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Fotos: So ausgelassen feiert die irakische Jugend nach dem Krieg

DJ Blaze in Baghdad, Iraq. All photos by Arianna Pagani.

Es ist ein verregneter Freitag, aber in einem Club in al-Jadriyah, einer Wohngegend in der irakischen Hauptstadt Bagdad, interessiert das Wetter keinen. Hier blinken psychedelische grüne Lichter, auf der Bühne in der anderen Ecke des Raums stimmt ein Junge seinen E-Bass. Mitten auf der Tanzfläche nippen ein paar Teenager an importierten Whiskey und Bier. Andere schießen Selfies.

16 Jahre nachdem die Besetzung der US-Armee den Irak in einen Teufelskreis aus Unruhen und Krieg stürzte, nimmt die Gewalt überall im Land immer weiter ab. In der Hauptstadt ist eine Renaissance der Kultur und des Nachtlebens zugange, regelmäßig eröffnen neue Cafés, Clubs und Bars. Der 30-jährige Arshed Haibet Fakhri ist Teil dieser Entwicklung: Letztes Jahr entschied er sich dazu, Bagdads erste EDM-Party zu veranstalten.

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Das ist Arshed Haibet Fakhri

“Ich wollte mit den Partys nie Geld machen, sondern der Welt eine andere Seite des Irak zeigen”, sagt Arshed, der mit seiner Event-Agentur Riot Gear seit 2014 sowohl Partys als auch Auto-Tuning-Veranstaltungen in Bagdad organisiert. “Ich finde, dass wir unserer Gesellschaft etwas Anderes bieten müssen. Auch hier dürfen junge Menschen Spaß haben”, sagt er und versucht dabei, die Musik im Club zu übertönen. “Das ist allerdings nicht einfach. Ich habe ganze alleine angefangen und werde in den sozialen Medien oft bedroht. Ich bin Muslim, schreibe aber niemandem vor, wie er oder sie zu leben hat.”


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“Andere Partys dieser Art gibt es hier nicht”, sagt Adel Kane Fadel und zündet sich dabei eine Zigarette an. “Hier herrscht eine einzigartige Stimmung, du fühlst dich sofort wohl. Die Leute hier sind einfach glücklich. Niemand verurteilt uns für das, was wir tragen oder was wir trinken.” Neben dem 20 Jahre alten Jurastudenten nickt Hussein Majid mit seiner roten Baseball-Mütze und seinem weißen Tupac-Shirt zustimmend. “Ich bin hier jetzt zum zweiten Mal”, sagt der 17-Jährige, der in einer Konditorei in Bagdad arbeitet. “Für uns ist das etwas Neues, etwas Cooles.”

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Bei der Party in al-Jadriyah, einer Wohngegend in Bagdad

Adel, Hussein und ihre Freunde sind Iraker und Irakerinnen, die während oder nach der Besetzung im Jahr 2003 geboren wurden, Englisch sprechen, weniger religiös sind, liberaler denken und auf typische Streetwear stehen. Zwar sind sie mit ihren Ansichten auch in ihrer Generation in der Minderheit, aber sie gehören dennoch zu einer Bewegung, die für eine immer größere kulturelle und gesellschaftliche Veränderung im Irak steht. Sie wollen einfach nur Spaß haben, fernab von den traditionellen Einschränkungen, die ihnen ihre Religion, die Gesellschaft und ihre Familien auferlegen wollen.

Die 22-jährige Sally Mars behauptet, die erste Frau zu sein, die in Bagdad in einer Metal-Band E-Gitarre spielt. “Ich nahm mit 16 zum ersten Mal eine Gitarre in die Hand, um mich von meiner schwierigen, vom Krieg geprägten Kindheit und Jugend abzulenken”, sagt sie. Sally sieht sich selbst als Atheistin, wurde aber in eine muslimische Familie geboren. Mars ist auch nicht ihr richtiger Nachname, aber die junge Frau will zeigen, dass sie sich keiner Religion zugehörig fühlt. “Und ich komme vom Mars”, fügt sie hinzu.

Während des Bürgerkriegs, der 2006 anfing, musste Sally mit ihrer Familie aus der Heimat fliehen. Ihr Bruder erkrankte an Krebs und starb schließlich, weil es keinen Zugang zu medizinischer Versorgung gab. “Wir hatten keine Medikamente. Und um durch den Checkpoint zu kommen, musste er aufgrund seines sunnitischen Namens seine Identität ändern”, sagt Sally. “Ich hasste alles und jeden und fand in der Musik ein Ventil für meine Wut. Mir wurde klar, dass ich Teil des Kriegs sein würde, wenn ich Menschen weiter hasste. Kriege kann man nicht mit noch mehr Hass überwinden.”

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Sally genießt die neue irakische Jugendbewegung. Dabei beschränkt sich das Ganze nicht auf die Hauptstadt. “Wir sind überall im Irak”, sagt CJ, ein 22 Jahre alter Tätowierer aus Basra, der auch Teil einer Parkour-Gruppe aus dem Süden des Landes ist. Er und seine Freunde wüssten dank der sozialen Medien heutzutage viel besser über globale Trends Bescheid als die Generationen vor ihnen: “Unsere Eltern verstehen das nicht”, sagt er und nickt dabei im Takt der Musik.

Zahlen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen besagen, dass fast die Hälfte der irakischen Bevölkerung unter 21 ist. Die Arbeitslosenquote bei den 15- bis 24-Jährigen liegt bei 18 Prozent. Deswegen fällt es vielen Milizen leicht, junge Iraker und Irakerinnen mithilfe von festen und bezahlten Anstellungen zu rekrutieren. Partys wie die von Riot Gear sind da eine willkommene Abwechslung.

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Je später es wird, desto mehr füllt sich der Club. Inzwischen sind um die 100 Gäste da, die meisten männlich. DJ Blaze, der extra aus der Türkei angereist ist, legt einen David-Guetta-Remix auf. Eine Frau mit blonder Kurzhaarfrisur tanzt mit einem Typen, der eine Zahnspange und eine Superman-Mütze trägt. Sein Name ist Hassam. Der 25-Jährige aus Bagdad ist jetzt zum dritten Mal bei der Party: “Ich will hier vor allem eine gute Zeit mit meinen Freunden haben”, sagt er. “Niemand verurteilt mich wegen meines Aussehens. Das gibt es im Irak so sonst nicht.”

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Sally und ihre E-Gitarre
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Hassam feiert ausgelassen
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