Foto: Panegyrics of Granovetter | Flickr | CC BY-SA 2.0
Beim Thema Türkei interessiert die meisten Deutschen vor allem, wie lange die Dönerbude nachts noch auf hat. Dabei ist zurzeit einiges los im Land am Bosporus: Da wäre der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, der schon seit Wochen in der Türkei in Haft sitzt. Oder Redeverbote für türkische Politiker in Deutschland, die Werbung machen wollen für ein Verfassungsreferendum, das Staatschef Erdoğan noch mehr Macht geben soll. Oder der Beef, den das Land gerade wegen desselben Themas mit den Niederlanden hat.
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Menschen mit türkischen Wurzeln stellen die größte Ausländergruppe in Deutschland, fast drei Millionen Menschen sind es. Zeit also, dich über deinen Pauschalurlaub an der türkischen Riviera hinaus mal mehr mit “diesen Leuten” auseinanderzusetzen. Deshalb haben Melisa Karakus und Robin White vom deutsch-türkischen Magazin renk einen Guide für uns zusammengestellt. Hier geht es zu Teil 1. Und nun zu Teil 2:
Nationalstolz
Die Türken besitzen einen ausgeprägten Nationalstolz. Doch warum? Vor allem, weil Gründungsvater Atatürk es 1923 schaffte, die Türkei quasi über Nacht in eine moderne und westlich orientierte Republik zu verwandeln. Dafür blickt er noch heute von Zimmerwänden im ganzen Land auf sein stolzes Volk. Egal, wie feindlich sich die politischen Lager der Türkei gegenüberstehen, sie alle himmeln diesen Mann an wie einen Popstar. Eine der wichtigsten Ideen Atatürks war die Trennung von Staat und Religion. Er würde sich ziemlich sicher im Grab umdrehen bei dem, was heute in der Türkei passiert.
Auch erwähnenswert: Naber (z.Dt.: “Was geht?”)
Ott
Als Teenager hast du mit diesem Begriff um dich geschmissen, um beim Kiffen auf dem Spielplatz lässig rüberzukommen. Heute verwendest du ihn manchmal noch, um cool zu wirken, wenn du als Endzwanziger peinlicherweise deinen Nachbarsjungen nach einer guten Connection anhaust. Doch in Wahrheit ist es ein türkisches Wort, nämlich “Ot” – übersetzt einfach nur Kraut. Auf einer Internetplattform für Umgangssprache werden folgende Verwendungsbeispiele aufgeführt:
“Bruder hast du Ot für mich da? Ja? Korrekt, gib ma Zwanni, lan!”
Farid: “Deine Mutter macht schlechten Salat”
Wolfgang: “Und deine Mutter bläst für Ott”
Auch erwähnenswert: Osmanisches Reich
Penis
Das gute Stück ist bei fast allen türkischen Männer beschnitten. Den Eingriff zelebriert man in vielen Kulturen, aber die Türken packen da noch eine Schippe drauf. Schließlich müssen alle 2.378 Verwandten darüber informiert werden, dass aus dem Kleinen (meistens zwischen sechs und zwölf Jahre alt) jetzt ein echter Mann geworden ist. Damit er sich wie ein Prinz fühlt, darf er einen glitzerbestickten, weißen Satinanzug mit Krönchen und Zepter tragen – denn Kitsch darf auch beim Beschneidungsfest nicht fehlen. Klar, dass dies ein weiterer Anlass ist, bei schlechter türkischer Musik den ganzen Abend lang Raki zu trinken. Auch klar, dass niemand feiert, wenn die Tochter das erste mal ihre Periode bekommt und somit zur Frau wird.
Queere Szene in der Türkei
Die LGBTQ-Community hat es schwer in der Türkei. Obwohl Trans- und Homosexualität juristisch gesehen kein Verbrechen sind, kam es Laut einer Studie von Transgender Europe in den vergangenen Jahren in keinem anderen europäischen Land zu mehr Morden und tödlichen Übergriffen auf Homosexuelle und Transgender. Soziale Ausgrenzung und beispielsweise die Verweigerung von Arbeitsplätzen zwingen sie oft zur Sexarbeit, wo sie völlig ungeschützt das Ziel von Hassverbrechen sind. Während fast alle aus der Community am Rand der Gesellschaft leben, gibt es in den Medien einige homo- und transsexuelle Stars, die anerkannt und akzeptiert sind. Eines der besten Beispiele ist die transsexuelle Popikone Bülent Ersoy. Ihr Privatleben und die Geschlechtsangleichung werden bei ihr einfach ausgeklammert.
Raki
Scheiß mal auf Ayran und Uludağ! Wenn du richtig Spaß haben willst, greifst du zum Raki! Ähnlich wie Ouzo schmeckt das Nationalgetränk nach Anis und Lakritz, nur weniger süß. Anfangs etwas gewöhnungsbedürftig freundest du dich wohl auf der Hälfte des ersten Glases langsam mit ihm an. Den nächsten kriegst du dann dank ein paar Mezze (türkische Vorspeisen) schon viel souveräner runter. Das dritte Glas auf der Hochzeit deines langjährigen Schulkollegen lässt dich den Halay mit der türkischen Großfamilie tanzen. Und spätestens die vierte Runde bestellst du fließend auf Türkisch. Prost!
Auch erwähnenswert: Recep Tayyip Erdoğan, renk.
Sex
Diesen hast du selbstverständlich nicht vor der Ehe – oder nur Analverkehr. Wenn Allah eine Pforte schließt, öffnet sich eben ein Hintertürchen. Schwachsinn! In extrem konservativen Familien wird das Thema Sex noch tabuisiert, aber der/die emanzipierte Durchschnittstürke/-türkin von Welt treibt sich genauso auf Tinder herum wie jeder andere Verzweifelte von euch auch. Also bei der nächsten Ayse oder dem nächsten Umut kannst du ganz beruhigt nach rechts swipen.
Auch erwähnenswert: Schweinefleisch, Sucuk
Şinitzel (vor dem T kommt im türkischen Alphabet das S mit Cedille)
Während viele andere Sprachen Anglizismen nutzen, bedienen sich die Türken nicht der englischen, sondern der deutschen Sprache. Türkisch ist schön, aber was es besonders charmant macht, sind die vielen deutschen Wörter, von denen du nicht die leiseste Ahnung hattest, dass sie eingetürkischt wurden. Hier einige Klassiker:
Das Şinitzel (ausgesprochen: Schienitsell) wirst du auf der Karte jedes Restaurants in der Türkei genau so geschrieben finden. Es ist wie das deutsche Gericht – nur selbstverständlich nicht aus Schwein. Dann gibt es im Türkischen auch noch das Arşiv (Archiv), den Aysberg (Eisberg) sowie den Faşing (Fasching). Und was wäre Deutschland wohl ohne seine Otoban (Autobahn)?
Temperament
Man könnte meinen, hitzige Länder brächten hitzige Köpfe hervor. Menschen mit Migrationshintergrund (in Deutschland vor allem Türken) haben dieses soziales Stigma, das sie nur schwer loswerden. Es heißt, sogenannte “Südländer” seien besonders aggressiv. Dabei gibt es dafür keinen Hinweis in den Statistiken zur Ausländerkriminalität. Ein gesteigertes Aggressionspotenzial hängt nicht von der Herkunft, sondern von ganz anderen Faktoren ab: dem Bildungsniveau, der Diskriminierungserfahrung oder einer eventuellen Arbeitslosigkeit. Es gibt also nichts, was nicht auch bei einem Glas Raki geklärt werden könnte.
Auch erwähnenswert: Tarkan, Tavla (Backgammon), TRT (öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft der Türkei)
Uludağ
Falls du dir nichts Erfrischenderes vorstellen kannst als Kinderkaugummis in Wasser aufgelöst, dann wirst du dich über eine eiskalte Dose Uludağ freuen. Vergleichen lässt sich der Kultstatus des Getränks am ehesten mit dem von Vitacola, die ihren Siegeszug in der damaligen DDR feierte. Wenn sie eine Uludağ schlürfen, fühlen sich viele der in Deutschland lebenden Türken an ihre Kindheit und Besuche in der Türkei erinnert. Sorry an alle Veganer, die sich das Zeug versehentlich einverleibt haben! Denn sieht man sich die Zutatenliste an, sticht eine besonders hervor: Molke.
Volkstanz Halay
Falls du gerne deine Hüften schwingst, solltest du nicht gleich mit orientalischem Bauchtanz durchstarten, sondern klein anfangen. Während irgendwie jeder den Sirtaki kann und dieser manchmal sogar im Bierzelt vom Dorffest ausgepackt wird, haben wohl die wenigsten von der türkischen Variante gehört, dem ‘Halay’. Wenn du den nicht beherrschst, bist du auf der Tanzfläche jeder türkischen Feier genauso fehl am Platz, wie wenn du den Macarena auf dem 90s Floor nicht bringen kannst. Das Gute: Du musst dich einfach nur links und rechts mit deinen kleinen Fingern bei den Mittänzern einhaken und nachmachen, was die so treiben. Das Schlechte: Wenn du es verkackst, bringst du gleich eine womöglich sehr lange Menschenkette aus dem Takt. Vielleicht solltest du dann doch lieber beim Macarena bleiben.
Wrestling
Zwei Männer in glänzenden Lederhosen, von Kopf bis Fuß mit Olivenöl eingeschmiert, die sich auf einem Rasen unter der prallen Sonne gegenseitig zu Boden drücken. Sie stöhnen und schreien, hier und da wandern die Hände in die Hose des Gegners. Klingt wie ein Wettbewerb im Schwulenclub, ist aber Yağlı güreş – Öl-Ringen. Dieser archaische Kampf ist eine abgewandelte Form von Wrestling und gilt als Volkssport der Türkei. Selbstverständlich wird er nur von den härtesten Männern betrieben.
Auch erwähnenswert: Wallah (“Ich schwöre bei Gott”)
Nix
Diesen Buchstaben haben sich die Türken geschenkt und aus ihrem Alphabet gestrichen. Genauso wie eigentlich auch das W – dazu sagen sie umgangssprachlich einfach Double-Ju, wie im Englischen.
Yakamoz
Die Türken sind ein sehr poetisches Volk. Neben Tausenden von Sprichwörtern haben sie auch Bezeichnungen, die Dinge beschreiben, für die man im Deutschen noch mindestens fünf zusätzliche Wörter bräuchte. Kein Wunder also, dass sie oft ganze Wortteile eines Satzes weglassen, wenn sie deutsch sprechen. Leider klingt das nicht nach Poesie, sondern eher nach Rütli-Schule. Doch in ihrer eigenen Sprache könnte man bei so manchem Ausdruck glatt dahinschmelzen, zum Beispiel bei “Yakamoz”. Wörtlich übersetzt: die Widerspiegelung des Mondes im Wasser. 2007 wurde der Begriff sogar zum schönsten Wort der Welt gewählt. BÄM! Nimm das, deutsche Sprache!
Zigaretten
Neben Raki und Ot lieben Türken auch Zigaretten. Auf der Weltrangliste der rauchenden Länder steht die Türkei auf dem siebten Platz. Doch wenn du schon mal an einem dieser dubios wirkenden, schlecht ausgestatteten Männercafés vorbeigegangen bist, verwundert das nicht. Schließlich könnte man denken, dass es neben Tavlazocken (türkisches Backgammon) und Mokkatrinken doch wohl nichts Spannenderes gibt, als bis spät in die Nacht im gemütlichen Licht der Neonröhren eine nach der anderen zu quarzen. Die Cafés sind ein wichtiger Treffpunkt für Männer aller Altersklassen, sozusagen das adrenalingeladene Gegenstück zum Kaffeeklatsch der Hausfrauen – die auch die kitschigen, weißen Platzdeckchen häkeln, welche nachher in den Cafés landen.