. Dann fügt sie hinzu: “Wenn nicht sowas Heftiges passiert wäre, wäre ich im Nachhinein auch irgendwie enttäuscht gewesen.” Auch für Paul ist das körperliche Erleben in der Aufstellung das Non plus ultra: “Ich find’s geil, wenn irgendwas Körperliches ausbricht, das ich nicht kontrollieren kann!”
Saras Aufstellungsleiter Bergmann hat sich vom “Urvater” Hellinger und dessen esoterisch-fundamentalistischen Weltbild distanziert. Dennoch wurde er einige Jahre zuvor vom Psychotherapieverband geklagt, weil er auf seiner Webseite keine klare Trennung zwischen psychotherapeutischen und esoterischen Dienstleistungen vornahm. Er wehrte sich dagegen, da er die Arbeit mit Ritualen, Trance, Meditation und Energiezentren (Chakras) als psychotherapeutisch wirksam und nicht unwissenschaftlich einstuft. Er begreift seine Aufstellungsarbeit als “konstruktivistisch-spirituell”, wobei seine Klienten immer das letzte Wort haben sollen.
Trotzdem darf er diese Aufstellungen nicht mehr als Psychotherapeut betreuen – wie viele andere, die in diesem Bereich zwischen Wissenschaft und Spiritualität therapieren. Damit geht auch einher, dass der Psychotherapieverband nicht mehr für die Überprüfung dieser Familienaufstellungen zuständig ist und die “Nicht-mehr-ganz-Psychotherapeuten” die gleichen Klienten wie zuvor unter eigener Schirmherrschaft weitertherapieren.
Auf einer anderen Aufstellung treffe ich Jana. Sie erzählt mir wie toll sie den Aufsteller findet, weil er noch so “traditionell” arbeitet und “du bei ihm wirklich das Gefühl hast, dass er mit etwas Göttlichen in Verbindung steht”. Der Aufsteller ist kein Psychotherapeut und bietet offen esoterische Familienaufstellungen an.
Hier begegne ich vielen Menschen, die Aufstellungen nicht als Hilfsmittel zur Entscheidungsfindung und mehr für die Entscheidung an sich halten. Das, was “im Feld” passiert, passiert für sie auch wirklich. Jana erfährt in der heutigen Aufstellung, dass ihr Liebhaber sie nur benützt, um in seinem eigenen Familiensystem eine “Verstrickung” zu lösen. Sie kommt nach dem Seminar verzweifelt auf mich zu und fragt mich, ob ich das auch so erlebt hätte. Ich versuche, sie zu beruhigen und meine dass diese Perspektive ja nur relevant ist, wenn sie dieser Eindruck “da draußen” auch einholt. Wenn das der Fall ist, soll sie doch einfach mit ihm über diese Gefühle quatschen.
Die Thematik “Spiritualität und Psychotherapie” ist komplexer als sie auf den ersten Blick scheint und bedarf einer weiteren Auseinandersetzung. Zurzeit finden speziell Achtsamkeitsübungen, die aus östlichen Weisheitstraditionen entlehnt werden, oder Trancetechniken ihren Eingang in die psychotherapeutische Praxis.
Die Lehranstalt für systemische Familientherapie befindet in der Angelegenheit übrigens, dass die Grenzübergänge zwischen wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Verfahren und zwischen Wissenssystemen wie Psychologie, Theologie, östlicher Philosophie und beispielsweise Schamanismus “nicht in jedem Fall eindeutig abzuzirkeln” sind. (Johannes Egger: „Wer ist der Scharlatan? Eine gegenwarts-historische Betrachtung zur Frage der Abgrenzung der Psychotherapie von esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden” S. 90)
Umso wichtiger ist es angesichts einer solchen Einschätzung, die Transparenz dieser Heilverfahren zu fördern und darauf zu achten, dass Therapeuten keine Ansprüche auf absolute Wahrheiten erheben. Der Imperativ der Psychotherapie, dass der Patient und die Patientin Experten ihre Ziele und Wünsche sind, sollte immer gelten. In einer Familienaufstellung werden diese Wünsche und Ziele von völlig fremden Personen verkörpert. Es entsteht dabei ein Psychoschauspiel, das aufgrund seiner Intensität und Rahmung oft realer wirkt als die triste Realität. Die Aufgabe des Therapeuten ist es zwischen der Realität und der konstruierten, neuen Perspektive zu vermitteln – und nicht eine neue Realität zu schaffen.
Die Namen einiger Befragten wurden verändert, sind aber der Redaktion bekannt.