Alle Fotos von Jojo Schulmeister
Das letzte Mal, als ich neben Menschen stand, die mit Fackeln für ein Anliegen eingestanden sind, richtete sich ihr Kampf gegen eine geplante Asylunterkunft. Damals, vor wenigen Wochen, wollten rund 500 Menschen keine weiteren 60 Flüchtlinge in ihrem Dorf mit 3.800 Einwohnern aufnehmen. Am Freitag forderten 400 Menschen, dass die schätzungsweise 30.000 Zivilisten, die noch in Aleppo feststecken, zu Flüchtlingen werden können.
Trotz der Unterschiede, die nur schon innerhalb der Schweiz zu finden sind, hatten Aleppo und Zürich am Freitagabend etwas gemeinsam: Es war eiskalt. Bis auf unter 0 Grad fiel das Thermometer sowohl hier, im vorweihnachtlichen Zentraleuropa, wie auch gut 2.600 Kilometer südwestlich, im nahöstlichen Kriegsgebiet. Den einen wurde durch Mikrofone gesagt, es sei absolut kein Problem, wenn sie nach Hause gingen, weil ihnen zu kalt sei. Den anderen bleibt wohl keine andere Wahl als die Kälte.
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Was genau in Aleppo vor sich geht, weiss wohl niemand. Weder wer wirklich auf Busse schiesst, die Zivilisten aus der Stadt bringen sollen, noch was genau von den Fake-News zu halten ist, die in sozialen Medien die Runde machen. Oder auch wer eine israelische TV-Kommentatorin dazu bringt, von einem Holocaust zu sprechen. Nicht die internationale Politik, nicht die Menschen in Aleppo und auch nicht die Menschen, die mit dem Anzünden von Kerzen, Gesängen und Reden ihrer Verzweiflung Ausdruck verleihen.
“Wir verfolgen keine politischen Ziele und positionieren uns bewusst nicht. Wir wollen nicht über Gut und Böse urteilen”, schallt es denn auch als erstes aus den Boxen auf dem Helvetiaplatz. “Wir wollen ruhig und respektvoll ein Zeichen für die Leidenden setzen.”
Du magst dich fragen, was Stille den Menschen in Aleppo bringen soll. Eine mögliche Antwort sprach ein Syrer ins Mikrofon: “Direkten Einfluss auf die Geschehnisse vor Ort zu nehmen, bleibt uns verwehrt. Das einzige, was wir tun können, ist, den Menschen Hoffnung zu geben—auch jenen, die bereits in der Schweiz sind. In Gedanken sind wir bei den Menschen, die leiden—und vergessen werden.”
3.000 Menschen, die aus Syrien fliehen mussten, will die Schweiz bis zum Jahr 2018 aus den Flüchtlingslagern in Nachbarländern wie Libanon und Jordanien direkt nach Europa holen. Gut ein Drittel davon ist bereits hier—insgesamt 10.000 sollen es nach einer aktuellen Forderung der Grünen werden. Doch allein im keine fünf Millionen Einwohner zählenden Libanon leben nach Angaben des UNHCR rund eine Million syrischer Flüchtlinge. Und Europa arbeitet nach dem letztjährigen Refugees-Jahr fleissig daran, dass diese nur kontrolliert in die EU gelangen. Erst vergangenen September trafen sich die mächtigsten Politiker Europas in Wien, um gemeinsam zu beraten, wie die Reise über den Balkan nach Mitteleuropa für Flüchtlinge noch schwieriger gemacht werden kann.
“Wir sagten ‘Nie wieder Srebrenica!’. Wir werden auch in Zukunft ‘Nie wieder Aleppo!’ sagen”, dröhnte es nach einer weiteren Gedenkpause aus der funktionierenden der zwei Boxen. “Wir werden aber nicht sagen können, wir hätten nichts davon gewusst. Wir sehen die verstörenden Bilder—und doch scrollen wir weiter.” Mindestens so grosse wie wichtige Worte, die aber wohl nicht weiter reichen, als bis zur Grenze des Helvetiaplatzes.
In Zürich wie in Aleppo stossen die Menschen an ihre Grenzen. Die einen an die Grenzen ihrer Existenz, die anderen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu helfen. Und so bleiben von Freitagabend Zehen, die nach der abendlichen Solidaritätsbekundung am heimischen Heizkörper aufgewärmt werden konnten, Aufforderungen, Regierungen mit Briefen zu bewegen, endlich was zu tun, und Fotos von Menschen mit “Peace”-Schildern, die Hoffnung schenken sollen.
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