Vor einigen Wochen erschien auf Edition F ein Artikel, der landesweit für Aufsehen sorgte: Eine junge Wienerin, die heute in Berlin lebt und sich als Food-Bloggerin, Autorin und Botschafterin des veganen Lebensstils einen Namen gemacht hat, beginnt einen Text mit den Worten „Ich bin vergewaltigt worden”. Der Tathergang entspricht nicht den gängigen Mustern und ich ertappe mich bei dem ungeheuerlich ersten Gedanken, ihn aufgrund dessen als belanglos abzutun. Wie so oft ist ihre Geschichte dabei allerdings kein Einzelfall, denn nur kurze Zeit später stolpere ich über einen weiteren Text—dieses Mal auf dem Lifestyle-Blog Fafine. Die Autorin, die in dem Fall lieber anonym bleiben möchte, hat im Grunde fast dasselbe zu berichten—mit dem Unterschied, dass sie den Täter nicht nur flüchtig, sondern ziemlich gut kannte. Der Täter war ihr Ex-Freund.
Unbehagen macht sich breit. So allmählich dämmert mir, warum der erste Texte von Sophia einen solch’ unaussprechlichen und widerlichen Gedanken in mir hervorgerufen hat: Weil ich offenbar etwas verdrängt habe, das ihrer Geschichte sehr ähnlich ist. Etwas, das ich bis zum heutigen Zeitpunkt als „normal” empfunden habe, wenn auch zumindest so befremdlich „normal”, dass mein Unterbewusstsein offenbar alles daran gesetzt hat, es von meiner Festplatte zu löschen. Fehlanzeige, da war es wieder.
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Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich mich in der Situation der beiden anderen Mädchen (und mit ihnen wahrscheinlich noch unzähligen mehr) wiedergefunden habe. Mit dem Unterschied, dass da kein Alkohol im Spiel und der Mann keineswegs ein Fremder oder Verflossener war. Nein, er war mein Freund. Mehr noch—meine erste große Liebe! Fünf Jahre lang.
Soweit ich mich erinnern kann, hat das alles im zweiten Jahr angefangen. Mein Ex-Freund war regelrecht besessen von Sex, mir wurde erst später klar, dass wir diesbezüglich vielleicht nicht auf einer Wellenlänge waren. Aber was bedeutete das schon? Er war drei Jahre älter als ich und ich habe ihm vertraut, in jeglicher Hinsicht! Ich hingegen war Anfang 20 und, was das anging, noch immer auf der Suche, unschlüssig darüber, was richtig und was falsch ist, was mir gut tut, was nicht und wo meine Grenzen liegen. Sex war irgendwie kein leichtes Unterfangen für mich. Getan habe ich es trotzdem gerne, wenn ich in Stimmung war und wir uns Zeit gelassen haben. Natürlich kam es also vor, dass ich ihm abends zu verstehen gegeben habe, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Das war auch meistens kein großes Thema und bot maximal Anlass für eine kurze Diskussion.
Bis ich eines nachts das erste Mal wach geworden bin. Ich lag auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm, er hielt mich von hinten umarmt, seine Hand zwischen meinen Beinen, und stieß immer wieder fest zu. Es war dunkel und still, nur sein schwerer Atem war zu hören. Bis ich wirklich realisieren konnte, was da gerade passierte, war es vorbei. Er drehte sich tief seufzend vor Erleichterung auf die Seite, ohne mich weiter zu würdigen, und schlief ein. Ich aber blieb wach. Verwirrt. Mit vielen Fragen. Was war das? Warum hatte er nichts gesagt, mich nicht geweckt, mich geküsst? Hatte er überhaupt bemerkt, dass ich wach geworden bin? Zwischen meinen Schenkeln ergoss sich das zähflüssige Ergebnis seines nächtlichen Übergriffs. Ich wusste nicht, wo und wie ich das alles einzuordnen hatte.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob und wann ich eingeschlafen bin, aber ich habe mich offenbar schnell mit der Situation abgefunden. Er war ja schließlich mein Freund und Sex doch auch einfach sein Recht, oder? Und irgendwie hatte er mir damit doch gerade einfach nur bewiesen, dass er mir nah sein wollte? Ihn darauf anzusprechen oder ihn gar zur Rechenschaft zu ziehen—daran habe ich keine Sekunde gedacht.
Irgendwann gehörten die selbstquälende Fragerei der Vergangenheit und diese absurde und keineswegs einvernehmliche Form des Geschlechtsverkehrs zur Tagesordnung in unserer Beziehung. Mal lag ich breitbeinig auf dem Bauch, während er sich an mir „verging” (dieses Wort kommt mir ob seines Status’ „Erste große Liebe” immer noch schwer über die Lippen), mal auf der Seite. Wach wurde ich oft erst in den Momenten, als er fertig war (und ich frage mich heute auf einmal, wie oft ich eigentlich nicht wach wurde?). Warum das so war, weiß ich nicht. Auch war ich ihm nie zugewandt, ich lag dabei immer mit dem Rücken zu ihm und habe das zugegebenermaßen alles einfach passieren lassen. Regungslos.
Irgendwann habe ich ihn dann doch darauf angesprochen. Ob er das nicht seltsam fände, mit mir zu schlafen ohne, dass ich psychisch anwesend bin? Die Frage schien ihn zu überraschen, aber er hatte auf sie eine einfache Erklärung: „Warum, wenn du doch keine Lust hast, ich aber schon? Du musst ja gar nichts tun und so sind wir doch am Ende beide zufrieden.” Ich muss mich übergeben bei dem Gedanken daran. Damals habe ich es offenbar so hinnehmen können—zumindest waren wir danach noch zwei Jahre ein Paar. Heute empfinde ich diese kranke Antwort als pure Blasphemie und fühle mich unglaublich naiv und dumm, was ich ja eigentlich gar nicht bin! Noch mehr Wut kommt auf.
In den darauffolgenden Jahren sprach er immer wieder vom Kinderkriegen und Heiraten. Ein Leben zu zweit. Für immer. Ich schwieg. Ich fühlte schon lange nichts mehr, wenn wir einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hatten, war längst die Marionette, zu der er mich selbst gemacht hatte. Irgendwann, als er dann längere Zeit ohne mich im Ausland war, realisierte ich, dass das alles mit Liebe nichts zu tun haben kann. Als er zurückkam, habe ich mich getrennt. Knall auf Fall. Für ihn ist eine Welt zusammen gebrochen, für mich hat sich eine neue aufgetan.
Während ich also meine eigene Geschichte reflektiere und plötzlich ohne Boden unter den Füßen ganz allein bin mit einer Erkenntnis, die nichts als ein tiefes schwarzes Loch hinterlässt, wird mir klar, wie mutig Sophias Worte waren. Nicht nur der Aspekt, dass sie ihre Geschichte mit aller Welt geteilt, sondern—und noch viel wichtiger—, dass sie sie überhaupt als Unrecht erkannt hat. Das mag jetzt wirklich naiv klingen, aber wenn wir ehrlich sind, sieht in all unseren Köpfen ein klassischer Vergewaltigungshergang wahrscheinlich in etwa so aus: Junges Mädchen ist nachts alleine auf dem Heimweg, Typ lauert ihr auf, vergeht sich an ihr und entkommt. Auch ich habe bei Sophias Text als Erstes diesen einen irrsinnigen Gedanken. Spricht man denn hier wirklich von Vergewaltigung? Wenn sie doch freiwillig mit ihm nach Hause gegangen ist, er sich an ihr zu schaffen macht, während sie schläft, ja irgendwie gar keine körperliche Gewalt anwendet, sie zwar wach wird und hat ihn zur Rede stellt, aber am nächsten Morgen sogar noch mit ihm frühstückt, als wäre nichts passiert? Ab wann spricht man denn überhaupt von einer Vergewaltigung? Fällt auch meine ganz persönliche Geschichte wirklich unter diesen schweren Vorwurf? Wieder wird mir schlecht und schwarz vor Augen. Schwindel, Übelkeit, mein Herz rast. Ich versuche, meine Gedanken zusammen zu nehmen und meinen Anwalt anzurufen, erreiche ihn aber nicht. Gott sei Dank! Er kann doch unmöglich der Erste sein, mit dem ich darüber spreche! Stattdessen wähle ich die 0-3-0 für Berlin, dann die 2-1-6-8-8-8-8. Eine Hotline für vergewaltigte Frauen. Ohne meinen Namen nennen zu müssen, erzähle ich meine Geschichte und treffe sofort auf Zuspruch. Auf mein anfängliches Unverständnis folgt tiefe Trauer.
Das Schwierige an meiner neugewonnenen Erkenntnis ist nicht der Umstand selber, sondern dass ich bis eben gerade überwiegend positive Erinnerungen an diese Beziehung hatte und mich bis dato vielmehr gefragt habe, woran wir denn nun gescheitert sind. Heute—hier und jetzt—fast sechs Jahre später, stelle ich das plötzlich aufgrund der ungeheuerlichsten aller Vorwürfe in Frage. Ich fühle mich elend und hilflos. Ich weiß immer noch nicht, was und ob diese Geschichte wirklich etwas mit denen der beiden anderen Mädchen zu tun hat, und wie ich jetzt damit umgehen soll. Ihn anzeigen? Aber wer würde mir glauben? Was habe ich denn in der Hand? Stünde dann nicht Aussage gegen Aussage? Und warum würde ich erst jetzt damit ankommen, sechs Jahre danach? Diese Mutmaßungen bestätigt drei Tage später auch mein Anwalt. Von einer Anzeige rät er mir ab, zu aussichtslos! Auf die Frage, was ich jetzt tun soll, hat er keine rechte Antwort. „Vielleicht kontaktieren sie als erste Mal ihren ehemaligen Lebensgefährten und sprechen mit einem Psychologen”, schlägt er vor. Ich entscheide mich anders und vertraue mich meiner besten Freundin an. Sie hat mich auch dazu bewegt, diesen Text zu schreiben, damit ich nicht ganz hilflos dasitzen und das alles einfach so hinnehmen muss. Vor mir liegt noch ein langer Weg, das ist mir klar. Immerhin habe ich gerade erst realisiert, dass ich Opfer eines jahrelangen Missbrauchs geworden bin, das sitzt!
Und doch fragt sich der ein oder andere vielleicht, warum ich eine Geschichte aufschreibe, die bereits in zweierlei Ausführung durchs Netz gegangen ist und die ich für mich selber noch gar nicht verarbeitet habe? Ganz einfach: Weil es mich schockiert, wie unreflektiert ich doch war und noch immer bin—eine in meinen Augen ganz und gar aufgeklärte, starke, emanzipierte Frau. Wie sehr ich verdrängt habe und wie sehr ich selbst, auch jetzt, nachdem ich das alles gedanklich noch einmal durchgespielt habe, die Schuld meines Ex-Freundes in Frage stelle. Ich hätte ihn ja zur Rede stellen können! Hätte meine Sachen nehmen und gehen können! Habe ich mich mit meinem Schweigen nicht einvernehmlich gezeigt? Wo auch immer das alles einzuordnen ist, hiermit das Schweigen zu brechen, scheint mir im Moment der erste Schritt in die richtige Richtung—auch wenn ich noch nicht bereit bin, meinen Namen unter das Erlebte zu setzen. Muss ich aber vielleicht auch gar nicht, denn vielleicht hat diese traumatische Erfahrung zumindest zur Folge, dass ich damit andere Frauen wachrütteln kann, sich gegen sexuelle und häusliche Übergriffe zur Wehr zu setzen, auch wenn diese auf den ersten Blick ohne physische Gewalt auskommen. Oder um es noch einmal in Sophias Worten zu sagen: Nein heißt nein! Traut euch, das nicht nur zu denken, sondern es auch auszusprechen und viel wichtiger: danach zu handeln!
Wie es für mich weitergeht, bleibt abzuwarten. Mein Ex-Freund ist mittlerweile Papa eines kleinen Sohnes, wohnt nur 500 Meter Luftlinie von mir entfernt und wechselt laut Freunden die Straßenseite, wenn er mich sieht. Das hat mir bis jetzt ein Wiedersehen erspart. Doch es wird der Tag kommen, an dem wir uns begegnen. Noch bin ich nicht sicher, was ich dann tun werde. Wir haben seit drei Jahren keinen Kontakt—daran wird und soll sich nichts ändern. Einfach so davon kommen lassen, kann ich ihn aber auch nicht. Er soll zumindest verstehen, was er mir damit angetan hat. Wenn ich mit der Erkenntnis leben muss, dann soll er es auch! Ich frage mich, ob ihm überhaupt bewusst ist, was er da getan hat? Ob er weiß, dass das falsch war? Ich schreibe der mir noch einzigen bekannten gemeinsamen Freundin und bitte um seine Telefonnummer, nur für den Fall, dass ich mich früher bereit fühle, ihn zu konfrontieren, und dieses Gespräch nicht dem Schicksal überlassen muss. Dann greife ich zum Telefon und wähle wie von selbst eine mir vertraute Nummer. Es klingelt. Am anderen Ende antwortet eine Männerstimme. „Hast du gerade eine Minute?”, frage ich—auch wenn mir klar ist, dass es damit nicht getan sein wird. Die Männerstimme ist mein neuer Freund. Es wird Zeit, die Leichen im Keller zu verbrennen und aufzuräumen, nicht wahr?
Wenn dir Ähnliches passiert ist—du sexuell genötigt, belästigst oder vergewaltigt worden bist—scheue dich nicht, dich jemandem anzuvertrauen. Hier findest du nähere Informationen zu verschiedenen lokalen Beratungsstellen und hilfreiche Tipps zu den nächsten Schritten und deinen Möglichkeiten. Erste Hilfe bekommst du rund um die Uhr unter dieser Nummer: 01-71 71 9
Titelfoto: Flickr | Theater Ensemble Würzburg | CC BY-SA 2.0