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Tierquälerei auf TikTok: Wo Menschen lebendige Krabben snacken

Frau mit Krustentier im Mund

Der Fisch zappelt noch in der Faust des Mannes, formt seine Lippen zu einem “O”. Dann schiebt der Mann den Fisch in den Mund und beißt ihm mit einem kräftigen Happs den Kopf ab. Das getötete Tier lässt die Flossen hängen.

Das Video kommt nicht etwa aus einem versteckten Forum für verstörende Essgewohnheiten: Es erschien in unserem personalisierten Feed auf TikTok, der meistgehypten Social-Media-Plattform des Jahres mit weltweit rund 800 Millionen Nutzerinnen und Nutzern. Wie die meisten TikTok-Videos ist auch dieses Video mit einem heiteren Musikclip hinterlegt. Während der Fisch seinen Kopf verliert, sind die Zeilen “Put me in your mouth, baby” von der Rapperin Doja Cat zu hören. Wie zum Geier ist das Video in unserem TikTok-Feed gelandet?

Videos by VICE

TikTok gestaltet den Video-Feed nach persönlichen Vorlieben. Das heißt, die App soll lernen, welche Inhalte einem Nutzer gefallen – und dann umso mehr davon liefern. Als wir mit einem Test-Account vor allem bei süßen Tiervideos hängen blieben, füllte sich unser Feed mehr und mehr damit. Plötzlich tauchten aber auch verstörende Tiervideos auf. Der lebendig verspeiste Fisch ist nur eines von vielen.

Ein anderes Video zeigt eine Frau vor einer Schüssel voller Krabben. Die Tiere sind etwa handtellergroß und wimmeln umher. Dann pickt die Frau eine Krabbe aus der Schüssel, reißt ihr die Beine aus und beißt hinein. In einem anderen Video hält eine Frau einen Hummer über eine Pfanne, die offenbar mit heißem Öl gefüllt ist. Das Tier wehrt sich mit Kraft dagegen, in die Flüssigkeit getunkt zu werden, das Video hat 46.100 “Gefällt mir”-Angaben.

TikTok führte uns tiefer ins Kaninchenloch

Insgesamt wurden uns mindestens vier Videos ausgespielt, in denen Menschen sich windende Meerestiere verspeisen. Mindestens sieben weitere Videos sind auf andere Weise aufwühlend: Eines zeigt einen Mann, der den Panzer einer noch lebenden Krabbe mit einer Zange aufbricht. Ein anderes Video zeigt einen scheinbar toten Straßenhund, umwölkt von Fliegen. Erst als der Hund blinzelt, wird klar, dass er noch lebt. Ein drittes Video zeigt einen abgemagerten, ängstlich zitternden Hund mit verkrüppelten Vorderbeinen, es hat 94,7k “Gefällt mir”-Angaben.

Je mehr dieser Videos wir bis zum Ende anschauen, desto tiefer fallen wir in ein Kaninchenloch aus Grusel-Content. Bald ist unser Feed voll von Tiervideos, die einem ein mulmiges Gefühl vermitteln. Offenbar haben TikToks Algorithmen angenommen, dass wir uns besonders dafür interessieren.

Vor wenigen Wochen hatten Recherchen von netzpolitik.org gezeigt, dass TikTok hochgeladene Videos ausführlich von Mitarbeitenden überprüfen lässt. Demnach werden einige Videos besonders gepusht, sodass sie mehr Menschen angezeigt werden. Andere, offenbar weniger erwünschte Videos, werden dagegen herabgestuft, sodass sie im härtesten Fall nur noch für den Uploader sichtbar sind. Nach diesem System hat TikTok etwa Videos von Menschen mit Behinderung herabgestuft sowie Videos mit queeren und dicken Menschen. Das hat der Konzern öffentlich zugegeben und Besserung gelobt: Inzwischen seien die Regeln andere.

Bisher war keine Rede davon, ob und wie TikTok verstörende Tiervideos moderiert.

Dabei passen die Tiervideos so gar nicht zu dem Image, für das TikTok in der Öffentlichkeit stehen möchte. Auf der TikTok-Website heißt es: “Die Plattform ist ein Zuhause für kreative Videos, die für authentische, inspirierende und lustige Erfahrungen sorgen.” Was ist “lustig” daran, einen lebendigen Fisch zu snacken? Wieso ist ein halbtoter Straßenhund “inspirierend”?

Zwei aufwühlende Videos haben wir der Pressestelle von TikTok vorgelegt: die lebendig verspeisten Krabben und der Überlebenskampf des Hummers über der Bratpfanne. Aus der Antwort der Pressesprecherin geht hervor, dass TikTok diese Videos zunächst OK findet. Man respektiere lokale Gebräuche und Gesetze, erklärt eine Pressesprecherin. “Es kann dabei vorkommen, dass manche Inhalte für Nutzer nicht in Übereinstimmung mit ihren persönlichen Werten sind, obwohl örtliche Gebräuche und Gesetze diese Inhalte zulassen.” Wer diese Videos nicht sehen will, könne zum Beispiel die Nutzer blockieren.

Tierschützerinnen fordern Warnhinweise

Tierschützerinnen und Tierschützern sehen das kritischer. Wir haben ihnen einige der TikTok-Videos gezeigt, in denen lebendige Tiere roh verspeist werden. “Aus Tierschutzsicht handelt es sich um höchst problematische Taten, da den Tieren vermeidbare Schmerzen zugefügt werden”, sagt Diana von Webel von der Albert-Schweitzer-Stiftung. Lea Schmitz vom Deutschen Tierschutzbund sagt: “Klar ist, dass die Tiere in den Videos Stress und Schmerzen empfinden.” Die Tötungsweise des Fisches zum Beispiel entspreche “überhaupt nicht dem deutschen Tierschutzgesetz oder unseren Vorstellungen davon, wie ein Tier getötet werden sollte”.

Bei der Kritik muss natürlich bedacht werden, dass sich europäische Ess- und Kochgewohnheiten von anderen unterscheiden. Davon spricht auch die Pressestelle von TikTok, wenn sie Gebräuche und Gesetze erwähnt. “Ein gewisser Eurozentrismus ist sicher auch bei unserem Tierverständnis gegeben und kann dieses limitieren”, gesteht Diana von Webel von der Albert-Schweitzer-Stiftung ein. In der Schweiz etwa müssen Hummer vorm Kochen seit dem Jahr 2018 betäubt werden. In vielen Ländern beispielsweise in Asien und Europa ist es aber weiterhin typisch, Krustentiere lebendig in kochendes Wasser zu werfen oder langsam in Wasser zu erhitzen. Sich windende Tintenfische gelten zum Beispiel in Südkorea als Delikatesse.

Immerhin: Die Pressestelle von TikTok teilt uns mit, dass das Video mit dem Hummer über der Bratpfanne fortan in der Schweiz gesperrt werde – aufgrund der lokalen Gesetze. Offenbar sind vor allem Gesetze ein entscheidender Faktor für TikToks moralischen Kompass. Nutzerinnen und Nutzer hätten jederzeit die Möglichkeit, Inhalte an TikTok zu melden, sagt die Sprecherin. Unklar ist aber, wie eng TikToks Moderationsteam in diesem Fall das deutsche Tierschutzgesetz auslegt. Darin heißt es immerhin: “Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.” Und das Verspeisen lebendiger Krabben fällt nicht darunter?


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Selbst mit Rücksicht auf andere Essgewohnheiten kritisieren beide Tierschutzverbände die Art, wie die Videos auf TikTok präsentiert werden. “Wenn sich entsprechende Videos stark verbreiten, ist der Nachahmungseffekt beträchtlich und die Leute verlieren den Blick für das Leid der Tiere”, sagt Lea Schmitz. “Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass es OK, normal oder gar lustig ist, was gezeigt wird.”

Diana von Webel schätzt, die Videos könnten vor allem Kinder verstören – und TikTok wird vor allem von Kindern und Jugendlichen genutzt. “Unserer Meinung nach sollten sie solche Szenen nicht anschauen, ohne das Gesehene zusammen mit einer erwachsenen Person reflektieren und einordnen zu können”, sagt von Webel. Lea Schmitz vom Deutschen Tierschutzbund fordert, dass entsprechende Videos zumindest mit einem Warnhinweis gekennzeichnet sein sollten.

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