Sex

Stress macht mich geil

Illustrationen: Wren McDonald

„Noch zehn Minuten“, warnt uns der Lehrer, während er im People-Magazin blättert. Ich habe noch vier Seiten der Prüfung vor mir und bin total gestresst. Mein Herz beginnt, wie wild zu pochen und ich fühle, wie sich zwischen meinen Beinen etwas regt. Neben dem unerklärlichen Ausschlag vom letzten Sommer ist das jetzt das erste Mal, dass sich da unten etwas tut. 

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Als uns der Lehrer mitteilt, dass nur noch fünf Minuten Zeit bleiben, berechne ich gerade einen Kreisumfang und reite dabei auf meinem Stuhl. Dieses ganze Herumgerutsche stört die Konzentration des Mitschülers hinter mir—er tritt gegen meinen Stuhl und flüstert in aggressivem Ton: „Wir wissen, dass du furzt, Meg. Bleib jetzt verdammt noch mal still sitzen!“ Plötzlich läutet die Glocke und ich habe noch fünf Aufgaben zu bearbeiten. Mein Stresspegel hat seinen Höhepunkt erreicht, genauso wie meine Klitoris. Ich beende die Prüfung und erlebe einen heftigen Orgasmus. Ich überreiche meinem Lehrer die Arbeit, der unwissend zu meinem ersten Sexpartner wurde, indem er einfach nur einen Routine-Leistungsnachweis durchführte. 

Seit diesem heißen und schwülen Sommernachmittag in meiner Schule ist Stress mein größter Turn-On. Als Teenagerin, die ganz unbeholfen ihre Sexualität entdeckt, war ich ständig auf der Suche nach Wegen, mich genau so zu stimulieren wie damals der Mathetest. Ich schaute mir die schmutzigsten Sexfilme an, ich las jede erotische Geschichte, die ich im Internet finden konnte, und ich experimentierte mit Rollenspielen—die Palette reichte dabei vom Arzt-Patient-Szenario bis hin zum gestellten Hanson-Brothers-Porno. Aber egal wie sehr ich es auch versuchte, nur Situationen, in denen ich einer bestimmten Art von Stress ausgesetzt war, brachten mich beständig zum Höhepunkt. 

Hier die Top 3 meiner erotischen Situationen: Verkehrsstaus, schlechte Unterhaltungen, aus denen es keine Entkommen gibt, und Zuspätkommen. Ich werde jedoch nicht von jeder Art Stress geil gemacht—finanzielle Dinge gehören zum Beispiel definitiv nicht dazu. Es bereitet mir überhaupt kein Vergnügen, einen Studienkredit in Höhe von 12.000 Dollar zurückzuzahlen oder meine Miete zu überweisen. Zeitprobleme hingegen sind für mich sowohl schrecklich, als auch erregend. Egal, ob es damals in der Schule das Erledigen einer Aufgabe innerhalb eines kurzen Zeitraums war oder jetzt die etwas erwachseneren Probleme, wie etwa dichter Verkehr auf dem Weg zum Flughafen. Es scheint so, als könnten mein Gehirn und mein Nervensystem da keinen Unterschied ausmachen—eine verdrehte Form der sexuellen Kontrolle. 

Das Beste an dem Ganzen ist die Selbstbefriedigung und das Kopfkino: Ich kann mir genau vorstellen, wie ich zu spät für einen Termin bin und mich dementsprechend fühlen—jedoch muss ich mich nicht den Konsequenzen stellen, die Verspätungen im echten Leben mit sich bringen. 

„Sag mir, wie sehr du das magst“, flüstert mir mein austauschbarer Sexpartner ins Ohr, während er einen halbherzigen Versuch unternimmt, mir einen Knutschfleck zu verpassen. Währenddessen bin ich eher besorgt, dass er die Nacht bei mir verbringt, denn falls dem so ist, habe ich nichts zum Frühstücken da. Ich will auch nicht vor ihm mit offenem Mund schlafen. Er erhöht jetzt die Geschwindigkeit und stöhnt dabei wie mein Opa beim Reparieren des Waschbeckens. Zwischen den Grunzlauten tropfen kleine Schweißperlen auf mein Gesicht. Ich muss gähnen und versuche dabei, einen sexy Gesichtsausdruck aufzusetzen—ich wirke dabei aber wie das berühmte Werk von Edvard Munch. Die Grunzer sind inzwischen zu Stakkato-Achtelnoten geworden. Er wird gleich kommen. Die Wirkung des billigen Wodkas hat schon lange nachgelassen und ich muss mich wieder fokussieren. Ich schließe meine Augen und denke an meine anregende Fantasie Nummer 1. 

Die Zeit schreitet schnell voran und der Verkehr auf der Autobahn ist zum Erliegen gekommen. Das Auto vor mir hat ohne Grund den linken Blinker gesetzt und im Radio kommt eine Anwaltswerbung nach der anderen. Mein Atem beschleunigt. „Verletzt? Wir können helfen“, sagt eine Stimme während ich das Lenkrad umklammere. Ich muss es in 15 Minuten zum Flughafen schaffen, sonst verpasse ich meinen Flug und damit auch die Hochzeit meiner kleiner Schwester. Ich streichle meine Klitoris, denn er findet sie einfach nicht. Am Flughafen habe ich schließlich noch fünf Minuten Zeit, aber ich stecke beim Sicherheitscheck hinter einer senilen Rentnerin fest, die mit den Mitarbeitern nur sinnloses Zeug redet. Ich fange an zu keuchen. Ich schaffe es durch alle Kontrollen und renne zu meinem Gate, als dieses schon schließt. Ich klammere mich in mein Bettlaken und komme zum Orgasmus. 

Versteht mich jetzt nicht falsch, Sex mit anderen Leuten bereitet mir immer noch Vergnügen. Es fällt mir manchmal bloß nicht leicht, mich auf meinen Partner zu konzentrieren. Wenn ein scheinbar nicht sexuelles, normales und unschönes Ereignis die Hauptquelle deiner Erregung ist, dann fällt es schwer, das in eine Bettgeschichte mit zwei Personen einzubauen. Ein Rollenspiel, bei dem mein Partner mir unter Zeitdruck Prüfungsfragen stellt oder einen umgekippten Laster spielt, der meinen Weg zur Arbeit blockiert, ist irgendwie nicht so cool. 

Ich habe schon versucht, mit allen möglichen Leuten über meine Vorliebe zu reden. Ich hoffte, irgendeine Community für diese Form der Erregung zu finden, und postete deshalb in einem Online-Forum. Dort antwortete nur ein User und schrieb: „ It helps me relive the stress of those kind of situations ;-).“ Dann wurde das Wort „relive“ (nochmals durchleben) korrigiert zu „relieve“ (abbauen), was den Sinn total verändert. Vielen Dank auch, anonymer User. Die Antwort meines Arztes war ebenfalls wenig hilfreich: „Meines Wissens nach gibt es für diese spezifischen Symptome keinen medizinischen Ausdruck. Stress und Depression können das Gehirn ungewöhnliche Dinge tun lassen, aber wir können nicht alles erklären.“ Ich habe bisher nur eine andere Person getroffen, die das Ganze nicht schockierend oder befremdlich fand. Eine Freundin erzählte mir, dass Stress auch sie regelmäßig geil mache. Bis heute ist sie der einzige andere, mir bekannte Mensch, der eine ähnliche Veranlagung hat. 

Ich habe immer angenommen, dass diese stimulierende Art von Stress nichts Außergewöhnliches ist. Man spricht halt einfach nur nicht darüber. Meine Familie ist von diesem katholischen Schlag, bei dem nach der Hochzeit ein Thermometer zur Verhütung hergenommen wurde, Sex nur zur Fortpflanzung diente und die Klitoris immer noch mit dem „Pinkelloch“ verwechselt wurde. Ich habe garantiert nicht mit meiner Mutter oder meinen Schwestern über meine aufblühenden Vorlieben geredet. 

Nachdem dieser schicksalsreiche Tag in der Schule den Startschuss gegeben hatte, begann mein sexueller Sprint vom Jugend- bis ins Erwachsenen-Alter. Meine Freunde und ich reden offen und oft über Sex, aber meistens nur über den Sex mit anderen Personen. Wir gehen ganz genau jede Bettgeschichte durch, diskutieren aber nur selten darüber, was während dieser Geschichten in unseren Köpfen vorgeht—oder über unsere intimen Fantasien im Allgemeinen. Verwundbarkeit gehört ganz natürlich zum Sex mit dazu. Du öffnest dich jemanden und kommst mit dieser Person auf eine Art zusammen, bei der Fantasien und Verhaltensweisen offen gelegt werden, die du sonst aus Scham, aus Angst vor Stigmatisierung oder wegen katholischer Denkweisen in der Öffentlichkeit nie preisgeben würdest. Es ist ziemlich einfach, über eine gemeinsame Erfahrung zu reden und zu lachen, wie zum Beispiel damals, als du jemandem den Finger in den Arsch gesteckt hast und er drauf geschissen hat. Es ist jedoch etwas ganz anderes, über das zu reden, was passiert, wenn du dich im Grunde selbst fickst. 

Meine Fantasien erlauben mir maximale sexuelle Erfüllung, aber ich habe bis jetzt auch noch nicht viele Leute gefunden, die das Ganze verstehen. Also steckt meine Libido wohl weiterhin irgendwo allein und erregt auf der Autobahn im Stau fest.