Timo war sieben, als er merkte, dass er weniger Spaß am Leben hat als die anderen Kinder aus seiner Klasse. Während Gleichaltrige auf dem Pausenhof Panini-Sticker tauschten und Spielenachmittage planten, verbrachte Timo seine Schulzeit vom Kindergarten bis zum Abschluss größtenteils alleine. Schon im Kindergarten sei er gemobbt worden, sagt der 25-Jährige heute, auch später habe er kaum Freunde und Freundinnen gehabt, mit denen er nach der Schule die Zeit verbrachte. “Die anderen Kinder wirkten immer fröhlich. Ich hatte das Gefühl, ich könnte nicht einmal zu Hause Spaß haben.” Damals habe er nicht gewusst, woher diese Gedanken kommen. Mit 14 kam er nach einem Nervenzusammenbruch für neun Monate in eine psychiatrische Klinik. Und fand zum ersten Mal heraus, dass er vermutlich seit Jahren Depressionen hatte.
Es gibt kaum gesicherte Zahlen dazu, wie vielen Kindern und Jugendlichen es wie Timo ergeht. Die nordrhein-westfälische Psychotherapeutenkammer sagt, jeder 20. Jugendliche erkranke bis zur Volljährigkeit an einer Depression, der Deutschen Depressionshilfe zufolge sind es sogar bis zu 10 Prozent. Dennoch erhalten nur die wenigsten Betroffenen eine angemessene therapeutische Unterstützung – und das, obwohl die Erkrankung langfristig die Entwicklung beeinflusst und sogar tödlich enden kann. Die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren ist Suizid, in den meisten Fällen geht dem eine Depression voraus. Auch Timo sagt, er habe daran gedacht, Suizid zu begehen: “Wäre ich damals nicht behandelt worden, wäre ich sicher nicht mehr hier.”
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Damit andere Betroffene sich mit solchen Gedanken nicht alleine fühlen, sucht Timo heute auf seinem Blog den Kontakt mit ihnen. Der Bremer bezeichnet sich dort als Bi-, Asperger- und Depressionsaktivist. Wer jemanden brauche, der mit ihm ins Kino geht oder eine Bewerbung durchcheckt, könne ihn kontaktieren, schreibt Timo.
Dabei fiel es ihm noch vor ein paar Jahren überhaupt nicht leicht, auf andere Menschen zuzugehen. Er sei immer ein ruhiges Kind gewesen, sagt er, habe kaum gesprochen. Seine Familie sei zu der Zeit sein einziger Rückzugsort gewesen, seine Mutter habe zahlreiche Ärzte und Ärztinnen konsultiert, um herauszufinden, warum ihr Kind “so anders” sei. “Es belastete meine Eltern, dass ich nicht über meine Gefühle und Gedanken sprach”, sagt Timo. Doch irgendwann machten sich seine Emotionen auf eine andere Art bemerkbar: Immer wieder explodierte Timo aus dem Nichts. “Ich war ständig reizbar”, sagt er. Als er vor zwölf Jahren so ausrastete, dass er seine und die Sicherheit anderer gefährdete, wurde Timo nachts zu Hause von der Polizei mitgenommen, sechs Monate später kam er in eine psychiatrische Klinik. Wenn er von diesem Tag erzählt, stockt seine Stimme und er wird ganz leise. Immer wieder macht er lange Pausen, als sei er sich nicht sicher, ob er seinen Zusammenbruch in der Erinnerung nochmal durchleben möchte.
Die Depressionsforschung tut sich bei Kindern und Jugendlichen schwer
“In der Klinik hieß es zum ersten Mal, ich hätte möglicherweise Depressionen oder eine Behinderung”, sagt Timo. Am Ende wurde er mit dem Asperger-Syndrom und Adipositas diagnostiziert. Sein Bauch, sagt er, sei im Laufe der Jahre mit Mobbing immer weiter gewachsen. “Ich litt unter Mutismus [Anm. d. Red.: eine Kommunikationsstörung, bei der Betroffene nicht oder kaum sprechen] deswegen war es schwer zu sagen, was genau auf Depressionen zurückzuführen ist”, erklärt er. Tatsächlich können selbst Therapeuten und Psychiaterinnen nicht immer eindeutig bestimmen, wann Kinder oder Jugendliche eine ernste depressive Erkrankung haben – und wann sie einfach mit einer besonders schweren Phase des Heranwachsens zu kämpfen haben.
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Der Kinder- und Jugendpsychologe Stefan Lüttke sagt, das liege unter anderem daran, dass sich die Depressionsforschung lange nur auf Erwachsene konzentriert habe. Das statistische Kriteriensystem der Weltgesundheitsorganisation definiere für Depressionserkrankungen zwar klare Kriterien, “allerdings wurden diese nicht für Kinder und Jugendliche, sondern für Erwachsene bestimmt.” Würde ein Patient oder eine Patientin diese Kriterien nicht erfüllen, könne Lüttke sie aufgrund seiner Erfahrung zwar wegen Depressionen behandeln – offiziell werden die Symptome von jüngeren Betroffenen aber bisher nirgendwo definiert. “Besonders Kinder unter zehn Jahren haben bei Depressionen eine ganz andere Symptomatik als Erwachsene”, so der Psychologe.
Je älter die erkrankten Personen seien, desto öfter hätten sie die für Depressionen typischen melancholischen Phasen, so der Therapeut. Jugendliche seien dagegen oft reizbar oder aggressiv, jüngere Kinder zögen sich zurück und ließen in der Schule nach. Doch selbst Forschende wie Lüttke sind gerade erst dabei, die Symptome von jungen Betroffenen genau zu definieren. Und das ist nicht einfach: Zum Einen lassen sich Depressionen anders als Essstörungen nicht immer eindeutig abgrenzen und erkennen. Zum Anderen drücken Kinder und Jugendliche ihre Gefühle sprachlich anders aus als Erwachsene – oder eben, wie Timo, erstmal gar nicht.
“Viele meiner Lehrer und Lehrerinnen wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten.”
Besonders für nicht-geschulte Erwachsene sind die Gefühlswelten depressiver Kinder und Jugendlicher oft so unergründlich wie für die Betroffenen selbst. “Manche meiner Lehrer und Lehrerinnen haben beim Mobbing einfach zugesehen”, sagt Timo, “andere haben sich dafür eingesetzt, dass ich besser integriert werde.” Am Ende habe das Lehrpersonal aber selber nicht gewusst, wie sie mit ihm umgehen sollten – und eben auch nicht, dass Timo eine ernste Erkrankung hat.
“Ein gutes Merkmal für eine Depression sind länger andauernde Veränderungen”, sagt der Kinder- und Jugendpsychologe Lüttke. “Wenn jemand seine liebsten Beschäftigungen und Tagesabläufe vernachlässigt und das über mindestens zwei Wochen anhält, sollte man genauer hinschauen.”
Die Gründe für depressive Erkrankungen sind so unterschiedlich wie das Verhalten der Betroffenen. Depressionen können genetisch vererbt werden. Ist ein Elternteil schwer depressiv, haben Kinder eine um das Vierfache erhöhte Wahrscheinlichkeit, in ihrer Jugend ebenfalls psychisch zu erkranken. In der Langzeit-Studie BELLA zur psychischen Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen fanden Forscher und Forscherinnen aber auch heraus, dass äußere Faktoren wie das familiäre und soziale Umfeld psychische Erkrankungen stark beeinflussen. Besonders Kinder und Jugendliche aus ökonomisch schwächeren Familien erlebten demnach oft Belastungen, die unter anderem zu Depressionen führen könnten. Gleichzeitig sind das aber genau die Kinder, die am seltensten ärztlich behandelt werden.
“Meine Depressionen kamen größtenteils daher, dass meine Mitschüler und Mitschülerinnen in der Schule so mit mir umgegangen sind”, sagt Timo, “selbst in den Abschlussjahren gab es noch welche, die es spannend fanden, mich zu mobben.” Seine Eltern hätten zwar viel Zeit darin investiert, herauszufinden, was mit ihm los war, doch selbst, nachdem er mit 14 zum ersten Mal in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurde, ging es ihm nicht wirklich besser. “Ich war danach noch zweimal in der Psychiatrie”, sagt Timo, “doch erst vor zwei Jahren habe ich endlich einen Weg gefunden, mit meinen Depressionen umzugehen.”
Jede fünfte Person in Deutschland erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Depression
Bis zum Jahr 2020 werden Depressionen und andere Stimmungserkrankungen die zweithäufigste Krankheit weltweit sein, schätzt die Weltgesundheitsorganisation. Experten und Expertinnen sagen, dass in Deutschland jede fünfte Person mindestens einmal in ihrem Leben an Depressionen erkrankt. Doch selbst, wenn diese frühzeitig erkannt werden, bedeutet das nicht, dass Betroffene auch die Behandlung bekommen, die sie brauchen: Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung fand 2014 heraus, dass über die Hälfte der Betroffenen unzureichend und 18 Prozent gar nicht behandelt werden. Das liegt nicht nur daran, dass sie keine Fachärzte und -ärztinnen aufsuchen – sondern auch daran, dass besonders in ländlichen Gegenden Deutschlands kaum welche von ihnen arbeiten. Dabei kann eine unbehandelte Depression vor allem bei Heranwachsenden weitreichende Folgen haben.
“Die meisten, die im Kinder- und Jugendalter eine Depression hatten, haben auch im Erwachsenenalter wieder eine”, sagt der Kinder- und Jugendpsychologe Stefan Lüttke. Und wenn Depressionen bei Kindern und Jugendlichen nicht erkannt und therapiert würden, könnten diese am Ende immer wiederkehren: “Chronisch Erkrankte befinden sich mindestens zwei Jahre lang in einem depressiven Zustand.”
Die nationale Versorgungsleitlinie für Depressionserkrankungen rät, Betroffene immer erst mit einer Psychotherapie zu behandeln, das gilt auch für erwachsene Patienten und Patientinnen wie für Heranwachsende. Besonders bei Kindern und Jugendlichen wird dabei nur selten mit Medikamenten gearbeitet – auch, weil es nicht anders geht: “Bis auf ein Präparat gibt es keine Zulassungen für Nicht-Erwachsene”, sagt Lüttke, “das liegt auch daran, dass es uns bisher an Studien fehlt.”
“Offen über meine Gefühle zu sprechen, ist sehr anstrengend – aber es hilft.”
Timo haben vor allem psychotherapeutische Behandlungen aus den Depressionen geholfen: “Ich habe 2008 eine Psychologin gefunden, die mir gezeigt hat, wie ich mit meiner Erkrankung im Alltag umgehen kann”, sagt er, “doch erst vor zwei Jahren habe ich für mich selbst den besten Umgang mit meinen Depressionen gefunden.” Timo sagt, er habe gelernt, dass er mit anderen über seine Gefühle sprechen müsse – auch wenn ihm das nicht immer leicht fällt.
“Eigentlich behält man Depressionen noch sehr lange – vielleicht ein ganzes Leben”, sagt er. Doch anders als in seiner Kindheit wisse er heute, wie er diese Gefühle einordnen und sich Hilfe holen könne. Timo sagt, er habe sich in der Therapie erst richtig kennengelernt und akzeptiert, dass seine Schwächen ihn genau so ausmachen wie seine Stärken. “Ich versuche, an jeder Situation etwas Positives zu sehen”, sagt er, “und damit geht es mir heute so gut wie nie zuvor.”
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