Als Teenager hatte ich für den Urlaub bei meinen Verwandten in Serbien folgende Optionen: Entweder ich fliege einmal jährlich aus der Schweiz nach Belgrad (was damals doch ein beträchtliches Sümmchen kosten konnte) oder ich entscheide mich für den harten aber unglaublich günstigen Weg, mit einem Reisecar nach Serbien zu fahren. Eine Wahl, vor die wohl auch Hunderttausende andere Secondos in der Schweiz früher oder später gestellt wurden.
Die motorbetriebene Karawane, wie sie mein Vater gerne nennt, steht auch heute noch pünktlich zum Schuljahresende in der Gartenstrasse. Die nahe dem Basler Bahnhof gelegene Gasse beheimatet ein paar grosse Gebäudekomplexe, ist ansonsten aber eher ruhig. An jedem Freitagnachmittag jedoch mutiert die Gartenstrasse in ein kleines, balkanisches Dorffest. Dort, wo Jogginghose und mit Coop-Superpunkten gekaufte Koffer auf blondierte Extensions treffen und alte qualmende Herren auf übertrieben geschminkte und noch intensiver qualmende Damen, die über Gott und die Welt reden (meistens also ihre Arbeit oder das RAV). Dort, wo aus den vordersten Cars grober Turbofolk hallt (Jasar Ahmedovski lässt grüssen) und diese nicht nur mit Gepäckstücken, sondern auch fleissig mit Waschmaschinen, tonnenweise Windelpackungen und Teppichen beladen werden. Dort startet für viele das Vergnügen einer 20-stündigen Reise in den Balkan. Oder sagen wir einfach, dass es meistens ein Vergnügen ist. Oder manchmal, wenn nicht sogar selten. Denn oft ist es einfach nur eine Odyssee auf Asphalt, getränkt in komischen Gerüchen und nur in guter Gesellschaft zu überstehen.
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Ich bin oft mit meinem Bruder gereist, der aber bald eine Lehre begann und sich somit den Luxus leisten konnte, zu seiner Jugendliebe nach Belgrad zu fliegen. Von da an musste ich die Busreise ins Land meiner Vorfahren alleine antreten. Ich werde nicht jammern, denn einige meiner Erlebnisse aus dem Flixbus für Arme haben mein Leben auf eine humoristische Weise bereichert.
Wie zum Beispiel damals im Sommer 2006, als eine gewisse Baba Senka versuchte, einen Haufen Zigaretten über die Grenze zu schmuggeln. Meine Freundin Laura* und ich hatten fünf Wochen Sommerferien in Serbien hinter uns. Wir stiegen um Mitternacht in den Bus ein und verkrochen uns im hintersten Eck des Fahrzeuges, um uns in bereits geübter Tetrismanier über- und untereinander schlafen zu legen. Dass wir dabei im “Raucherabteil” waren (ein echtes, abgegrenztes Abteil gab es nicht – vom Klo weg waren einfach die Rauchersitze) und wir nach der 22-Stunden-Fahrt wie alte Tabakstummel rochen, war uns damals egal. Die Gefahr, im Dauerqualm zu ersticken, ignorierten wir gekonnt und schliefen zu Stojas “Evropa” mit leicht blutenden Ohren ein (Balkaner wissen warum).
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So schlummerten wir bis zur serbisch-ungarischen Grenze, wo man uns alle fast schon traditionsgemäss zur Pass- und Fahrzeugkontrolle aus dem Bus scheuchte. Auf die formelle Frage, ob wir etwas zu verzollen hätten, folgte das grosse Filzen aller Koffer. Mit Erfolg: Die ersten durchsuchten Gepäckstücke waren gefüllt mit kiloweise Fleisch und Fetakäse. Das Highlight dieser Filzaktion war aber Baba Senka, eine ältere, aber fast schon gefährlich wirkende Dame. Baba Senka schlief nicht, Baba Senka ging nicht auf die Toilette, Baba Senka ass nicht – sie rauchte. Und schmuggelte, was das Zeug hält. Doch dieses Mal blieb es beim Versuch, denn die Zöllner fanden nicht nur mehrere Stangen Zigaretten, sondern auch überall einzeln versteckte Zigarettenschachteln. Die Socken in Schachtelform hatten Baba Senka verraten. 200 Euro und Hunderte von Zigaretten ärmer, kam sie wieder zurück in den Bus. “Verdammte Schwuchteln”, meinte sie murmelnd und zückte aus einer bis dahin unbeachteten Tasche mehrere, gut versteckte Ronhill-Zigarettenpackungen und zündete sich trotzig eine an. So viel Balkan in einer Person.
Wenn die Zöllner in solchen Situationen keine Lust aufs Filzen hatten, aber dafür umso mehr Lust auf Bier, Marlboro und Geldscheine, begann meistens das grosse Schmieren. Meistens rannte der Besitzer des Reiseunternehmens durch den Bus und es entspann sich ein solcher Dialog:
– “20 Franken pro Koffer, oder wir kommen hier nicht vom Fleck!”
– “Aber ich habe nur einen kleinen Koffer!”
– “Und was ist mit deinem Kühlschrank, den ich dir nach Leskovac fahren soll, alte Frau?”
Mich übersprang er immer bei den Schmiergeldeintreibungen. “Du nicht, du bist jung.” Fair genug, wie ich fand. Schlussendlich bekamen die ungarischen Zöllner eine Kiste Bier, ein paar Stangen Zigaretten und ein Bündel mit Geld. Wir durften dafür weiter Richtung Osten. Doch wir kamen nur ein paar Meter bis an die serbische Grenze, wo sich das gleiche Prozedere wiederholte.
Passagiere wie Baba Senka können aber nicht nur amüsant, sondern auch sehr hilfreich sein. Als wir einmal in der Nacht auf einer österreichischen Autobahn stehen blieben, war es wieder eine leicht skurille und ulkig aussehende Dame, die den Bus während einer Panne rettete. Der Zweitfahrer hielt das Fahrzeug an und rannte raus, alle neugierigen Passagiere und besserwisserischen Herren, die “genau wissen, wo der Schaden liegt” ihm hinterher.
“Wir brauchen einen Nylon-Damenstrumpf, schnell!” Zwischen den vielen lärmigen Kindern und einem älteren Herren, der tatsächlich Stücke eines Spanferkels aus der Tasche zog und eine Tomate anschnitt, hob jemand die Hand. Die in Hausschuhen und Leopardenprint-Tunika gekleidete Passagierin zückte aus ihrer riesigen Reisetasche eine Dreierpackung Nylonstrümpfe. Damals war ich mit zwei nicht-balkanischen Freundinnen unterwegs nach Belgrad. “Reparieren sie den Karren jetzt echt mit einem Strumpf?”, fragte eine von ihnen. Ja, das taten sie. Uns war etwas unwohl bei dem Gedanken, in einem überfüllten und mit Nylonstoff reparierten Fahrzeug noch einige hundert Kilometer durch die Gegend zu rasen. Als wir die nächste Tankstelle unversehrt erreichten, mussten wir uns jedoch eingestehen, dass der anfangs auf uns doch sehr risikofreudig wirkende Fahrer tatsächlich etwas von seinem Fach verstand.
Auf dieser Reise kamen wir aber nicht weiter als zur serbischen Grenze. Wir hatten es mit folgendem Problem zu tun: Eine meiner Freundinnen besitzt einen ugandischen Pass. Den Blicken der Zöllner nach zu urteilen, war das etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatten – genau wie meine Freundin selbst. Schnell wurde sie zu einer kleinen Sensation. Keiner der verschwitzten Zollbeamten konnte seinen Blick von ihr wenden. Fehlt nur noch, dass sie sie fragen, ob sie ihre Haare anfassen dürfen, dachte ich genervt.
Der ugandische Pass stellte ein Problem für die Einreise dar, denn obwohl wir uns im Vorfeld erkundigten, verlangten die Beamten nun doch ein Visum.”In Budapest könnt ihr ein Visum beantragen.” Budapest? Ernsthaft? Wir standen schliesslich schon an der Grenze. Ich wollte den Zöllnern gekonnt, wie mein Vater früher, einen 100-Euro-Schein zustecken. Ohne die Summe des Schmiergeldes zu erwähnen, ihnen das Geld einfach ganz sachte zuschieben. Ich wurde übertrieben entsetzt angeschaut und bekam als Antwort: “So etwas machen wir hier nicht.” Das Geld behielten sie trotzdem und wir mussten unsere Habseligkeiten aus dem Bus holen. So endeten wir auf unseren Koffern sitzend im Niemandsland zwischen Ungarn und Serbien und warteten auf einen Reisecar, der wieder Richtung Westen fuhr.
Solche Erlebnisse machten jede einzelne Busreise in den Balkan zu einem kleinen Abenteuer. Nicht allzu turbulent, aber gerade spannend und teilweise nervenaufreibend genug, um als lustige Anekdote herzuhalten. Heute dürften die Kontrollen an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien wohl intensiver ausfallen, die Flüchtlingskrise zeigt ihre Spuren. Ich selbst erlebe das nicht mehr, heute fliege auch ich lieber in die Heimat meiner Eltern.