Daniela erinnert sich daran, wie ihre Entführer mit ihr durch die nordmexikanische Wüste fuhren. Sie hatten ihr die Augen verbunden. Sie würde sterben; davon war sie überzeugt. Man befahl ihr, aus dem Van zu steigen, ihre Augenbinde abzunehmen und ihren bewaffneten Kidnappern in den Keller eines großen Hauses zu folgen. Dort zwang man sie zuzusehen. Sie versuchte, sich geistig abzuschotten.
Es funktionierte nicht. Sie erinnert sich noch immer genau: etwa fünf junge Frauen, an Säulen gefesselt, und um sie herum lauter Männer, die viel Geld dafür gezahlt hatten, sie nicht nur zu vergewaltigen, sondern sie auch zu foltern und vielleicht zu töten.
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Daniela ist nicht ihr echter Name. Sie besteht auf ein Pseudonym, denn sie mag vielleicht entkommen sein, doch der Arm ihrer ehemaligen Peiniger ist lang. Was sie an jenem Tag mit ansehen musste, war nur eine von zahllosen grauenerregenden Erfahrungen, die sie in sieben Jahren der Gefangenschaft erlitten hat. Erst war sie in der Gewalt von Los Zetas und anschließend in der des Golf-Kartells. Letztes Jahr gelang ihr die Flucht und Rückkehr zu ihrer Familie in Nicaragua, wo der Albtraum seinen Anfang genommen hatte.
“Ich habe viele Menschen sterben sehen, auf schreckliche Arten”, sagt sie. Daniela sitzt in einem Café in Mexico City, vor ihr stehen heiße Schokolade und Pizza. “Ich möchte darüber sprechen, weil die Menschen erfahren müssen, was an der [US-mexikanischen] Grenze mit den Mädchen passiert, die verschwinden, und mit vielen Mädchen, die in den Narco-Gebieten prostituiert sind.”
Das Büro der Generalstaatsanwältin von Mexiko ermittelt inzwischen in Danielas Fall, doch wenn sie darauf gewartet hätte, dass die Regierung sie befreit, wäre sie mit größter Wahrscheinlichkeit heute noch immer versklavt.
“Ich möchte darüber sprechen, weil die Menschen erfahren müssen, was an der [US-mexikanischen] Grenze mit den Mädchen passiert, die verschwinden.”
Laut Zahlen der mexikanischen Regierung waren in dem Land zum Ende letzten Jahres 20.203 Männer und 7.435 Frauen als “vermisst oder verschwunden” eingestuft. Das sind etwa so viele wie zum Amtsantritt von Präsident Enrique Peña Nieto im Dezember 2012. Er hatte damals versprochen, mehr zu unternehmen, um den Gräueltaten der Drogenkartelle gegen ihre Entführungsopfer ein Ende zu setzen. Nachdem im September 2014 in der südmexikanischen Stadt Iguala 43 Lehramtsstudenten verschwanden, hagelte es im In- und Ausland Kritik und Empörung, woraufhin Peña Nietos Regierung ihre Versprechungen verstärkte.
Menschenrechtsgruppen in Mexiko und anderen Ländern kritisieren die Behörden immer wieder aufs Schärfste für ihre Untätigkeit. Diese Woche haben 68 Kongressabgeordnete der Vereinigten Staaten einen Brief an Außenminister John Kerry unterzeichnet, in dem es um “die anhaltende Menschenrechtskrise in Mexiko” geht. In der ersten Zeile erwähnt der Brief die Verschwundenen des Landes.
Jene, die verschwinden, kommen selten wieder, um ihre Geschichte zu erzählen. Die Kartelle entführen aus unterschiedlichen Gründen Menschen, doch viele ihrer Opfer wählen sie für die sexuelle Sklaverei aus. Die Geschichte von Danielas Überleben ist so außergewöhnlich, wie sie bestürzend ist.
Daniela sagt, sie selbst sei schockiert gewesen, als sie erfahren habe, dass ihr Martyrium sieben Jahre gedauert hat. Sie hatte etwa vier oder fünf Jahre geschätzt, doch ihre Entführer hatten ihr Zeitgefühl absichtlich verwirrt.
“Manchmal fand ich durch einen Kunden heraus, welchen Monat oder welches Jahr wir hatten, weil es im Gespräch vorkam. Aber wenn sie hörten, dass ich [den Freiern] eine Frage stellte, schlugen sie mich brutal zusammen”, erinnert sie sich. “Es gab kein Radio, kein Fernsehen, keine Zeitungen, nichts. Ich schlief in einem ihrer Häuser, sie brachten mich zu den Kunden, um widerliche Dinge zu tun, nahmen das Geld und brachten mich zum Schlafen wieder ins Haus.”
Alles begann ihrer Heimatstadt, als Daniela 22 war. Sie kämpfte mit ihrem Lohn als Näherin in einer Fabrik täglich darum, ihre Kinder und ihre Mutter zu ernähren.
Es war April 2008 und in Nicaragua gab es relativ wenig von der furchtbaren Gewalt, die bereits Teile von Mexiko und andere zentralamerikanische Nachbarstaaten durchzog. Daniela hatte keinen offensichtlichen Grund, misstrauisch zu sein, als man sie zu einem Meeting einlud, bei dem man angeblich ihre Kreditwürdigkeit ermitteln wollte.
Das Kartell entführte alle 15 jungen Frauen, die zu dem Treffen nahe der honduranischen Grenze erschienen.
Bewaffnete Männer nahmen ihnen die Identitätspapiere und zogen ihnen saubere Jeans, T-Shirts und weiße Baseball-Caps an. Sie drohten damit, die Familien der Frauen zu ermorden, wenn sie nicht allen Befehlen genau gehorchten. Sie fuhren mit ihnen durch Grenzkontrollen nach Honduras und dann weiter nach Guatemala, Belize und schließlich Mexiko.
Am zweiten Tag der Reise hielten sie in der Stadt Comitán im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Dort zwang man sie in ein dunkles, dreckiges Bordell. Daniela sagt, die Männer hätten die Frauen geschlagen, wann immer ihre Unerfahrenheit bemerkbar wurde. Zwei Wochen später fuhr die Gruppe weiter nach Norden. Daniela war die Letzte, die ihren neuen Sklavenhaltern übergeben wurde, in Nuevo Laredo im Staat Tamaulipas. Die Stadt liegt direkt an der Grenze zu Texas. Erst hier erfuhr sie, dass sie sich in der Gewalt der Zetas befand.
In den 1990ern engagierte das Golf-Kartell eine Gruppe von desertierten Elitesoldaten, um seinen damaligen Anführer, Osiel Cárdenas Guillén, zu beschützen. 1999 gründeten die Ex-Soldaten ihr eigenes Kartell, Los Zetas. Zu dem Zeitpunkt, als sie Daniela entführten, waren sie bereits bekannt als eine kriminelle Organisation, die brutal ihre Feinde aus dem Weg räumte und Macht über die Menschen in ihren Hochburgen ausübte, allen voran Tamaulipas.
Zu keinem Zeitpunkt des Gesprächs wirkt Daniela so erschüttert, wie als sie von dem Jungen erzählt, der für sie wie ein kleiner Bruder wurde. Er war erst 12 Jahre alt, als sie sich in dem Stripclub Danash in Nuevo Laredo begegneten, wo das Kartell sie beide in die Prostitution zwang. Der Gedanke an ihn bringt Daniela zum Schluchzen.
Daniela musste für die Kunden tanzen, mit ihnen trinken und Drogen nehmen und jede Nacht mindestens sechs “sexuelle Dienstleistungen” ausführen. Der Junge räumte Tische ab, machte Botengänge, stand Schmiere, legte Musik auf und wurde ebenfalls an die Freier verkauft. Viele von ihnen waren amerikanische Touristen, die Kinder sexuell missbrauchen wollten.
“Ich habe viele Menschen sterben sehen, auf schreckliche Arten.”
Daniela und ihr kleiner Bruder schafften es gelegentlich, sich zu unterhalten, wenn die Entführer gerade nicht hinsahen. Sie fantasierten vom Leben in Freiheit. Sie halfen einander beim Überleben.
Als der Junge so schlimme Verdauungsprobleme bekam, dass er der Zwangsarbeit nicht mehr nachgehen konnte, brachten bewaffnete Kartellmitglieder sie in die Hügel außerhalb der Stadt.
Dort gaben sie Daniela eine Pistole und befahlen ihr, den Jungen zu töten. Als sie sich weigerte, gaben sie dem Teenager die Waffe und befahlen ihm, Daniela zu töten. Als auch er sich weigerte zu feuern, hängten sie ihn an einem Baum auf und fingen an, ihn mit Messern zu schneiden. Schließlich ermordeten sie ihn.
“Ich hörte nie wieder ein Wort über ihn”, sagt sie.
Später erfuhr Daniela, dass der Mordbefehl ein Test gewesen war, um festzustellen, ob man sie von einer Zwangsprostituierten in eine sicaria, eine Auftragsmörderin, verwandeln konnte. Als den Männern klar wurde, dass sie nicht das Zeug dazu hatte, machten sie Daniela stattdessen zur Drogenkurierin. Diese Vorgehensweise ist bereits bekannt: Die Kartelle zwingen Menschen, die sie zur sexuellen Ausbeutung entführt haben, in andere kriminelle Arbeit, wenn sie älter werden und ihre Prostitution weniger Geld einbringt.
Daniela sagt, ihr neuer Job habe sie mit polizeibekannten Kartellanführern in Kontakt gebracht, darunter Z-40 (Miguel Treviño Morales), Metro3 (Samuel Flores Borrego) und Catracho (Rubén Darío Venegas).
Außerdem begegnete sie einem Zeta, der unter dem Namen La Ardilla (Salvador Alfonso Martínez Escobedo) bekannt ist. Sie sagt, sie sei in seiner Gegenwart gewesen, als er im August 2010 das Massaker an 72 zentralamerikanischen Migranten anordnete. Später sagte sie den Behörden, er habe sie ermorden lassen, weil er sie für Verstärkungstrupps seiner Feinde gehalten habe.
Das Massaker geschah, als die Zetas und das Golf-Kartell nach ihrer Spaltung Anfang 2010 einen ausgewachsenen Krieg führten. Dazu gehörten große Gefechte mit Konvois von Dutzenden Fahrzeugen voll schwer bewaffneter Männer.
Daniela erlebte den Anfang des Kriegs als die persönliche Sklavin eines Zeta-Anführers mit dem Spitznamen El Viejón (José Lorenzo Hernández García). Als er beschloss, zum Golf-Kartell überzulaufen, nahm er sie mit.
“Ich dachte: ‘Ich bin doch sowieso schon tot, also lasse ich sie laufen.’”
Da sie als persönlicher Besitz eines Kartellbosses galt, setzten sie Daniela einen GPS-Chip in den Fuß. Allerdings befreite diese Tatsache sie nicht vom sexuellen Missbrauch durch Freier. Tatsächlich wurden die Bedingungen in dem Bordell, in dem sie “arbeiten” musste, nur noch schlimmer, als das Golf-Kartell sie in seiner Gewalt hatte, obwohl Los Zetas als die blutrünstigere Organisation gilt.
Daniela sagt, ihre neuen Bosse hätten die Freier gefilmt, sobald sie die Bar betraten. In den Zimmern waren versteckte Mikrofone und Kameras.
Die Männer zeigten den Frauen Videos von der Folter und Ermordung derer, die bei einem Fluchtversuch erwischt wurden. Entführungsopfer, die drogenabhängig wurden, ließen die Männer des Kartells ebenfalls verschwinden. Dann gab es die Opfer der Freier, die dafür bezahlten, Frauen zu foltern und sogar zu töten. Daniela wurde nach etwa der Hälfte ihrer Entführung in einem Keller Zeugin solcher Morde. Sie sagt, ihre Peiniger hätten ihr einmal ein Video gezeigt, in dem Kartellmitglieder Leichenteile an einen Löwen verfütterten, den sie in einem Haus in der Stadt Reynosa hielten.
Zwar bemühte sich Daniela, so gut sie konnte, nichts zu tun, das Strafe nach sich gezogen hätte, doch als man sie einmal bat, ein entführtes Paar zu bewachen, sah sie wissentlich dem Tod ins Auge.
“Es war das erste Mal, dass sie mich aufforderten, jemanden zu bewachen, und die beiden sahen so traurig aus”, erinnert sie sich. “Ich dachte: ‘Ich bin doch sowieso schon tot, also lasse ich sie laufen.’ Das habe ich gemacht, und sie konnten sich verstecken.”
Sie sagt, nach diesem Akt der Rebellion hätten die Entführer sie brutal zusammengeschlagen. Daraufhin fuhren sie mit ihr aufs Land, wo El Viejón sich in einen Traktor setzte und damit drohte, sie zu überfahren. Doch er überlegte es sich anders. Stattdessen musste sie sich hinknien und die Männer des Kartells missbrauchten sie stundenlang. Danach sperrten sie sie in einen Van, bis sie beinahe verhungert und verdurstet war.
Daraufhin brachten sie Daniela wieder zurück ins Bordell, wo die Freier sie weiter quälten.
Laut den jüngsten Regierungsberichten von 2014 über Menschenhandel zum Zweck der Zwangsprostitution in Mexiko gibt es 47 bekannte kriminelle Organisationen, die sich an dem Geschäft beteiligen. Ihre Anführer leben in Zentralamerika, Mexiko und den USA. Sie betreiben unter anderem Discos und Bars in der Nähe der US-Grenze.
Daniela ist sich nicht sicher, ob die Freier sich darüber im Klaren waren, dass sie eine Sklavin war, doch sie glaubt, manche müssten zumindest den Verdacht gehabt haben. Sie sagt, die Männer hätten trotz der schummrigen Beleuchtung in den Kabinen manchmal ihre blauen Flecken bemerkt, doch sie hätten jedes Mal weggesehen. Um Hilfe zu bitten, sei nicht infrage gekommen, doch sie habe manchmal versucht, allein mit Blicken ihre Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen.
Daniela will nicht verraten, wie sie schließlich entkommen konnte, den Chip aus ihrem Fuß entfernte und in Sicherheit gelangte. Jemand habe sein oder ihr Leben riskiert, um ihr zu helfen; mehr will sie nicht sagen. “Die Person hat mich dort weggebracht und meine Fahrt nach Mexiko City bezahlt. Wenn ich mehr verrate, werden sie diese Person umbringen und das könnte ich mir nie im Leben verzeihen.”
Sie hat guten Grund, um das Leben ihres Retters oder ihrer Retterin zu fürchten. In Tamaulipas wütet ungebremst die Kartellgewalt, obwohl der Golf-Zetas-Krieg offiziell zu Ende ist. Stattdessen bekämpfen einander nun diverse Fraktionen der beiden Kartelle.
Daniela will auch nicht darüber sprechen, wie sie letztendlich dazu kam, bei der Bundespolizei in Mexiko City auszusagen. Anfangs habe man sie nach Nicaragua zurückgeschickt, doch dann habe sie eine mexikanische NGO, die sich gegen Zwangsprostitution einsetzt, kontaktiert und man habe ihren Fall wieder aufgerollt.
Die Aktivistinnen überredeten sie, einen Sonderermittler für sexuelle Gewalt zu kontaktieren. Sie hofft, dass die Ermittlungen zu Rettungseinsätzen für die vielen Frauen führen werden, die sich noch immer in der Gewalt der Kartelle befinden.
Daniela erzählt, ihre Familie habe sie nach ihrem Verschwinden in Nicaragua als vermisst gemeldet. Sie kontaktierten auch Fernsehsender und hängten Plakate auf. Dann gaben sie auf; sie mussten davon ausgehen, dass Daniela tot war. Wie die meisten Menschen aus Zentralamerika, die in Mexiko verschwinden, hätte man sie nicht einmal in die mexikanische Kartei der 28.000 Vermissten aufgenommen.
Daniela erinnert sich noch lebhaft an die Fassungslosigkeit ihrer Mutter, als sie von einem Polizeirevier in Mexiko City zu Hause anrief. Erst, als Daniela das zu lange Kleid erwähnte, das ihre Mutter ihr zum 15. Geburtstag genäht hatte, fing sie an, ihrer Tochter zu glauben.
“Mein Kind, du lebst”, schluchzte sie, als sie es endlich glauben konnte.
“Ja, ich bin hier, Mamá. Ich bin hier.”