Die Gesellschaft von Venezuela, die seit Jahren unter einer kollabierten Wirtschaft leidet, ist um ein neues Berufsfeld reicher: Zahlreiche Spieler stürmen die Server des betagten Online-Rollenspiels Runescape, um gemeinsam virtuelle Drachen zu jagen und ihre Beute gegen echtes Geld einzutauschen. Für manche Venezolaner ist das der einzige Weg, in einem Land zu überleben, dessen Bewohner kaum noch Geld für Lebensmittel oder Kleidung verdienen können. Dass sie dabei gegen die Nutzungsbedingungen des Spiels verstoßen und täglich riskieren, dauerhaft gebannt zu werden, nehmen sie gezwungenermaßen in Kauf.
Paco* ist einer von ihnen. Der 19-jährige IT-Entwickler aus Venezuela spielte von Februar 2015 bis Dezember 2016 nach Feierabend täglich sechs Stunden Runescape und schloss sich den übrigen Goldfarmern an.
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“Ich hatte mit dem Spiel angefangen, weil mir ein Freund erzählte, dass man mit Runescape echtes Geld machen kann”, erzählt Paco im WhatsApp-Gespräch mit Motherboard. “Mit meinem Gold verdiente ich etwa zwischen 0,70 US-Dollar und 1,50 US-Dollar pro Stunde. Dieser Stundenlohn reicht hierzulande für knapp zwei Säcke Reis, aber am Ende des Monats ist das mehr, als bei einem normalen Job rauskommen würde.”
Alle Goldfarmer nutzen dabei den gleichen Weg, um ihre virtuellen Taschen zu füllen. In einem bestimmten Landstrich von Runescape machen sie Jagd auf grüne Drachen, die regelmäßig dort auftauchen und nach ihrem Ableben Drachenschuppen und Knochen hinterlassen. Diese können Spieler auf einem virtuellen Marktplatz gegen Gold verkaufen und das wiederum auf Tauschseiten gegen echtes Geld handeln.
Diese Goldjagd ist nach den offiziellen Regeln von Runescape nicht erwünscht und bei den Spielern auch nicht sonderlich beliebt. Das liegt daran, dass der Warenaustausch den Wert der Ingame-Währung immens belastet, die allerdings auch nach Jahren ironischerweise noch immer stabiler als der echte venezolanische Geldkurs ist.
Ein güldenes Déjà-vu
Goldfarming ist dabei kein neues Phänomen in der Gaming-Welt: Das berühmte Online-Rollenspiel World of Warcraft, das auch 13 Jahre nach Release noch 5,5 Millionen angemeldete Spieler vorweisen kann, schlug sich ebenfalls lange Zeit mit den ungewünschten Goldfarmern herum. Überwiegend auf den asiatischen Servern installierten viele Spieler automatisierte Bots, die ununterbrochen Gold abbauten und auf Tauschseiten gegen Echtgeld handelten. Heute sind diese Goldschürfer größtenteils wieder verschwunden.
Wie der World of Warcraft-Entwickler Blizzard das Problem damals in den Griff bekam, erklärte ein erfahrener Spieler gegenüber Motherboard: So habe es in den Anfangszeiten des Spiels Gegenstände gegeben, mit denen die Ausrüstungsteile der Spieler noch stärker gemacht werden konnten. Diese Hilfsmittel allerdings zu beschaffen, kostete viel Zeit und Nerven. Viel einfacher sei es da gewesen, mit Gold diese Gegenstände einfach direkt im Spiel zu kaufen – und das brachte das Goldfarming-Geschäft schließlich in Schwung
Mittlerweile hat Blizzard die erlaubte Anzahl dieser Gegenstände pro Spieler drastisch verringert und gleichzeitig die Möglichkeiten vervielfacht, mit einfachsten Quests und erfüllten Aufgaben selbst Gold zu verdienen. Damit wurde es für Spieler zunehmend uninteressanter, automatische Bot-Netzwerke einzurichten und zu programmieren, die nach dem Rohstoff schürfen.
Noch ist nicht bekannt, ob Jagex, das Entwicklerteam von Runescape, vergleichbare Änderungen vornehmen wird, um dem verbotenen Goldfarming entgegenzuwirken. Auf eine entsprechende Anfrage von Motherboard erhielten wir bisher noch keine Antwort. Fest steht aber, dass die Goldfarmer von Venezuela bereits längst so berüchtigt und verhasst sind, wie ihre WoW-Konterparts – und sie mittlerweile sogar von anderen Spielern regelrecht gejagt werden.
“Tut so, als ob ihr Spanisch sprecht!”
Kurz nach einem ersten Höhepunkt des virtuellen Goldrausches veröffentlichte eine venezolanische Zeitung einen ausführlichen Artikel, in dem sie genau erklärten, wie Spieler mit Hilfe von Runescape echtes Geld verdienen können: Es war eine detaillierte Anleitung, wie sich Anfänger am schnellsten und einfachsten an dem eigentlich verbotenen Geschäft beteiligen konnten.
Spätestens nach diesem Artikel wurde die Community aufmerksam und hielt seitdem die Augen nach den virtuellen Goldschürfern weit offen. Aus Angst, dass diese Spieler den Wechselkurs der Ingame-Währung ruinierien und in dem Wissen, dass die Venezolaner gegen die Nutzunsbedingungen verstoßen, machen sie gezielt Jagd auf die Goldfarmer. Sogar Tipps für Angriffe und Hinterhalt-Guides wurden geschrieben, die erprobte Strategien und Taktiken im Kampf gegen die Goldschürfer erläutern.
“Achtet darauf, wann immer möglich Spanisch zu sprechen. Es ist egal, was die zu euch sagen, Hauptsache, ihr ruft immer wieder Zeug wie ‘Du Hund!’, ‘Schlampe’ und beleidigt ihre Familien. Die hassen das. Google Translate ist für diese Zwecke akzeptabel.” Sätze wie diese füllen aggressiv und gehässig geschriebene Guides, die von nicht minder wütenden Spielern kommentiert und geteilt werden.
Auch unser Interviewpartner wurde schon mehrfach Opfer dieser Angriffe, allerdings hat er dafür in weiten Teilen, aber zähneknirschend Verständnis. “Die Farmer sind nunmal im PvP-Gebiet unterwegs, da ist es ganz normal, dass man von anderen Spielern angegriffen wird. Ich wurde schon dutzende Male von ganzen Gruppen attackiert, die verhindern wollen, dass Leute wie wir den Kurs der Ingame-Währung ruinieren.” Nur die persönlichen und beleidigenden Beschimpfungen gingen Paco immer zu weit.
Die Gründung einer Art “Allianz der Farmer”, die vor den Angriffen schützen soll, hält Paco allerdings für unmöglich: “Die Farmer sind entweder Bots oder profitgeile Einzelkämpfer, die nicht an Zusammenarbeit interessiert sind.”
Auch, wenn derzeit täglich neue Spieler auf Drachenjagd gehen, scheinen die Tage der Goldfarmer von Runescape dennoch gezählt. Während die Entwickler täglich aktive Goldfarmer bannen, die auffällige Handelsaktivitäten zeigen, macht auch das venezolanische Internet die Arbeit der Spieler zunehmend schwerer. Der “Kampf gegen die imperialistischen Medien”, den die Regierung seit Jahren führt, hat die Internetgeschwindigkeit in Venezuela drastisch reduziert. Das macht es für die Venezolaner besonders schwer, Seiten wie Reuters, New York Times, Twitter und Facebook aufzurufen und zu nutzen. Auch online zu spielen wird aufgrund der niedrigen Bandbreite nahezu unmöglich.
Das ist auch der Grund, warum Paco schon seit einigen Monaten nicht mehr in Runescape auf Drachenjagd gehen kann. Doch obwohl er zuletzt vor rund einem Jahr auf den Servern des Spiels unterwegs war, erinnert er sich heute noch immer gut an die unverhältnismäßigen Feindseligkeiten der Jäger, die ihn und seine Goldfarming-Kollegen angegriffen haben. Daher wünscht er sich, dass sich diese feindseligen Spieler daran erinnern, dass sie auf nicht weniger als die letzte Einkommensquelle Jagd machen, die diesen Menschen geblieben ist. “Goldfarming ist furchtbar langweilig und stupide, aber für uns gibt es kaum andere Optionen”, fasst Paco das Problem zusammen. “Wir werden davon nicht reich, aber wir können immerhin verhindern, dass unsere Familien verhungern.”
*Name von der Redaktion geändert.