YouTube ist wohl die beste anthropologische Studie, die jemals auf die Beine gestellt wurde. Die Video-Plattform schafft es nämlich besser als jedes andere Medium, uns die verschiedenen Facetten des menschlichen Daseins aufzuzeigen. Außerdem können sich die User dort so individuell und vielfältig ausdrücken wie noch nie zuvor. Und so ist es auch kein Wunder, dass sich dort einige Perlen der Videokunst finden lassen, die mal mehr und mal weniger im Fokus der Internet-Community stehen. Mich persönlich hat diese Woche vor allem ein Account in seinen Bann gezogen.
Wer? Cigar Obsession
Was? Ein Mann bewertet und genießt Zigarren
Wie viele Abonnenten? Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Artikels: 58.548
Warum? Mir kommt es so vor, als würde es sich bei vielen YouTube-Channels vor allem um ziemlich unentspannte Dinge drehen—egal ob nun Achterbahnen, Esswettbewerbe, Doom Metal, Autounfälle, scharfes Essen, vegane Bodybuilder, Mordfälle, Videospiele und so weiter. Und genau deshalb bin ich der Meinung, dass es auch mal eine Verschnaufpause braucht. Also so eine Art Bier-Und-Zigarette-Verschnaufpause. In unserem Fall wohl eher eine Bier-Und-Zigarre-Verschnaufpause.
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Bei Bryan Glynn handelt es sich um einen Mann aus Florida, der jetzt schon seit gut sieben Jahren Videos produziert. Dazu ist er noch der Betreiber einer Website sowie eines YouTube-Channels, die beide den Namen “Cigar Obsession” tragen. Bryan scheint ein ziemlich entspannter Typ zu sein.
Ich habe eigentlich nicht den Wunsch, jemals in die USA zu ziehen, aber eine Sache würde mich an einem solchen Schritt dennoch reizen: Ein riesiges Haus auf einem riesigen Gartengrundstück mitten im Nirgendwo, wo ich einfach nur still dasitzen, dem Grillenzirpen lauschen, die Sterne beobachten und mich in ein frühes Grab trinken kann. Das Übliche halt. Irgendwie stelle ich mir vor meinem geistigen Auge immer vor, wie Bryan genau dieses Leben führt, während er mit seinen Tiki-Fackeln im Hintergrund ganz sanftmütig beschreibt, warum die vorgestellte Zigarre nun so teuer ist.
Als ich noch ein kleines Kind war, habe ich während des Familienurlaubs mal in einem Hotel übernachtet, in dem zwei Arschlöcher Zigarren rauchten. Das hat mich zu der Ansicht kommen lassen, dass Zigarren ziemlich scheiße sind. Erst als ich dann älter wurde und auch damit anfing, meine Chancen auf Lungenkrebs regelmäßig zu erhöhen, kam ich zu der Erkenntnis, dass Zigarren doch irgendwie ganz cool kommen. Sie riechen gut und wo Zigaretten quasi jedem Menschen einen Hauch Abgebrühtheit verleihen, bedarf es für eine Zigarre schon irgendwie eine natürliche Extravaganz. Bei Bryan Glynn komplettieren die braunen Stangen sein sowieso schon extrem freundlich rüberkommendes Gesicht sowie seine nette Art.
Ich will hier nicht zu sehr in Lobeshymnen abdriften, aber ich könnte Bryan Glynn den ganzen verdammten Tag lang dabei zusehen, wie er Zigarren raucht oder darüber redet, Zigarren zu rauchen. Irgendwie haben seine sanften, blauen Augen, sein weiches Gesicht, seine randlose Brille und seine beruhigende Lehrerstimme einfach etwas Vertrauenswürdiges an sich. Und ich meine hier nicht die Arschlochlehrer, die die Kontrolle über das Klassenzimmer verlieren und dann mit einer Reihe an empörten Kommentaren wieder Herr der Lage werden wollen. Nein, ich rede von der Sorte Lehrer, die ab und an auch mal augenzwinkernd ein Schimpfwort von Seiten der Schüler durchgehen lassen.
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Im Zweifelsfall kann man YouTube immer als einen Ort des Lernens bezeichnen und Channels wie der unseres Zigarrenfreunds erweitern dabei den Horizont. Hast du zum Beispiel schon gewusst, wo genau man die Zigarre abschneidet? Ich nicht. Oder war dir klar, dass es gut fünf verschiedene Arten gibt, Zigarren zu drehen? Hat dir jemals jemand gezeigt, wie man eine Zigarre richtig anzündet? Muss man dieses ganzes Zeug überhaupt wissen? Nicht wirklich, aber schaden kann es auf jeden Fall auch nicht. Und dieses ganze neue Wissen lässt in mir doch irgendwie ein Gefühl der Zufriedenheit aufkommen. Außerdem wird mir das alles von einem ruhigen und netten Mann beigebracht. Genau so stelle ich mir die Begegnung mit einem faszinierenden Fremden in irgendeiner Bar vor—ein Ereignis, das mir noch nie widerfahren ist und mir wohl auch nie widerfahren wird.
Das liegt daran, dass die Leute im echten Leben ziemliche Idioten sind. Manch einer geht wahrscheinlich auch davon aus, dass Bryan Glynn in der Realität ziemlich langweilig rüberkommt—ein “komischer Zigarrentyp” oder so. Bei YouTube mutet er jedoch wie ein rauchender Sensei oder ein Paff-Professor der hochwertigen Zigarren an und ich mag es, aus seinen Asche-Lehrbüchern zu lernen. Ich freue mich, wenn ich auf dem weichen Teppich seiner unendlichen Weisheit Platz nehmen darf und mir dann anhöre, wie er mir mit sanfter Stimme erklärt, warum eine schweineteure Zigarre eigentlich doch ziemlich beschissen ist.
Wenn Leute Zeug reviewen, das einem völlig egal ist, dann ist das toll, weil man so gesehen ja nichts investiert hat. Wenn man jedoch zum Beispiel einen Haufen Kohle für einen Rasenmäher ausgegeben hat, der von irgendeinem Internet-Typen später heruntergemacht wird, dann kann einem schon mal der Kragen platzen. In unserem Fall lehnt man sich jedoch einfach zurück und lässt sich von Bryan Glynn mit teurem Zigarrenrauch vollpusten. So muss sich das Paradies anfühlen.