So antisemitisch ist Deutschland

Fragt ein Jude auf einem deutschen Bahnsteig einen anderen Reisenden: „Verzeihen Sie, sind Sie Antisemit?” Der antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Selbstverständlich nicht!” Der Jude geht zum nächsten Wartenden und wiederholt seine Frage, worauf er die Antwort „Ganz im Gegenteil, ich bin ein aufrichtiger Freund des Judentums” bekommt. Der Jude zieht weiter zur nächsten Person, um seine Frage zu stellen. Der Gefragte mustert den Juden von Kopf bis Fuß, um dann ruhig, aber bestimmt zu sagen: „Durchaus.” Sagt der Jude: „Ah, endlich! Könnten Sie auf meine Tasche aufpassen? Sie sind die einzige ehrliche Person im ganzen Bahnhof!”

Der Witz ist nicht der größte Schenkelklopfer. Für diese recht einfache und bittere Pointe ist er außerdem ein bisschen zu lang. Aber er will auf etwas aufmerksam machen: Antisemitismus ist noch immer in Deutschland präsent, in beträchtlichem Ausmaß. Klar, niemand will sich so richtig dazu bekennen, Antisemit zu sein, das ist irgendwann vor rund 70 Jahren abrupt nicht mehr so sexy gewesen wie davor. Der Witz—und vielmehr der damit verbundene Hinweis—ist deshalb so wichtig, weil der Antisemitismus in Deutschland immer wieder für tot erklärt wird und in Vergessenheit gerät—bis wieder eine intensivere Phase kommt. Wenn sich mehrere antisemitische Ereignisse häufen, gibt man sich gerne erschreckt. Seit fast drei Jahrzehnten spricht man dann in unregelmäßigen Abständen vom „Neuen Antisemitismus”, der so neu gar nicht ist, sondern, wenn man so will: Traditionspflege, im denkbar negativsten Sinne. Doch wenn Antisemitismus wieder weniger wahrnehmbar ist, wird oft wieder vergessen, wie antisemitisch die Gesellschaft noch heute ist.

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Es ist allerdings nicht so leicht, das Ausmaß des real existierenden Antisemitismus in Deutschland (oder sonstwo) darzustellen oder zu erfassen. Es handelt sich beim Antisemitismus nämlich um eine Ideologie mit vielfältigen Ausprägungen. Sie beschränkt sich nicht auf Neonazis, sondern man findet sie genauso im linken Milieu, in der „Mitte der Gesellschaft” sowie mit islamischer oder christlicher Konnotation. Es gibt wissenschaftliche Studien, die versuchen, das Ausmaß in Zahlen zu fassen. Die häufigste Methode ist dabei die klassische soziologische Umfrageforschung: Eine Stichprobe der Gesellschaft wird mit verschiedenen Aussagen konfrontiert, die sie bejahen, verneinen oder Teils-Teils (also irgendwo in der Mitte) beantworten können. Ein Beispiel für so eine wissenschaftliche Betrachtung ist die sogenannte „Mittestudie“, die seit 2002 alle zwei Jahre versucht, die Einstellungen in der Gesellschaft zu Themen wie Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus, Sozialdarwinismus oder eben Antisemitismus zu messen.

Die jüngste Mittestudie beruht auf der Umfrage, die Anfang 2014, also vor dem jüngsten Gaza-Krieg und den darauf folgenden Demonstrationen in Deutschland, bei denen etwa Parolen wie „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf’ allein” oder „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!” gerufen wurden—und Polizei und Staatsanwaltschaft in aller Regel keine Volksverhetzung darin erkennen wollten. Ganze 38,8 % stimmten der Aussage „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns.” überwiegend, teilweise oder voll und ganz zu. Die Aussage „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß” schaffte es auf 44,3%.

Eine weltweite Studie der Anti-Defamation League mit über 50.000 Befragten ging 2014 davon aus, dass 27% der deutschen Erwachsenen antisemitische Vorurteile hegen. Der Wert setzt sich aus elf verschiedenen Aussagen zusammen, die von den Befragten mit „wahrscheinlich wahr” oder „wahrscheinlich nicht wahr” bewertet werden sollten. Die Aussage „Juden haben zu viel Macht in der Business-Welt” hielten beispielsweise 33% für vermutlich richtig. Das Gerücht über den reichen Juden ist also so aktuell wie eh und je.

52% halten es für wahrscheinlich richtig, dass die Juden zu viel über die Shoah sprechen. Ob das andersrum wohl auch so ist? Wohl kaum.

Jedoch bringen Umfrageforschungen viele methodische Probleme mit sich. Zum Beispiel geht man davon aus, dass Leute in Umfragen, selbst wenn diese anonym sind, ungern sozial nicht-akzeptierte Aussagen zustimmen—die Dunkelziffer könnte also auch höher sein. Außerdem ist die Umfrageforschung sehr starr und kann nur mit vorgegebenen Aussagen arbeiten. Antisemitismus ist jedoch keine starre, sondern eine sehr lebendige Ideologie, die sich als sehr wandelbar herausgestellt hat. So werden etwa die ewiggleichen Ressentiments gegen die Juden immer neu formuliert und in den jeweiligen Zeitgeist integriert. Auch andere Zahlen, die zu Antisemitismus vorliegen, bringen Schwierigkeiten mit sich. Das gilt etwa für antisemitische Straftaten. 2014 wurden 864 Fälle aktenkundig, denen elf Festnahmen gegenüberstehen. Jedoch muss auch diese Zahl stark angezweifelt werden, denn: Nicht jede Straftat wird angezeigt. Es gibt täglich Dutzende, wenn nicht Hunderte antisemitische Kommentare in den sozialen Medien, die zweifelsohne als Volksverhetzung (§130 StGB) eingestuft werden können. Mit dem Anzeigen kommt niemand hinterher, mittlerweile setzt man darauf, diese Kommentare von Facebook und Co. löschen zu lassen, was eher mäßig bis gar nicht funktioniert, um das mal wohlwollend zu formulieren.

Wenn man der Frage nachgehen will, wie antisemitisch Deutschland im 70. Jahr der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz war, können solche Zahlen einen Eindruck vermitteln (aktuelle für 2015 liegen noch nicht abschließend vor), sind aber allesamt mit Vorsicht zu genießen. Um eine konkrete Vorstellung vom Antisemitismus 2015 zu machen, haben wir euch hier einen Jahresrückblick auf besonders bemerkenswerte oder exemplarische Ereignisse im gerade ausgehenden Jahr zusammengestellt, der die Vielfalt der Ideologie illustrieren soll.

Januar

Das Jahr begann nicht gut. Wobei, „nicht gut” eine Untertreibung ist. Das Jahr begann barbarisch: Am 7. Januar stürmten zwei islamistische Terroristen die Redaktionsräume der französischen Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo und ermordeten vor Ort elf Personen. Nur zwei Tage später gab es eine islamistische Geiselnahme in dem Supermarkt für koschere Lebensmittel Hypes Cacher im Pariser Osten. Vier Juden wurden dabei ermordet. Der Täter gab an, die Geiselnahme stehe in Verbindung mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo. Das allein ist grausam genug, doch die Rezeption in Deutschland setzt dem noch ein fettes I-Tüpfelchen auf. Der Vorfall im Supermarkt fand in Deutschland verhältnismäßig wenig Beachtung. Für die verschwörungsideologische Szene stand sofort fest, wer die wahren Drahtzieher hinter den Anschlägen waren: Die Juden selbst. Natürlich sagt man das nicht direkt, sondern benutzt Codes, die für die Eingeweihten aber genau das bedeuten. Israel, alle Juden, der Mossad und die Banken. In der Welt der Verschwörungstheoretiker ist das alles das gleiche. Wie schon beim Anschlag vom 11. September 2001 deutete man den Anschlag als Inside-Job. Ken Jebsen sprach von „Inszeniertem Terror”, und faselte irgendetwas von amerikanischen Banken. Die Facebook-Seite Anonymous.Kollektiv ließ wissen: „Würde man uns nach unserer persönlichen Einschätzung befragen, würden wir ohne mit der Wimper zu zucken auf ein Joint-Venture, sprich ein Gemeinschaftsunternehmen, von CIA und Mossad tippen.” Hier zeigt sich deutlich, wie sehr Verschwörungsmythen mit antisemitischer Ideologie korrespondieren.

Außerdem im Januar: Am 27. Januar war der 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz durch die rote Armee. Dazu gab es einen viralen Kommentar von Anja Reschke in der Tagesschau, in dem sie sich gegen den Ruf nach einem Schlussstrich unter den Nationalsozialismus ausspricht. VICE hat die Online-Kommentare zu diesem Statement nach Dummheit sortiert (Spoiler: Sie waren sehr dumm. Oder, streicht das, antisemitisch und geschichtsrevisitionistisch trifft’s auch).

Februar

Nicht jede Kritik an Israel ist gleich antisemitisch. Man wird ja wohl noch Gotteshäuser anstecken dürfen?

Das Amtsgericht Wuppertal verhandelte im Februar einen Fall, bei dem es darum ging, dass drei Palästinenser 2014 (nicht 1938) Brandsätze auf die Wuppertaler Synagoge geworfen hatten. Die Täter gaben an, dass sie mit der Tat auf den Gaza-Krieg hinweisen wollten. Das Gericht fand diese Erklärung offenbar nachvollziehbar, denn es verkündete, dass der Brandanschlag auf das jüdische Gotteshaus nicht antisemitisch gewesen sei, sondern: Israelkritik. Es gab Bewährungsstrafen und Sozialstunden, denn derlei „Israelkritik” ist etwas vollkommen anderes als etwa versuchter Judenmord durch Feuer. Und was eine Synagoge in Wuppertal mit Israel zu tun hat, konnte auch niemand erklären.

Außerdem im Februar: Am 14. und 15. Februar kam es zu zwei islamistischen Terroranschlägen in Kopenhagen. Der erste Anschlag galt einer Diskussionsveranstaltung zum Thema „Kunst, Gotteslästerung und Meinungsfreiheit”, dabei wurde der Dokumentarfilmer Finn Nørgaard ermordet. Das Ziel am Folgetag—der Täter war der gleiche—war die Synagoge in der Krystalgade. Ein jüdischer Wachmann, der eine Bar-Mitzwa-Feier beschützte, wurde erschossen. Und, genau wie im Januar, wussten direkt irgendwelche Verschwörungsdeppen wieder, dass eigentlich die Juden hinter allem stecken. So witterte das Portal politaia.org, das dem glühenden Querfront-Aktivisten Jürgen Elsässer nahesteht, niemand Geringeren als „Bibi [gemeint: Benjamin Netanjahu] und seiner Bande von Gladio-B-False-Flag-Terroristen” persönlich hinter den Anschlägen.

März

Antisemiten lassen Juden keine Ruhe, nicht mal, wenn sie tot sind. Der ehemalige jüdische Friedhof an der Darmstädter Straße in Steinheim bei Offenbach wurde im März mit Hakenkreuzen beschmiert. Schon zwei Wochen zuvor war der gleiche Friedhof Ziel eines solchen Anschlags. Jedes Jahr gibt es Friedhofsschändungen von jüdischen Friedhöfen im zweistelligen Bereich.

Außerdem im März: Anonymous-Aktivisten kündigten einen „elektronischen Holocaust” gegen israelische Websites an. Damit dürften sie ganz auf einer Linie mit der deutschen Facebook-Seite Anonymous.Kollektiv sein. Im Ernst, Holocaust?

April

In Berlin trafen sich mehrere tausend Hamas-Sympathisanten bei einer großen Konferenz. Die Hamas, die Terrororganisation, die für rund 15.000 Raketen auf jüdische Zivilisten in Israel verantwortlich ist, begründet in ihrer Charta (so ähnlich wie ein Grundsatzprogramm) diese Aktionen so: „Die Zeit wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten; bevor sich nicht die Juden hinter Felsen und Bäumen verstecken, welche ausrufen: Oh Muslim! Da ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt; komm und töte ihn!” Die Konferenz nutzte Symbolik, die keinen Zweifel daran lies, wie sie sich den Nahen Osten vorstellen: judenrein. Im offiziellen Logo wurde Israel einfach von der Landkarte gestrichen.

Außerdem im April: Am 20. April, dem Geburtstag von Adolf Hitler, wurde ein junger Mann zum wiederholten Mal in Bonn von einer Gruppe von Jugendlichen antisemitisch beleidigt und zudem bedroht. Als der Mann den Bonner Hauptbahnhof verließ und in Richtung Busbahnhof ging, stürmten zwei Jungen, die seine Kippa bemerkten, auf ihn los und brüllten: „Ey du Drecksjude!” Der Mann flüchtete in einen Imbissladen, wo die Jugendlichen ihn noch etwa zehn Minuten belagerten. Derartige Ereignisse sind kein Einzelfall, im Gegenteil.

Mai

Der Reichstagssturm vom 9. Mai

Im Mai, genauer gesagt am 9. Mai, dem Tag, an dem nach sowjetischer Zeitrechnung der Zweite Weltkrieg gewonnen wurde, wollte ein Bündnis aus Neonazis, Hooligans, Reichsideologen, Friedensaktivisten der Montagsmahnwachen und anderen eher unappetitlichen Gruppen aus dem Querfront-Spektrum den Reichstag stürmen und die Macht im Land übernehmen. Statt 50.000 angemeldeten nationalen Revolutionären kamen dann jedoch nur 350 Splittergruppenangehörige, die sich mit ihren Verschwörungsmythen und wahnwitzigen Welterklärungsmustern gegenseitig überboten. Geeint war man durch das Gefühl, dass nicht die Deutschen, sondern „die da oben”, respektive Zionisten, respektive Juden, das sagen hätten. Parolen wie „Israel ist unser Feind” waren noch vergleichsweise harmlos, da eine Rednerin einfach direkt aus dem 25-Punkte-Programm der NSDAP zitierte, als sie von der „Brechung der Zinsknechtschaft” schwadronierte.

Außerdem im Mai: Eine neue Kriminalstatistik legte offen, dass die Zahl antisemitischer Übergriffe in Deutschland innerhalb eines Jahres um 25 Prozent gestiegen ist. Und das ist ohne Dunkelziffer gerechnet. Mittlerweile kritisiert die europäische Fundamental Rights Agency (FRA), dass antisemitische Straftaten aus verschiedenen Gründen entweder gar nicht oder nur unzureichend durch staatliche Stellen dokumentiert würden.

Juni

Am Rande des Kirchentages nahmen die drei Bundestagsabgeordneten Rainer Arnold (SPD), Annette Groth (Linke) und Uwe Kekeritz (Grüne) an der Podiumsdiskussion „Das Schweigen in der Politik brechen” teil. Die Veranstalter werben für Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsmaßnahmen (BDS) gegen Israel. Eine jüdische Organisation, das American-Jewish-Comitee Berlin, wertete im Vorfeld die Teilnahme der Abgeordneten an dieser Veranstaltung als „gefährliches politisches Zeichen“. Keksritz verglich auf dem Podium die israelische Grenze mit der Berliner Mauer und urteilte: Die Berliner Mauer war im Vergleich nur ein Spielzeug. Erst als Journalisten ihn damit konfrontierten, dass er die einzige Demokratie im Nahen Osten noch unter die DDR-Diktatur gestellt hatte, ruderte er zurück.

Außerdem im Juni: In Bonn wurde das Fahrrad eines Mitgliedes der Jüdischen Gemeinde zerstört und mit einem Hakenkreuz am Sattel versehen zurückgelassen. Vier Tage zuvor wurde ebenfalls in Bonn eine Brücke mit „Nieder mit dem Judenpack” und „Seit stark gegen Zionisten!” beschmiert.

Juli

Vom 27. Juli bis zum 5. August 2015 fanden die 14. European Maccabi Games (die größte jüdische Sportveranstaltung Europas) in Berlin statt, das erste Mal in der Geschichte der Spiele in Deutschland. Normalerweise kriegen die Deutschen sich ja kaum ein, wenn große Sportevents in Berlin stattfinden—Fanmeile, Bratwurst, Fähnchen und so weiter—doch offenbar war das jüdische Sportevent vielen ein Dorn im Auge: Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) weiß von neun Fällen antisemitischer Vorfälle mit direktem Zusammenhang zu den Spielen. Unter anderem wurden sechs Personen in der Nähe des Hotels der Sportler attackiert—verbal und mit Steinen. Bei einem anderen Vorfall wurden Hitlergrüße gezeigt. Ein Taxifahrer ist seine Fahrgäste aggressiv angegangen, als er erfuhr, dass sie „Judensportler” seien. RIAS geht von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. In den sozialen Netzwerken wurde es nicht überall ausschließlich gut aufgenommen, dass Juden Sport treiben: Die Journalistin Silke Burmester etwa fragte, was „jüdischer Sport” sei und nahm die Antwort selbst vorweg: „Hakenkreuzweitwurf?”. Für den Berliner Künstler Edmund Piper waren die Maccabi Games „Großjüdische Festspiele”, bei der „Nicht-Juden bitte draußen bleiben” sollen, was sich für ihn „rechtsradikal” anhört. VICE hat die Kommentare zu der Sportveranstaltung zerpflückt.

Außerdem im Juli: Der höchste antisemitische Feiertag des Iranischen Regimes stand an. Jedes Jahr wird feierlich der „al-Quds Tag” (Jerusalem-Tag) zur Eroberung Jerusalems und Vernichtung Israels abgehalten—in Teheran und vielen weiteren Städten auf der Welt, so etwa in Berlin. Teilnehmer führten Symbole der Hisbollah mit sich, deren Truppen sich regelmäßig mit Hitlergruß ablichten lassen. In den Redebeiträgen wurde gegen die „Zionistenpresse” (analog zu „Lügenpresse”) gewettert. Israel, so der Anmelder der Demonstration, sei ein „Krebsgeschwür”, der „Schuldige an allem Übel dieser Welt”. Das ist schon wieder dieser tolle Zaubertrick: Wenn das Wort „Jude” durch „Israel” ausgetauscht wird, darf man problemlos Opas Parolen übernehmen. Ist ja nur Israelkritik. Auf Arabisch wurde man dann noch deutlicher: unter Beifall verkündete ein Redner „Tod [dem Staat] Israel, verflucht seien die Juden und Sieg für den Islam.” Einzelpersonen riefen „Juden ins Gas”, auf Deutsch, ganz ungeniert—und das genau vor den Altbauwohnungen, aus denen die Berliner einst ins Gas deportiert wurden.

August

In Israel und der Westbank begann im August das, was teilweise „3. Intifada” genannt wird: Dutzende Mikro-Terroranschläge mit Messern, Äxten, Schusswaffen oder Autos—gezielt auf jüdische Zivilisten. In Deutschland fanden in den Folgemonaten mehrere Demonstrationen statt, die sich mit den Angreifern der „Intifada” solidarisierten, mitunter direkt vor dem Bundeskanzleramt.

Außerdem im August: Ein Fußballspiel der Kreisligisten BFC Meteor 06 und TuS Makkabi in Berlin musste abgebrochen werden. Spieler des jüdischen Makkabi-Teams wurden von ihren Gegnern als „Judenschweine” und „dreckige Juden” beschimpft. Ein Spieler von BFC Meteor 06 versuchte, Spieler und Anhänger von TuS Makkabi mit einer Eckfahnenstange zu attackieren. Während tumultartiger Szenen wurden auch Sätze wie „Du Jude kriegst noch Schläge” gebrüllt. Das war nicht das erste Mal, dass der jüdische Sportverein derartig angegriffen wurde—und auch nicht das letzte. Im Oktober folgte gar eine Messer-Morddrohung von einem Spieler des 1. FC Neukölln, der mit einem „I love Palestine”-Shirt zum Spiel gekommen war und so keinen Zweifel daran ließ, dass er auf die „3. Intifada” anspielte.

September

Ein Stolperstein in Berlin. Foto: Imago | Schöning

Die Initiativgruppe Stolpersteine Stierstraße in Friedenau wird seit Jahren immer wieder bedroht und angegriffen, und es werden Stolpersteine geklaut. Ein Mitglied der Initiative fand im September etwa 100 abgerissene Einladungen ihrer Initiative zu einer Stolpersteinverlegung vor und erhielt wenige Stunden später eine Droh-E-Mail, in der sie als „Juden-Nutte” bezeichnet wird, die das „Deutsche Volk” mit der Stolpersteininitiative, die „volksverräterische und nestbeschmutzerischen Schuldkultaktion” genannt wird, beschmutzen würde. Außerdem heißt es in dem Schreiben: „[…] hoffen wir euch mal persönlich über den Weg zu laufen, während keine Zeugen in der Nähe sind.”

Außerdem im September: Datumsbedingt boomten die Verschwörungsmythen zum 11. September, so wie jedes Jahr: 9/11 wurde demnach von den USA geplant, die aber wiederum irgendwie von den Juden oder den Zionisten oder den Illuminaten oder so gesteuert werden, und am Ende gewinnt der Mossad alles—oder so. Und die Juden, die im World Trade Center arbeiteten, wurden selbstverständlich vorgewarnt und sind spontan nicht zur Arbeit gegangen, kennt man ja.

Oktober

In der Berliner East-Side-Gallery ist ein ehemaliges Mauerstück mit einem Davidstern auf schwarz-rot-goldenem Grund dargestellt. Im Oktober wurde es—wieder einmal—beschädigt, diesmal mit „Long Live Palestine” und „Free Palestina”-Slogans. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus zählt 52 Fälle von Vandalismus an dieser Stelle in 25 Jahren.

Außerdem im Oktober: Antisemitismus kann auch Personen Treffen, die keine Juden sind, so etwa am Berliner U-Bahnhof Hallesches Tor, wo ein 25-Jähriger beim Aussteigen aus der U-Bahn gefragt wurde, ob er Jude sei. Als er das bejahte, obwohl das nicht stimmte, wurde er ins Gesicht geschlagen.

November

Am 77. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November bzw. in den Nächten davor wurden verschiedene Gedenkstätten beschmiert, so zum Beispiel systematisch mehrere Gedenkorte in Berlin-Moabit. Die Slogans waren eindeutig antisemitisches Machwerk: „Gaskammer-Lüge”, „Holohoax—Die Täter sind Zionisten”, „9.11.—false flag”. Die BÄRGIDA-Demonstration zog mit 120 Teilnehmenden samt Reichsfahnen und Reichskriegsflaggen an der Synagoge Rykestraße vorbei, welche 74 Jahre zuvor geplündert und geschändet wurde. Noch am Hauptbahnhof hatte ein Redner die Bundesregierung als „Brunnenvergifter” bezeichnet (ein antijüdischer Vorwurf im Mittelalter), auf dem Weg zur Synagoge wurde „Nationaler Sozialismus jetzt!” skandiert.

Außerdem im November: Am 13. November suchten islamistische Terroristen Paris erneut heim, und töteten in koordinierten Attacken 130 Menschen und verletzten 352. Es gibt Hinweise darauf, dass auch Antisemitismus eine Rolle bei diesen Anschlägen spielte. Auch dieser Anschlag wurde von Verschwörungsideologen für ihre Zwecke umgedeutet. Christoph Hörstel, ein Star der Szene, taggte einen Blog-Beitrag, in dem er unter anderem von „Mitwissen und Mitwirkung staatlicher Institutionen” ausgeht mit Tags wie „Israel” und „Finanzmafia”. Damit reiht er sich—etwas subtiler—in Verschwörungserzählungen aus anderen Ländern ein: Die iranische Nachrichtenagentur verbreitete, dass die Juden vor der konkreten Tragödie gewarnt wurden, das ägyptische Al-Asima TV vermutete Israel hinter den Anschlägen und die US-Webseite Veterans Today schrieb unter der Überschrift „Steckt Israel hinter den Anschlägen in Paris?”, dass die Medien von den Zionisten kontrolliert werden.

Dezember

Anfang Dezember veröffentlichte Xavier Naidoo das Lied „Nie wieder Krieg” (bzw. ließ er es von Jürgen Todenhöfer veröffentlichen, dem Typ, der den „Islamischen Staat” besuchte und sich hinterher in einem Buch für die „Gastfreundschaft” bedankte), in welchem er mit Zeilen wie „Muslime tragen den neuen Judenstern” das Schicksal der Juden im Nationalsozialismus trivialisierte: Der Judenstern wurde 1939 im besetzten Polen und 1941 in Deutschland eingeführt und diente zur Durchführung der Shoah.

Außerdem im Dezember: Der NPD-Politiker Marcel Zech wurde wegen Volksverhetzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Er trägt das wohl hässlichste deutsche Arschgeweih: Ein riesiges Tattoo, das die Silhouette von Auschwitz zeigt und mit dem Spruch „Jedem das Seine”, der schon am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald prangte, verziert ist.


Selbstverständlich ist dieser Jahresrückblick keine komplette Aufzählung, sondern etwas, das versucht, die Vielschichtigkeit der Ideologie und den daraus folgenden Aktionen aufzuzeigen. Viele der genannten Fälle sind exemplarische Beispiele für etwas, das jedes Jahr unzählige Male stattfindet. Antisemitismus ist Alltag in Deutschland.

Eine gute neue Entwicklung gab es 2015: Unter www.report-antisemitism.de können antisemitische Vorfälle an die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) gemeldet werden. So kann der Dunkelzifferbereich etwas ausgeleuchtet werden.

Dies wäre die Stelle, wo man einen hoffnungsvollen Ausblick schreiben könnte. Der mittlerweile emeritierte Soziologieprofessor Detlev Claussen notierte 1987 „Die Gesellschaft selbst ist antisemitisch strukturiert”. Vielleicht hatte er Recht. Eine Quelle der Hoffnung ist jedenfalls schwer zu finden.

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