Junge Diabetikerinnen hungern sich zu Tode

Bei 285 Millionen Diabetikern weltweit bist du aller Wahrscheinlichkeit nach entweder eine Person oder kennst eine Person, die sich Insulin spritzt und den saftigen Cheeseburger weiterreichen muss. Was du vielleicht nicht über diese weitverbreitete Krankheit weißt, ist, dass eine riesige Anzahl von Erkrankten des Typ 1 eine bisher unerkannte Essstörung namens Diabulimie entwickelt haben, bei der sie ihre Injektionen selbst regulieren, um auf ihre Figur achten zu können. Scheinbar lässt ein Drittel der Diabetikerinnen im Alter zwischen 15 und 30 in Großbritannien ihre Insulinspritzen aus, um Gewicht zu verlieren. In den USA wird der Anteil sogar auf 40 Prozent geschätzt und in Australien auf unglaubliche 80 Prozent. Ich habe mich mit Jacqueline Allan, einer ehemaligen Diabulimie-Kranken und Gründerin der DWED (Diabetics with Eating Disorders), unterhalten, um herauszufinden, wie ernst wir das alles nehmen sollten.
 
VICE: Hi Jacqueline. Warum hast du angefangen, Insulinspritzen auszulassen?
Jacqueline Allan: Na ja, ich hatte eigentlich bereits eine Essstörung, als ich mit Diabetes Typ 1 diagnostiziert wurde, also lief ich da schon die Gefahr, Diabulimie zu entwickeln. Wenn du mit Diabetes diagnostiziert wirst, findest du dich natürlich plötzlich in einem Umfeld wieder, wo es nur um Essen, Sport und Zahlen geht. Also wenn du eine Neigung dazu hast, Dinge zu versauen … Ich war gerade seit einem Jahr damit beschäftigt, meine Bulimie zu überwinden, also wurde ich rückfällig und habe wirklich sofort mein Insulin ausgesetzt.
 
Wie lange ging das so, bevor es jemand bemerkt hat?

Es war ziemlich heftig. Innerhalb von 18 Monaten erlitt ich einen Schlaganfall. Ich war 24 Jahre alt. Die Sache ist, dass eines der Symptome von Typ 1 Diabetes, bevor du diagnostiziert wirst, Gewichtsabnahme ist, weil dein Körper kein Insulin mehr produziert. Auch ich habe das natürlich erlebt und mich krass darüber gefreut. Aber sobald ich mit den Insulinspritzen anfing, habe ich wieder zugenommen.
 
Einen Schlaganfall?
Ja. Als ich anfangs mein Insulin aussetzte, wusste ich, dass es Komplikationen geben würde, aber das hat mich nicht interessiert. Der ganze Sinn einer psychischen Krankheit ist, dass du weißt, dass du das Falsche tust, aber nichts dagegen tun kannst. Bei Bulimie oder Magersucht—und ich sage nicht, dass es keine ernstzunehmende Krankheiten sind—braucht es eine Weile, bis sie tödlich sind. Mit dieser kann es innerhalb von einem Tag passieren—es braucht nur ein Mal, um dich umzubringen. Ich arbeite mit Menschen in Rollstühlen, ich arbeite mit Menschen, die Dialyse brauchen … und das sind alles Frauen um die 25.


Jacqueline Allan

Was kann sonst noch passieren, wenn du dein Insulin nicht nimmst?
Es kann dich unfruchtbar machen, du kannst periphere Neuropathie erleiden (Nervenschäden, normalerweise in deinen Händen und Füßen), autonome Neuropathie, was deinen Blutdruck senkt, sowie Herzprobleme und Nierenleiden. Ein hoher Blutzucker kann in Retinopathie enden, was dich blind machen kann. Zur Zeit ist Diabetes tatsächlich der Hauptverursacher von Blindheit in Großbritannien und den größten Anstieg gibt es hier bei Frauen im Alter zwischen 15 und 30. Dann gibt es noch Gastroparese, die alle Nerven im Bauch tötet. Das ist ironisch, weil das bedeutet, dass Essen nicht in deine Gedärme durchdringt und du dich nur übergibst. Im Krankenhaus denken sie dann, dass du Bulimie hast. Es kann zu Darmversagen kommen und du pinkelst dich ein—ich kenne Mädchen, die Windeln tragen müssen.
 
Also vergleichbar mit nicht diagnostizierter Typ-1-Diabetes—einfach grausam. Warum habe ich noch nie von dieser Krankheit gehört?
Im Moment ist Diabulimie nicht offiziell als psychische Krankheit anerkannt, aber DWED wird es hoffentlich ins DSM (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) bringen, welches im Mai herausgebracht wird. Zur Zeit diagnostizieren die dich fälschlicherweise mit Magersucht und geben dir im Krankenhaus all dieses zuckerreiche Essen, was nicht gut ist, wenn du Diabetes hast!
 
Machen es Krankenhäuser oft falsch?
Ich hatte eine Freundin, die in stationärer Behandlung war. Sie haben ihr beim Essen zugekuckt, aber sie haben nicht beobachtet, ob sie sich spritzt, also verlor sie die ganze Zeit Gewicht. Letztendlich ist sie umgekippt und auf der Station gestorben, umgeben von Ärzten. Eine andere Freundin von mir hatte akute Gastroparese und war für acht Monate wegen Bulimie im Krankenhaus, bevor sie ihren Bauch geröntgt haben. Sie war echt schon halbtot. Sobald sie geröntgt hatten, haben sie ihr einen Schrittmacher für ihren Magen angefertigt und sie konnte zwei Wochen später das Krankenhaus verlassen.
 
Machst du dir Sorgen, dass Medienberichterstattung für diese Essstörung unter Diabetikern werben könnte?
Um ehrlich zu sein, sind wir immer sehr vorsichtig in unserem Umgang mit der Presse, weil es gefährlich ist. Es ist nicht das gleiche, wie auf eine Radikalkur zu gehen—eine Radikalkur wird dich nicht innerhalb von drei Tagen umbringen. Ich hatte schon Leute, die zu mir kamen und sagten: „Ich habe was in einem Magazin darüber gelesen, also habe ich es ausprobiert.“ Eine meiner besten Freundinnen hat das gemacht und starb vor zwei Jahren—sie hat sich selbst so viel Schaden zugefügt, dass sie einfach eines Abends zu Bett ging und nicht wieder aufgewacht ist.
 
Oh Gott, das klingt grauenhaft. Bekommst du positive Rückmeldungen zu DWED?
Ja—als wir anfingen, gab es 30 von uns, und jetzt gibt es weltweit 2.000. Wenn jemand mit einem Problem zu uns kommt, kontaktieren wir deren Hausarzt und Diabetesklinik und finden heraus, wo sie bei einer Essstörung behandelt werden können und versuchen, sie über Diabulimie aufzuklären. Wir hatten sehr viel Erfolg allein dadurch, dass wir in diesem Stadium eingreifen.    
 
Auch wenn es sich so anhört, als sei alles dem Untergang geweiht, ist es nie zu spät für eine Genesung. Ich hatte eine akute Retinopathie und ich hatte einen Schlaganfall—aber jetzt stehe ich kurz vor dem Abschluss meines zweiten Diploms und ich führe hauptberuflich eine Wohltätigkeitsorganisation. Du denkst vielleicht, dass du schon zu tief drin steckst, aber das ist nicht der Fall. Jeder da draußen, der leidet, kann sich bei uns melden und wir werden unser Bestes versuchen, ihnen zu helfen.
 
Danke, Jacqueline. 

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