Popkultur

„The Big Lebowski“ hat mir beigebracht, locker zu bleiben

Wenn man Leute dazu auffordert, die schlimmsten Gräueltaten des 20. Jahrhunderts aufzuzählen—zum Beispiel beim Party-Small-Talk oder bei Familienduell—, dann sind die folgenden Themen auf jeden Fall dabei: Nationalsozialismus, die stalinistischen Pogrome, die Roten Khmer, diverse afrikanische Diktatoren und südamerikanische Juntas. Natürlich haben sie alle ihren berechtigten Platz in der Liste, aber sie werden von einem Ereignis getoppt. Das Schlimmste, was im 20. Jahrhundert passiert ist, ist ohne Zweifel Virgin Film Guides Entscheidung, The Big Lebowski—das humoristische Meisterwerk der Coen-Brüder—mit nur eineinhalb von fünf möglichen Sternen zu bewerten.

Nur vier der hunderttausend anderen in diesem dicken Wälzer besprochenen Filme bekamen eine noch niedrigere Bewertung: Pokémon – Der Film, Schweinchen Babe in der großen Stadt, Angriff der Killertomaten und Geächtet von Howard Hughes. Als qualitativ gleichwertig zu The Big Lebowski werden filmische Kunstwerke wie Ein ausgekochtes Schlitzohr, Showgirls und Der Blob angesehen. „So schnell wendet sich das Blatt“, beginnt der klugerweise anonym bleibende Kritiker. „Zwei Jahre nach Fargo, dem wahrscheinlich besten Film von Joel und Ethan Coen, bringen sie einen Streifen, der ganz klar ihr schlechtester ist.“

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Lieber Virgin Film Guide, du liegst falsch.

Die Handlung, die bestimmt auch deiner Meinung nach alle Kriterien der klassischen aristotelischen Poetik erfüllt, beginnt folgendermaßen: Schlägertypen, pinkeln auf den geliebten Teppich unseres Protagonisten, dem glücklich arbeitslosen Kiffer und begeisterten Amateurbowler Jeff Lebowski (Jeff Bridges) aka The Dude—oder El Duderino, falls dir das mit den Kurznamen nicht so liegt—, weil sie ihn mit einem Millionär gleichen Namens verwechseln, der ihnen Geld schuldet. Nachdem Jeff mit seinem Millionärs-Namensvetter über eine Entschädigung diskutiert, wird er schließlich auch noch in eine Lösegeld-Übergabe verwickelt. Bunny (Tara Reid), die nebenberufliche Pornodarstellerin und Vorzeige-Ehefrau des reichen Lebowski, soll nämlich von deutschen, Technopop-spielenden Nihilisten entführt worden sein.

Wie auch immer, Dudes leicht reizbarer Bowling-Partner, der Vietnam-Veteran Walter Sobchak (John Goodman), heckt einen Plan aus, um die Kohle zu behalten. Dieser Plan schlägt jedoch fehl und auch die Schrottkarre vom Dude wird bald gestohlen. Dadurch sehen sich die beiden ungleichen Detektive dazu gezwungen, Bunny, das Geld und das Auto ausfindig zu machen. Ihr seht schon, alles ist ziemlich kompliziert.

Aber keine Sorge, denn die Handlung von The Big Lebowski ist für den Film—wie so oft im Leben, auch wenn wir ständig auf der Suche nach einem Sinn hinter allem sind— eigentlich gar nicht so wichtig. Dieser Tatsache scheint sich unser Kritiker allerdings nicht bewusst zu sein. Für ihn „stellen die Coens L.A.s verrückte Unterwelt einfach viel zu verschachtelt dar—und das ziemlich verzweifelt.“ Dieser Vollpfosten findet die Parodie einer surrealen Kiffer-Klamotte kombiniert mit knallharter Detektiv-Geschichte einfach nicht lustig. Die Anspielung auf Raymond Chandlers Kriminalroman Der große Schlaf (engl.: The Big Sleep) wird als „der einzige Witz“ des Films abgetan. Wovon zum Teufel redet der eigentlich?

Lebowskis Komik wird durch jeden absolut perfekten Moment des stringenten Skripts getragen. Nur selten werden zwei Akteure (eigentlich drei, wenn wir den von Steve Buscemi gespielten, glücklosen Donny—das dritte Mitglied des Bowling-Teams—mit einbeziehen) durch so absurde und alberne Dialoge so gut dargestellt. Unterm Strich handelt es sich hier um einen Buddy-Film: Walter und der Dude, Choleriker und Kiffer, bilden im Angesicht der alltäglichen Herausforderungen der Welt ein symbiotisches Yin und Yang aus Gelassenheit und Wut.

Als ich mir den Film das erste (und zweite und dritte) Mal angeguckt habe, war es wie eine unterhaltsame Achterbahnfahrt durch unvorhergesehene Wendungen, absurde Situationen und schrullige Charaktere—zum Beispiel Juliane Moore als Konzeptkünstlerin Maude Lebowski, die den unbeirrbaren Dude über „Koitus“ ausfragt, John Turturro als pädophiler Bowling-Profi Jesus Quintana und Philip Seymour Hoffmann als verklemmter Assistent Brandt. Das war aber erst der Anfang meiner Beziehung mit The Big Lebowski.

Als ich den Film später mit Popcorn statt Gras ansah, waren meine Lachanfälle nicht mehr ganz so spontan, sondern hatten einen eher intellektuellen Hintergrund. Mir wurde die versteckte Tiefe, die indirekte gesellschaftspolitische Satire und die allegorische Fülle von The Big Lebowski bewusst. Vielleicht habe ich mir das aber auch nur eingeredet. Mit meiner Begeisterung bin ich jedoch nicht alleine: Der Kultstatus des Films wird durch die extra dafür eingerichtete Fanseite dudeism.com untermauert. Dort kannst du zum Dude-Priester geweiht werden (vielleicht wurde auf die Macher des Virgin Film Guides schon ein Fatwa ausgesprochen) und dich durch esoterische Essays lesen, die die schlichten Weisheiten des Films analysieren. Beispiele hierfür sind die taoistischen Lehren, der häufige Gebrauch des Wortes „Fuck“ oder was uns der Film über Cricket zu sagen hat (Achtung, dieser Artikel wurde von mir geschrieben). 

Mir wurde klar, dass ich bis dahin immer das subtile Sticheln und die leichte Verdrehung des amerikanischen Traums—des stärksten Kontrollmechanismus überhaupt—außer Acht gelassen hatte. Arbeite hart und gib niemals auf, dann steigst du in der Gesellschaft auf. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Wir alle können Gewinner sein! Natürlich meidet der Dude das stressige Hamsterrad des Strebens und ist glücklich, wenn er einfach nur ein wenig herumfahren, etwas bowlen und sich ab und an mal einen Acid-Flashback gönnen kann. Er lehnt das Konzept einer sozialen Hierarchie sogar ganz ab, fühlt sich im luxuriösen Anwesen des Porno-Produzenten Jackie Treehorn wie Zuhause und zeigt vor dem Polizeichef keinen Respekt („Verschissener Faschist“). Die „verschiedenen Auszeichnungen, Anerkennungen und Ehrendiplome“ des anderen Lebowskis lassen den Dude so unbeeindruckt, dass er während Brandts auswendig gelernten Erzählungen immer wieder die Dinge anfasst, die er in Ruhe lassen soll. So werden diese unsichtbaren, aber trotzdem bestehenden sozialen Grenzen überschritten. Und wie sich herausstellt, ist der Bilderbuch-Erfolgsmensch und Selfmade-Millionär Lebowski Nummer Zwei ein Betrüger, der sich das Geld aus seiner Stiftung selbst in die Tasche steckt. Hinter dem leistungsorientierten Mythos des amerikanischen Traums stecken Korruption und Zynismus.

Als mir das alles klar wurde, machte ich gerade meinen Master oder meinen Doktor (da kann ich mich ehrlich gesagt nicht mehr so genau daran erinnern) und rutschte langsam in eine Lebenskrise ab. Ich bewegte mich auf eine Zukunft zu, die ich nicht wirklich wollte und in der ich für mich keinen Sinn sah. Motivation war Mangelware. Andere schoben Dinge nur auf, ich machte das auf einer ganz anderen Ebene: Ich arbeitete daran, daran zu arbeiten, zu arbeiten. Ich bin mir sicher, dass im Virgin Film Guide auch so Dinge stehen wie „Ohne Motivation gibt es auch keine Charakterentwicklung“. The Big Lebowski brachte mir jedoch bei, locker zu bleiben, das Leben an sich zu genießen und mich nicht zu sehr auf Ziele einzuschießen. Allerdings waren solche Lektionen erst der Anfang. Meine lebenslange Bindung zum Film und meine Verwandlung zum Dude—das kam alles ein paar Jahre später.

Im Juli 2006 fand ich mich in der Türkei wieder. Ein paar Wochen zuvor war mir mein Laptop gestohlen worden und damit auch meine gesamte Doktorarbeit inklusive Sicherheitskopien. Die Deadline hätte ich nie einhalten können. Was machte ich also in der Türkei? Ich versuchte, Immobilienfirmen Werbeflächen auf der Website eines Fernsehsenders zu verkaufen. Angeleitet wurde ich dabei von meinem besten Freund, der wegen dem Ende seiner Beziehung knapp vor einem Nervenzusammenbruch stand und seinen Job in der Videoproduktion für ein Jahr aufs Eis legte, nachdem er an seinem ersten Tag im Verkauf über zweitausend Euro verdient hatte. So läuft es halt manchmal. Ich befand mich in einer schlimmen Krise und war mir ziemlich sicher, dass das gottverdammte Flugzeug in den Bergen abgestürzt war. Trotzdem setzte „Mr. Sling“ (nicht sein echter Name) meinem täglichen Ritual aus drei Fußball-WM-Partien mit seinem Angebot ein Ende: Ich würde entweder einen ganzen Batzen Geld verdienen oder im schlimmsten Fall einen von ihm bezahlten Urlaub machen. Nichts ist im Arsch.

Der Dude war kein wirklicher Detektiv und auch ich fühlte mich doch ziemlich fehl am Platz. Ich meine, welcher „zur dringenden Problemlösung aus London eingeflogene“ Geschäftsmann trägt billige Discounter-Hosen und -Shirts? Nichtsdestotrotz „verdiente“ ich in acht Tagen knapp 4700 Euro. Das war schon ein ziemlich großer Geldsegen, wenn man bedankt, dass ich die vorhergegangenen 12 Monate alle zwei Wochen 137 Euro vom Staat als Entschädigung für meine vorgetäuschte Jobsuche überwiesen bekam. Eigentlich maximierte ich so nur die Zeit, um meiner Doktorarbeit noch weiter hinterher zu hängen. Und plötzlich befand ich mich in Altinkum und verkaufte das Brutzeln, und nicht das Steak.

Sowohl Sling als auch ich waren The Big Lebowski-Verehrer. Obwohl wir viel Spaß miteinander hatten, lebten wir dort an der ägäischen Küste unseren eigenen kathartischen Buddy-Film. Es schien, als würde ein Zitat (wortwörtlich oder etwas abgewandelt) aus The Big Lebowski zu jeder Situation passen: ein sarkastisches „Wenn das mal nicht verdammt interessant ist“ (so gesehen unsere „Zurechtweisung“), „Neue Dinge sind ans Licht gekommen“ bei Interesse eines zögerlichen Kunden, „Wer ist für die Planung verantwortlich?“ oder „Gibt es irgendwelche vielversprechenden, ähm, Hinweise?“ bei Herausgabe der Tagestermine oder „Unsere bekackten Sorgen haben ein Ende“ als wir dachten, dass wir bei einem richtig fetten TV-Werbungs-Deal eine Provision von 25 Prozent bekommen würden.

Die Zitierfähigkeit von The Big Lebowski hat also nichts mit dem Geek-Gehabe zu tun, das bei so vielen anderen Kultfilmen aufkommt. Hier gibt es keine banale Wiederholungen von selbstbeweihräuchernden Fanboys, die damit nur die anderen Anhänger übertrumpfen und sich zum Alpha-Tier der Gruppe küren wollen. Während man dieses Verhalten mit dem Fangen und Konservieren von Schmetterlingen vergleichen könnte, animieren wir die Schmetterlinge quasi zum Fliegen—in dem wir den Zitaten einen neuen Kontext geben.

Wie dem auch sei, einer von Slings ersten Geschäftspartner war Deniz—früher Kellner, jetzt Bauunternehmer. Wegen ihm zogen wir vom engen und armseligen Doppelzimmer des Seabird Hotels in eine großflächige Maisonette-Wohnung. Wir hatten nur zwei Probleme: Die Waschmaschine funktionierte nicht und Deniz ließ sich mit dem Ausstellen des Schecks sehr viel Zeit. Nach sechs Tagen voller Handwäsche, Hinhalte-Taktiken und Gemauschel stiefelten wir in sein Büro und wollten wissen, was zum Teufel eigentlich abgeht. Sling machte einen auf Walter Sobchak und geizte nicht mit der Benutzung des Wortes „Fuck“. Das ließ bei Deniz schließlich endgültig die Sicherung durchbrennen: Er warf uns aus „unserem“ Luxus-Apartment, drohte damit, uns wegen den fehlenden Arbeitsvisas bei der Polizei anzuschwärzen, und wollte sich beim TV-Sender über uns beschweren.

Mit gesenktem Haupt verließen wir still das Büro und waren ein wenig verärgert darüber, dass die Party vorbei war. Uns wurden langsam die Folgen unseres ehrlich gesagt unnötigen Maulheldentums bewusst. Nach einer ganzen Weile brach ich unser Schweigen: „Mir gefällt ihre Art, Geschäfte zu machen, Jackie.“ Er erwiderte: „Scheiß drauf, lass uns bowlen gehen.“ Und dann lachte ich so sehr wie noch nie zuvor in meinem Leben. Wir machten uns auf den Weg zurück ins Seabird Hotel, es musste ja weitergehen.

An diesem Tag wurde mir klar, dass es egal ist, was dir alles passiert. Wichtig ist nur, wie du mit den Höhen und Tiefen des Lebens umgehst. Du hast einen Nervenzusammenbruch? Deine Arbeit der vergangenen 15 Monate ist für die Katz? Nichts ist im Arsch …