„An unseren Straßen klebt Blut“—Brasiliens erster offen schwuler Battle-Rapper im Interview

Die Randbezirke der brasilianischen 20-Millionenmetropole São Paulo sind kein Kindergarten. Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit prägen den Alltag der Bewohner. Ende der 1980er Jahre bekam die Kritik an den Verhältnissen eine Stimme: HipHop. Heute beherbergt die Stadt die größte und lebendigste Szene Südamerikas. Eines der spannendsten Talente der Megalopolis ist Rico Dalasam. Aufgewachsen in der sozialschwachen Peripherie hat es der 27-Jährige als erster offen schwuler Rapper Brasiliens geschafft sich in der HipHop-Szene zu behaupten. Seine Karriere begann Rico Dalasam bei Rap-Battles, nebenbei arbeitete er als Frisör und Modedesigner. Seine Outfits stellt er bis heute zusammen—beim Afropunk-Festival in New York wurde er als einziger Brasilianer für seinen Look ausgezeichnet. Rico Dalasam spielt mit Geschlechterrollen, nennt Prince und Little Richard als Vorbilder, sieht sich jedoch nicht als Vertreter einer hiesigen „Queer-Rap-Szene“. Im vergangenen Jahr spielte er über 100 Konzerte, darunter auch Shows in den USA und Großbritannien. Ein Gespräch über die Szene in Brasilien, Musik als Instrument für Veränderungen und schwulen Rap.

Noisey: Viele denken bei Rap-Battles an Eminems „8 Mile“. Erzähl uns ein bisschen über die Szene in São Paulo.
Rico Dalasam:
Das größte Battle der Stadt findet jeden Samstagabend am Ausgang der U-Bahnstation Santa Cruz statt. Du musst dich anmelden, dann wirst du einer Gruppe zugeteilt und bekommst einen Gegner. Beim Battle hast du 40 Sekunden Zeit, den Anderen fertig zu machen. Wenn du gewinnst, kommst du weiter. So geht das bis zum Finale. Auch Breakdance- und DJ-Battles finden hier statt.

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Woher kommen die MCs?
Die meisten Kids kommen aus der Peripherie, den armen und gewalttätigen Randbezirken der Stadt. Die U-Bahn Station ist eine Achse zwischen der Süd- und Nordzone. Viele gute Leute haben dort ihre Karrieren angefangen, wie zum Beispiel Emicida oder Rashid. Niemand hätte gedacht, dass die mal so groß rauskommen würden.

Wie konntest du dir den Respekt der anderen sichern?
Mit meinen Skills. Sie haben mich die Mauern der Homophobie und Unsichtbarkeit einreißen lassen. So war das am Anfang bei den Rap-Battles, später dann in der gesamten Szene. Ich habe bei den Battles auch schon über Liebe gerappt, halt zwischen zwei Typen. Aber das war nicht mein Fokus. Erst später habe ich mich klar positioniert.

Ich habe gehört, dass sich Rap in Brasilien über die Gefängnisse im ganzen Land verbreitet hat. Stimmt das?
Ja, das ist richtig. Als die Racionais MC’s, die immer noch die wichtigste Rap-Crew Brasiliens, Ende der 1980er Jahre ihre erste Platte herausgebracht haben, gab es kein Internet oder andere Möglichkeiten, Musik zu verbreiten. Deshalb spielen die Gefängnisinsassen eine extrem wichtige Rolle in der Geschichte des brasilianischen Raps. Wenn ein Gefangener von São Paulo nach Rio de Janeiro oder in den Nordosten verlegt wurde, nahm er die Musik der Racionais MC’s und andere Musiker der Stadt mit. So kam Rap nach ganz Brasilien. Dies war das Spotify dieser Epoche. In dieser Zeit ging es auch mit den Battles in São Paulo los, vor der São Bento Kirche in der Innenstadt. Man kann sagen, dass die Stadt die Wiege der HipHop-Kultur in Brasilien ist. Die meisten Sachen haben hier angefangen und sich dann im ganzen Land verbreitet. Heute gibt es überall HipHop, auch in den kleinsten Städten.

Welche Rolle spielen Gangs in der Szene?
In Brasilien hatte HipHop immer eher eine Schutzfunktion. Die Musik hat etliche Leute vom Verbrechen weggeholt. Die Verbindung zwischen Rap und Gangkultur war nie so offensichtlich wie in den USA, höchstens versteckt.

Du hast die Racionais MC’s angesprochen. Durch ihre sozialkritischen und aggressiven Texte sind ihre Lieder in den 90er Jahren zu Hymnen der armen, schwarzen Bevölkerung geworden. Mano Brown, Kopf der Gruppe, wurde damals als „wichtigster linker Intellektueller Brasiliens“ bezeichnet. Wie hat sich Rap in Brasilien im Laufe der Jahre verändert?
Für lange Zeit bedeutete Rap „Nein“ zu sagen. „Fickt euch, wir hassen euch!“ und „Kommt nicht in unsere Viertel, ihr seid hier nicht willkommen“ waren die Messages damals. Und in dieser Zeit war das nicht falsch. Rap war das einzige Medium, das die Schwarzen aus den Randbezirken hatten. Einige Leute hat dies zu Unrecht getroffen, aber es war keine größere Ungerechtigkeit als die, die wir jeden Tag erlebt haben. Und immer noch erleben.

Viel hat sich nicht verändert. Die Polizei mordet weiter und an den Straßen unser Viertel klebt immer noch Blut. Aber jetzt ist Rap mehr zum Dialog bereit und wir gehen an Orte, wo wir früher niemals hingegangen wären. Damals hat man keine Räume für Rap-Konzerte bekommen. Deshalb hat sich so viel auf der Straße abgespielt. Mittlerweile produzieren sogar bekannte brasilianische Produzenten Rap-Musik.

Würdest du also sagen, dass Rap im Mainstream angekommen ist?
Nein, nicht wirklich. Ich würde eher sagen, dass er einen Fuß in den Mainstream ausgestreckt hat. Mit Rap kannst du in Brasilien kein großes Geld machen, im Radio laufen allerhöchsten drei Musiker. Gelegentlich tritt ein Rapper im Fernsehen auf, aber immer nur zu einem bestimmten Anlass. Wenn über Rassismus oder die Randbezirke gesprochen wird, holen sie sich einen Rapper dazu. Währenddessen werden die weißen Künstler anderer Musikrichtungen aus dem richtigen Grund eingeladen: Wegen ihrer Musik.

Wenn man in den Vierteln der Peripherie von São Paulo unterwegs ist, ist Rap-Musik omnipräsent. Warum ist die HipHop-Kultur gerade dort so wichtig?
Im Fernsehen gibt uns nichts Stolz. Alles dort drängt uns in eine unterwürfige Position. Es gibt ein klares Bild von uns, nämlich das des Verbrechers. Im Zentrum halten die Leute ihre Taschen fest, wenn wir vorbeilaufen, für uns hält kein Taxi an. Schwarze gibt es dort kaum und wenn dann parken sie Autos, servieren Essen oder sammeln Müll. Rap-Musik gibt uns Stolz, es ist unsere Sache. Mit Cap und Baggie Pants rumzulaufen hat uns eine Identität gegeben.

Welche Vorbilder hattet ihr?
Mano Brown von den Racionais MC’s hat uns alle sehr beeindruckt. Aber auch Sabotage und Dina Di waren wichtige Bezugspunkte. Von den US-Rappern waren es vor allem Nas, Notorious BIG und Lauryn Hill. Wir haben keinen Zugang zu gutem Englisch, die Bewohner der Vorstädte erst Recht nicht. Trotzdem haben die Leute die Amirapper gehört und vor Rührung geheult – obwohl sie kein Wort verstanden haben. So war es auch bei mir. Ich habe diese Alben über Monate gehört und es hat mich emotional sehr berührt. Später hört man sich die Musik an und es ist, als hätte man immer gewusst worüber gerappt wird. Das ist die Macht des HipHops in unserem Leben.

Du bist der erste offen schwule Rapper Brasiliens. Wie waren die Reaktionen am Anfang deiner Karriere
Manchmal waren die Leute super offen und haben mich herzlich empfangen. An anderen Orten hat das Publikum noch nicht verstanden, was ich mache. Ich stand dann auf der Bühne, habe ein tanzbares Lied gespielt und die Leute haben mich mit einem Was-will-der-denn-hier?-Gesicht angeguckt. Ich glaube aber, dass von seinen Prinzipen her gerade in der HipHop-Kultur Platz für Künstler wie mich ist.

Hindert es dich manchmal auch „der“ schwule Rapper zu sein? Wirst du auf deine Homosexualität reduziert?
Am Anfang meiner Karriere hat sich die Presse darauf gestürzt, dass ich schwul bin und Rap mache. Ich verstecke mich ja auch nicht und sage den Leuten wer ich bin. Aber ich mache Rap wie alle anderen auch. Wer sich wirklich für mich interessiert, sieht mehr als nur das. Ich bin ein schwuler Rapper, ich mache keinen schwulen Rap.

Die meisten Rapper behandeln mit ihrer Musik die eigene Realität. In Brasilien dreht sich viel um Gewalt, Armut und Rassismus. Deine Texte sind positiver und fröhlicher, du rappst über Liebe. Warum?
Trotz allem bin ich Optimist. Die Leute sollen zu meiner Musik feiern. Aber man kann kein Rapper in Brasilien sein und nicht politisch sein. Ich übe Kritik, halt in einer anderen Form.

Glaubst du, dass es möglich ist, die Gesellschaft mit Musik zu verändern?
Ob man die Gesellschaft verändern kann weiß ich nicht, aber einige Leute schon.

Du vermischst verschiedene Musikstile. Neben brasilianischer Musik wie Baile-Funk, Samba und Axé hört man Einflüsse von Blues und 90er House-Musik. Wieso machst du keinen klassischen Rap?
So habe ich es einfach schon immer gemacht. Ich glaube, dass heute niemand etwas komplett Neues erschaffen wird. Die große Kunst ist es, Dinge zu kombinieren und ihnen eine neue Bedeutung zu geben. Und das versuche ich mit meiner Musik.

Einer deiner Songs heißt „Aceite-C“ (Akzeptier dich). Dein erstes Album, das im Mai erscheint, wird den Namen „Orgunga“ (Wortspiel aus schwarzer und schwuler Stolz) tragen. Siehst du deine Musik auch als Forderung, die eigene Identität zu akzeptieren?
Es ist immer schwierig etwas mit Musik zu fordern. Aber ich will den Leute sagen: Wartet nicht auf etwas von außen, um das zu sein, was ihr seid.

Niklas ist auch bei Twitter: @niklas_franzen

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