Sex

„Wenn sie raucht, ist das Ding schon gelaufen.“

Auch, wenn Kulturpessimisten uns alle für von Tinder-Date zu Tinder-Date schlurfende Mobile-Zombies halten, gibt es noch Leute in der Generation Y, die bewusst auf den scheinbar alltäglich gewordenen Exzess verzichten möchten. Straight Edge, wie sich die zur Subkultur gemachte Abstinenz in der Hardcore-Szene nennt, entstand als Gegenbewegung zum selbstzerstörerischen Verhalten im Punk. Die frühen Straight Edger wollten das befreiende, emanzipatorische Potenzial von Punk und Hardcore für den Kampf um eine bessere Welt nutzen—ohne sich abzuschießen, mit klarem Kopf und klarer Linie, eben „walking on the straight edge”. Auch Promiskuität lehnte Straight Edge größtenteils ab, ebenso aus der Ablehnung des Exzesses heraus, aber auch, weil sie die Behandlung anderer als Sexobjekte als menschenverachtend ansahen. Als Markenzeichen wählte die junge Bewegung das X auf dem Handrücken, das Minderjährige beim Eintritt in US-Clubs aufgemalt bekamen, damit niemand ihnen Alkohol ausschenken würde.

Noch heute zieren die sich kreuzenden Linien Albencover von Straight-Edge-Hardcore-Bands, werden als Tattoo unter der Haut verewigt oder dienen bei Benutzernamen in sozialen Netzwerken dazu, sich zu der Bewegung zu bekennen. Was als Bekenntnis zur Positive Mental Attitude und zu einem klareren, selbstbestimmteren Leben begann, richtet sich heute gegen den Rausch als gesellschaftlichen Zwang und Promiskuität zum Ego-Boost. Wir haben mit fünf Straight-Edgern über die Entscheidung zu ihrem Lebensstil, ihre Erlebnisse und Konflikte sowie ihre Haltung zu unseren liebsten Online-Diensten gesprochen.

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Alle Fotos: privat

Thomas, seit vier Jahren Straight Edge

Thomas entschied sich mit 21, komplett auf Straight Edge umzusteigen—mit veganer Ernährung und der Ablehnung von Gelegenheitssex. „Der Reiz dahinter erschließt sich mir nicht. Für mich ist das, als würde man die andere Person nur als Sexobjekt betrachten und nicht als geliebten Menschen. Das ist für mich reine, primitive Triebbefriedigung und eine menschenverachtende Praxis, an der ich nicht teilhaben möchte.” Das Thema Sex war ihm sogar so heilig, dass er zwischenzeitlich sogar bis zur Ehe warten wollte, um es wirklich mit einer „besonderen” Person zu teilen. „Aber mit 22 Jahren habe ich aus meinem Umfeld und gesellschaftlich einen extremen Druck verspürt“, erklärt er den Bruch mit seinem Ideal. „Man bekommt irgendwie das Gefühl, man sei nicht normal, wenn man versucht, ohne Sex auszukommen, und ich dachte, wenn es die Richtige sei, dann sei das für mich auch kein Bruch mit Straight Edge.” Von Dating-Apps hält er allerdings nichts.

„Mit Rauschmitteln ist es da schon schwieriger”, gibt Thomas zu. Mit 15 sei er „noch nicht gefestigt” gewesen und Alkohol schien ihm, als seine erste Freundin fremd ging, leichter Anschluss an eine Gruppe zu ermöglichen. Doch die neuen Freunde, die Thomas tatsächlich finden konnte, machten ihn nicht glücklich: „Ich merkte, dass das für mich nur Bekanntschaften waren, mit denen man Spaß haben kann, die aber nicht hinter einem stehen. Mir ist es wichtig, mich nicht zu verstellen und so zu sein, wie ich bin. Ich kann genau so gut ohne Alkohol lustig sein und wenn ich mal nicht lustig bin, zwinge ich mich auch nicht mehr dazu.” Außerdem stört Thomas der Kontrollverlust durch den Rausch. „Wenn jemand sich etwas ohne Alkohol und Drogen nicht traut und sie deshalb konsumiert, finde ich das einfach nur peinlich.”

Jim Saah hat die Blütezeit des Hardcore-Punk fotografiert.

Angst vor Ablehnung habe er lange gehabt—auch, weil Alkoholkonsum so gesellschaftlich normiert ist. „Ich habe, seit ich Straight Edge lebe, automatisch weniger mit Leuten zu tun, die nur Party machen und sich nicht mit sich selbst oder ihrem Leben beschäftigen. Mit Leuten, die inflationär Sex haben oder deren Freizeitbeschäftigung aus Drogen besteht, kann ich einfach nichts mehr anfangen.” Am Wochenende allein zu sein, stört ihn dagegen weniger. „Ich habe jetzt eher Leute kennengelernt, mit denen ich viel mehr reden kann als früher und die auch meine Hobbys teilen.” Rauschmittel sieht er nur noch als Stoffe an, mit denen man sich selbst schädigt. „Es steckt so viel Potenzial in so vielen Leuten, das sie durch das ständige Abschießen gar nicht erkennen”, ist er überzeugt.

Nemo, seit fünf Jahren Straight Edge

„An Wochenenden habe ich relativ viel getrunken, geraucht und auch gerne mal gekifft, ich war also nicht schon immer dem Rausch gegenüber negativ eingestellt”, erklärt Nemo. Der Übergang zu Straight Edge kam für ihn eher schleichend. Irgendwann wurde ihm allerdings klar, wie „selbstzerstörerisch” sein Lebensstil tatsächlich ist: „Etwa zu dieser Zeit ist eine gute Freundin von mir ziemlich durch Drogen abgestürzt. Als ich dann auf meinen eigenen Konsum geschaut habe, dachte ich mir, dass ich so etwas nicht möchte und habe an diesem Punkt einen Schnitt gesetzt.” Nemo wurde dabei durchaus von der Musik der Bewegung inspiriert: „Ich habe auch damals schon viel Hardcore und Straight Edge Hardcore gehört und konnte mich dann damit identifizieren. Davor hat mir einfach die Konsequenz für diesen Schritt gefehlt.” Für ihn hat Straight Edge auch eine nicht zu unterschätzende politische Komponente—die „Positive Mental Attitude” verbindet er mit einer antispeziestischen und antifaschistischen Einstellung.

Auf Nemos Freundeskreis von früher habe sich sein Schritt nur bedingt ausgewirkt und Ablehnung sei ihm daher weniger entgegengestoßen. „Die sind eigentlich froh, immer einen Fahrer zu haben, der auf Shows geht und sie mitnimmt.” Auch wenn er das Verhalten seiner nichtabstinenten Freunde mittlerweile mit Sorge betrachtet: „Ich sehe es natürlich kritisch, dass viele einem Gewohnheitsalkoholismus zum Opfer fallen und das nicht bemerken. Man sollte sich seiner Taten und seinem Konsum immer bewusst sein, egal worum es geht.” Ähnlich ernst nimmt er auch zwischenmenschliche Beziehungen. Sex ohne Liebe? Für ihn undenkbar.

Julian, seit sieben Jahren Straight Edge

Julian beschreibt seine Entscheidung zu Straight Edge als kompliziert. Er habe nie zu denen gehört, die besonders viel getrunken hätten, „vielleicht, weil ich nie wirklich Bock hatte, das Gleiche zu machen wie alle anderen. Ich hab natürlich an Anderen gesehen, wie Alkohol wirken kann und dachte mir eigentlich schon mit 15 oder 16, dass ich echt keinen Bock habe, mich so affig zu verhalten und die Kontrolle über mein Tun zu verlieren.” Der probeweise Verzicht auf Alkohol habe dann zunächst auch ganz gut geklappt. „Beim ersten Festival meines Lebens ist uns allerdings—kein Scherz—das Wasser ausgegangen und wir hatten nur noch Bier zu trinken da.” Silvester 2008 fiel dann die Entscheidung zum abstinenten Leben—eher aus der Summe seiner Erfahrungen mit Rauschmitteln und weniger aus einem akuten Grund heraus, wie Julian betont.

Auf seinen Freundeskreis habe sich dieser Schritt nie großartig ausgewirkt, da er auch vorher betrunkene Mengen gemieden habe. Mit der Hardcore-Szene kam er überhaupt erst durch seine damaligen Freunde in Berührung. „Da hat sich dann auch recht zügig ein Bewusstsein dafür gebildet, was Straight Edge ist und dass ich das machen will.” Mittlerweile gebe es keine Straight Edger mehr in seinem engsten Freundeskreis—eine Tatsache, mit der Julian früher noch ein richtiges Problem gehabt hätte. „Wenn das jemand braucht, dann soll er sich alles reinfahren, was er möchte. Solange er seinen Verpflichtungen nachkommt und niemandem damit schadet, ist mir das mehr oder weniger egal. Das musste ich aber auch erst lernen. Eine Zeitlang war ich echt militant unterwegs und hatte richtigen Hass auf Menschen, die irgendwas konsumiert haben.” Das habe aber weder ihn noch andere weitergebracht—den richten Weg müsse man selbst finden. Für ihn selbst ist Straight Edge allgegenwärtig und prägend: „Du lebst das mit dem Bewusstsein, dass du den Verzicht durchziehst, bis du abtrittst.”

Nur wenn es um die Partnerwahl geht, kennt er keine Kompromisse: „Wenn sie raucht, ist das Ding schon gelaufen, bevor man sich kennenlernt. Das geht einfach nicht mehr.” Zu Sex gehört auch für ihn untrennbar „so altmodisches Zeug wie Gefühle.” Trotzdem hat Julian einige Monate lang Tinder benutzt. „Das war aber ganz ehrlich eher, weil ich in eine neue Stadt gezogen bin und dachte, dass ich so vielleicht einfach mal jemanden kennenlernen kann, mit dem man einfach mal abhängen kann.”

Anthony, seit drei Jahren Straight Edge

„Für mich war und ist Straight Edge ganz besonders eine Kritik des Alkoholkonsums, der mir schon als gesellschaftlicher Zwang erscheint.” So beschreibt Anthony seinen Einstieg in die Szene. „Straight Edge und Hardcore haben mir daraus einen Ausweg geboten.” Für ihn ist die Rauschmittel ablehnende Szene viel deutlicher mit Befreiung verbunden als andere Formen von Abstinenz: „Es geht nicht um Selbsteinschränkung oder um religiöse Dogmen, sondern um die bewusste Ablehnung schädlicher gesellschaftlicher Zustände und Praktiken.” Wie sehr Rausch für viele zum Normalzustand gehört, zeigte sich auch, als er seinem alten Freundeskreis seine Entscheidung mitteilte, nicht mehr trinken zu wollen: „Ich habe von allen Seiten einfach den Druck und die Urteile gespürt.” Feiern geht er immer noch, aber mit klarem Kopf. „Der Kontakt zum alten Freundeskreis ist nach und nach geschrumpft und ich finde mehr Verständnis in meinem kleineren Kreis, in dem sich viele Straight Edger tummeln.”

Bei einer Sache ist Anthony allerdings vergleichsweise offen: Sex. „Tinder und Co. sind für mich etwas völlig Anderes. Ich finde, es spricht nichts gegen safen, einvernehmlichen Gelegenheitssex außerhalb einer monogamen Beziehung—auch wenn ich das Wort ‚Gelegenheitssex’ furchtbar finde. Die absolute Verteufelung von Sex außerhalb einer Beziehung, die viele aus der Szene an den Tag legen, stört mich krass.”

Marcel, seit fünf Jahren Straight Edge

Marcel fällt ebenfalls in die Gruppe der langjährigen Suffgegner. „Ich fand es nie wirklich geil, betrunken zu sein, und habe dann Schritt für Schritt weniger getrunken, bis ich es irgendwann ganz habe sein lassen”, erzählt er. Zur gleichen Zeit gab er auch das Kiffen auf, „obwohl ich diesen Rausch immer angenehmer fand, als betrunken zu sein.” Er habe aber gemerkt, wie Gras sein Denkvermögen verlangsamt habe und wollte das um jeden Preis vermeiden. „An meiner Einstellung hat sich durch Straight Edge wenig verändert”, ist Marcel überzeugt: „Für mich war der Verzicht etwas ganz Normales, so wie manche Menschen eben keinen Rosenkohl mögen und ihn deshalb nicht essen.” In seinem Freundeskreis hat das nicht zu Konflikten geführt: „Mein engerer Freundeskreis trinkt im Jahr zusammen vielleicht einen halben Kasten Mischbier, von daher war die Tatsache, dass ich nicht trinke, nie ein wirkliches Thema oder Problem. Viele glauben, dass ich durch meine Abstinenz begonnen habe, alle Menschen zu verachten, die Drogen nehmen. Die Wahrheit ist aber, dass ich schon, als ich noch selbst getrunken habe, besoffene Menschen super nervig fand.”

Trotzdem will er niemandem vorschreiben, wie er sein Leben zu leben habe: „Ich finde Drogen nicht cool, aber jedem sollte die Wahl gelassen werden, was er konsumiert und was nicht —so, wie sie mir gelassen wurde. Wenn ihr Bock darauf habt, Drogen zu nehmen, dann tut das. Aber hört auf, euch selbst dafür zu feiern.” Dating-Apps findet Marcel eher spannend als verwerflich. „Straight Edge bedeutet für mich, dass ich Dingen fernbleibe, die meinen Verstand beeinflussen. Sex muss jedoch nicht unbedingt meinen Verstand lenken. Wenn zwei Menschen aber Lust aufeinander haben, sich achten und dies aus der Freude am Sex heraus tun und nicht, um ihre kaputten Egos zu flicken, dann ist daran nichts Verwerfliches und ist für mich auch kein Edge-Break. Würden alle Menschen öfter auf eine respektvolle Art und Weise miteinander ficken, wäre die Welt ein viel besserer Ort.”


Titelfoto: Tony Webster | Flickr | CC BY 2.0