Als ich 2009 meinen ersten Twitter-Account erstellte, dachte ich, Twitter hätte in erster Linie mit Nachrichtenaustausch, Leseempfehlungen, journalistischen Ergüssen und digitaler Revolution zu tun. Erst Stück für Stück habe ich dort eine ganz andere Szene entdeckt: Twitter ist nämlich auch das größte internationale Dating-Portal, das ich je versehentlich (und ziemlich erfolgreich) genutzt habe.
Statt politischer Meinung von Armin Wolf, Fame von Kanye West oder Internet-Aktivismus von Sascha Lobo war meine Timeline eines Tages voll mit Rotwein-Tweets gutaussehender Anarchos, schmachtenden Liebeskummer-Posts berechnender Poeten und Gerüchte à la “Wer-hat-jetzt-wieder-mit-wem”, wahlweise mit dem Zusatz “und-zu-wievielt”.
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Sittenverfall durch soziale Medien? Ihr wisst gar nicht, wie Recht Erdoğan damit hat. Im Grunde ist Twitter das Tinder der Sapiosexuellen. Also, natürlich nicht ausschließlich—immerhin ist das Profilbild auch hier dein Aushängeschild. Allerdings bieten die öffentlich geteilten Postings eine gute Möglichkeit zum unendlichen Stalking. So bekommst du einen Vorgeschmack auf die Person, die beim nächsten Twitter-Treffen vielleicht genau so viele Biere trinkt wie du. Oder Schnäpse. Oder beides. Ein Profil voller Witze, Gedankenspielereien und (pseudo-)philosophischem Mist bietet eben einen weitaus besseren Blick auf eine Person als 6 mickrige Tinder-Fotos, von denen mindestens die Hälfte sowieso aus einem besonders guten Blickwinkel geschossen ist.
Irgendwann in meiner intensiveren Twitter-Zeit etablierte sich das Wort “Fickwunschverdacht” in der Szene, in der ich unterwegs war. Essentiell war dabei eine Plattform namens Favstar. In einer Art Ranking zeigte die Plattform an, welche Personen einem Twitter-Profil am meisten “Favs” (das Äquivalent zum Facebook-Like) gaben. Stammten diese hauptsächlich von einer Person und deuteten auch öffentliche Konversationen auf romantische Ambitionen hin, sprach man von einem Fickwunschverdacht. Kein Scherz—dieser Fickwunschverdacht war ein ernstes Thema. Er führte nicht nur zu Gspusis, sondern durchaus auch zu Eifersuchtszenen, Spamblocks und öffentlichen Bloßstellungen.
Auf Twitter kann jeder beliebige Mensch zwischen den Zeilen lesen und dich als Arschloch enttarnen, wenn du eines bist.
Ich bin tatsächlich schon für einen dringenden “Fickwunschverdacht” aus meiner Heimatstadt Graz nach Wien gefahren, um Personen zu treffen, die ich im echten Leben nicht kannte. Oder nach Berlin. Oder sonst wohin. Twitter hat mir vermutlich zu mehr (gutem) Sex verholfen, als es Clubs je getan haben. Für Tinder-Bekanntschaften könnte ich mir das in dieser extremen Form niemals vorstellen. Ich denke, einen Teil dieses nicht ganz nachvollziehbaren Grundvertrauens in Twitter-Personen macht die öffentliche Basis aus, auf der Twitter funktioniert.
Ein Twitterer definiert sich nicht nur durch die eigenen Tweets, sondern auch durch sein Netzwerk, das er pflegt. Sind deine Freunde sympathisch, kommunikativ und offensichtlich keine Fakes, macht dich das gewissermaßen vertrauenswürdig. Um auszuschließen, dass ich auf Vollidioten treffe, habe ich deshalb oft einfach die Replies einer Twitter-Person überflogen. Auf Tinder musst du dich nur einer Person beweisen. Auf Twitter hingegen kann jeder beliebige Mensch zwischen den Zeilen lesen und dich als Arschloch enttarnen, wenn du eines bist.
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Und natürlich gibt es diese Arschlöcher auch auf Twitter. Kurz nachdem ich begonnen hatte zu twittern, hatte ich einen Stalker, der mich unbedingt in die Welt des BDSM einführen wollte und mich mit Nachrichten bombardierte. Nach kurzer Recherche fand ich heraus, wo er arbeitete und hatte ein Foto von ihm. Sein Name war damals noch öffentlich auf Twitter. Nachdem ich ihn blockiert hatte, folgte mir kurze Zeit später eine Frau und begann, mir anfangs halbwegs seriöse Replies zu schreiben. Ich folgte und bekam bald eine Reihe seltsamer Nachrichten.
Ich vermutete gleich, wer hinter dem Account steckte—es kostete mich keine 5 Minuten, herauszufinden, dass der Typ das Foto einer Verwandten von Facebook geklaut und sich damit einen Twitter-Account erstellt hatte. Nachdem ich ihn wenig freundlich darauf hingewiesen hatte, hatte ich glücklicherweise meine Ruhe. Ich kann aber nicht sagen, ob er mir nicht vielleicht noch heute mit einem Fake-Account folgt—es ist mir allerdings auch ziemlich egal. Abseits davon habe ich auch von sich romantisch gebenden Typen gehört, die durch ganz Deutschland getourt sind—nur, um in allen Städten Mädchen flachzulegen.
Ich habe Tweets von Frauen gelesen, die jede zweite Woche ihre neue Twitter-Love detailreich und nicht immer in Abstimmung mit dem “Partner” dokumentierten. Was es aber genauso gibt, sind die, mit denen man dann zusammen kommt. Und vier Jahre oder länger zusammen bleibt, sich einen Hund kauft und gemeinsam Küchen bei IKEA aussucht. Mehrere “Twitterpärchen” in meinem Bekanntenkreis sind bereits verlobt, einige jahrelang zusammen.
Auch mein Freund und ich sind zusammen, weil es Twitter gibt. Anfangs haben mich überbesorgte Twitter-Seelen sogar vor ihm gewarnt und meinten: Lass besser die Finger von dem. Ich habe später erfahren, dass auch vor mir gewarnt wurde. Von einer Twitterin, die ich damals noch nie persönlich getroffen hatte. Warum? Ich habe bis heute nicht die geringste Ahnung. Es könnte unter Umständen damit zu tun haben, dass mein Freund davor mit ein, zwei anderen Twitterinnen zusammen war, die das nicht so gerne sahen.
Kurz nachdem wir zusammen gekommen waren, hätte mein Freund auch beinahe auf die Fresse bekommen—allerdings nicht von seinen Exfreundinnen, sondern von einem “konkurrierenden” Twitterer. Manchmal ist Twitter wie eine High School aus einem schlechten, amerikanischen Teenie-Film und man weiß selbst nicht genau, ob man gerade die Prom Queen, die dumme Bitch oder die Außenseiterin ist. Trotzdem twittern wir beide noch immer, aber (vor allem ich) weniger und anders als früher. In unserem Freundeskreis sind auch viele, die wir von Twitter kennen—wir feiern und trinken Bier, helfen beim Umzug oder lassen unsere Katzen während des Urlaubs von ihnen füttern. Jep, das ist etwas spießiger als früher. Aber ohne Twitter wäre ich nicht die, die ich jetzt bin.
Twitter hat zu meiner persönlichen und nicht nur sexuellen Revolution beigetragen und mich ein Stück freier gemacht. Es hat mich von den sehr klassischen gesellschaftlichen Standards gelöst, mit denen ich aufgewachsen bin. Über Twitter kam ich erstmals intensiver mit Feminismus in Berührung, Twitter hat mir zu meinem jetzigen Musikgeschmack verholfen und gut die Hälfte meiner Bekannten kenne ich von Twitter. Natürlich war da auch viel Glück und Kontakt zu den richtigen Menschen dabei. Aber hey, wer sagt, Twitter sei langweilig oder uninteressant und sowieso nur für US-Promis und Journalisten sinnvoll, hat es eben nicht verstanden—denn Twitter machst du dir, genau wie dein Offline-Glück, immer selbst.