Der Sand am Piston Beach von Jacmel—einer Stadt in Haiti—ist übersät mit Schutt, leeren Glasflaschen, Pappschachteln und Plastiktüten. Vereinzelt sieht man Tiere, die in dem Chaos nach Essensresten suchen. Ganz anders sieht es hingegen am nahegelegenen Kabik Beach aus, wo Kokospalmen sowie Bananen- und Papayabäume das Bild prägen. Obwohl das Epizentrum des verheerenden Erdbebens aus dem Jahr 2010 gerade einmal 70 Kilometer entfernt liegt, findet man hier am Strand keine Hinweise mehr auf all die Zerstörung und das Elend.
Das ist der Verdienst der Mitglieder von Surf Haiti, von denen einige nicht älter als sieben Jahre sind. Zusammen sammeln sie hier regelmäßig den Müll ein und halten so den Strand sauber. Schon seit 2011 versuchen sie mithilfe von Surf- und Umweltkursen einen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes zu leisten. Dabei verfolgen sie das Ziel, Haiti zu einer nachhaltigen Surfadresse für ausländische Touristen zu machen.
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Im vergangenen Oktober hat Surf Haiti die erste Surfschule des Landes eröffnet, eine einfache, rund 19 m2 große Holzkonstruktion. Eines der Kinder—ausgerüstet mit einer Heckenschere—durfte das Band durchschneiden. Pünktlich zur Eröffnung hatte die Share the Stoke Foundation fünf Surfboards gespendet und nach Haiti geschickt. Mit den nagelneuen Boards unter dem Arm sind die Kinder dann ins Wasser gerannt, wo sie sich gegenseitig auf die Bretter halfen. Die Kinder, die vorher schon mal gesurft hatten, erklärten den Anfängern, was sie zu beachten haben. Erst als die Sonne schon unterging, sind die Kinder—äußerst widerwillig—zurück an Land gekommen.
Zum ersten Mal wurde an der Kabik Beach 2011 gesurft, als Dr. Ken Pierce—der im Rahmen eines Entwicklungsprojekts in der Region war—mit seinem Surfbrett ins Wasser ging. Sofort sammelten sich Kinder am Strand und riefen ihm zu. Als Pierce aus dem Wasser kam, wurde er von den Kindern umringt. Kein Wunder, schließlich kann man nirgendwo in Haiti ein Surfbrett kaufen. Die Kinder hatten nur eine einzige Frage an ihn: Können wir auch mal? Pierce war begeistert von der Idee, mit seinem liebsten Hobby anderen Menschen helfen zu können. Als er kurze Zeit später zurück nach Jacmel kam, hatte er mehrere Boards im Schlepptau und zusammen mit seinem Kumpel Alan Potter gründeten sie Surf Haiti. Ein paar der Kinder hatten da schon—dank einiger Holzbretter vom Strand—erste zaghafte Schritte in Richtung Bodyboarding gemacht, obwohl die meisten von ihnen nicht einmal schwimmen konnten.
Mit der Hilfe von Joan Mamique—einem Franzosen, der seit 2010 in Jacmel lebt—begannen sie, sechs älteren Jungs, die schon schwimmen konnten, das Surfen beizubringen. Durch Spenden von in Haiti lebenden Ausländern sowie dem Erlös aus dem Online-Verkauf von T-Shirts stieg nach und nach ihr Budget. Als Pierce und Potter dann Haiti verlassen haben, wurde Mamique klar, dass man bei Surf Haiti auf Nachhaltigkeit setzen muss, wenn man das Surfen in der Region entwickeln möchte—also von Haitianern für Haitianer. Mit der Eröffnung einer Surfschule, dachte sich Mamique, könne man den Jungs dabei helfen, durch Kurse für Touristen sowie den Verleih von Boards ihr eigenes Geld zu verdienen, während man gleichzeitig zukünftige Generationen von haitianischen Surfern hervorbringen würde.
Für den Bau der Schule haben sie Spenden in Höhe von 1.500 Dollar von Freunden eingesammelt, plus 1.500 Dollar aus dem Verkauf von T-Shirts. Die Schule verfügt nun über 15 Boards und freut sich über 30 regelmäßige Teilnehmer—6 davon bringen 10 Anfängern das Surfen bei, wohingegen 14 erstmal schwimmen lernen müssen. Wenn die Kinder Touristen in die hohe Kunst des Surfens einweihen, können sie dabei 12 Dollar am Tag verdienen, wovon die Hälfte an Surf Haiti zurückfließt. Zum Vergleich: Die meisten Haitianer leben von 2 Dollar am Tag. Doch muss man sagen, dass Touristen auf Haiti noch immer sehr rat gesät sind—umso mehr nach dem Erdbeben, das 200.000 Menschen das Leben kostete.
„Die meisten der Kinder von Surf Haiti haben nie etwas anderes als Jacmel gesehen. Surf Haiti ist eine Schule fürs Leben für die hiesigen Kids. Hier können sie nicht nur schwimmen und surfen lernen, sondern auch ein Gefühl von Gemeinschaft erleben. Viele von ihnen sagen, Surf Haiti sei wie eine zweite Familie für sie geworden. Eine Familie, die sie sich selbst ausgesucht haben und die sie zusammen aufbauen und vergrößern wollen”, wie mir Mamique via Skype erzählt.
Trotzdem steht Surf Haiti auch vor großen Herausforderungen: Es werden noch freiwillige Helfer—und vor allem finanzielle Unterstützung—benötigt. Auch um dem übergeordneten Ziel ein kleines Stück näher zu kommen: die Entwicklung der örtlichen Wirtschaft und Infrastruktur. Denn nur so werden auch mehr Touristen ins Land und nach Jacmel kommen.
„Ich hätte niemals gedacht, dass wir soweit kommen. Mittlerweile ist die Arbeit hier mein Leben geworden”, verrät mir Mamique.
Er hofft, dass in Jacmel eines Tages ein internationales Surf-Event stattfinden wird—auch um der Welt zu zeigen, dass sich die Bewohner von Haiti selbst von der schlimmsten Katastrophe nicht unterkriegen lassen.