Drei U-Bahn-Stationen. Dreißig Minuten mit dem Fahrrad. Weiter von meiner Wohnung entfernt war ich in den letzten Wochen nie. Mich länger als drei Stationen mit Männern zu beschäftigen, die sich die Maske nur bis unter die Nase ziehen, oder mir Sorgen zu machen, dass meine FFP2 nicht richtig sitzt, ist mir zu anstrengend.
Verreisen geht gerade nicht. Trotzdem, oder gerade deshalb, vermisse ich dieses Urlaubsgefühl. Diese Distanz zwischen mir und dem echten Leben, diese Möglichkeit für Neues. Der Spätkauf um die Ecke hat umgebaut. Da stehen jetzt neue Kühlschränke. Irgendwie ist sowas jetzt unglaublich aufregend.
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Gerade denke ich oft an die Italienurlaube meiner Kindheit. Wahrscheinlich weil das die einfachste Zeit ist, die man im Leben je erlebt. Urlaub als Kind. Italienurlaub, der im Katalog nach Meer, Gummiboot und Sonnencreme riecht, aber dann in echt feucht und nach Frittierfett. Am Strand stehen Liegestühle, deren Liegeflächen vollgesogen sind mit Sonnencreme und Schweiß und Sonne. Aber das ist egal. Beim Abendessen am Nebentisch korrigiert eine Familie die ins Deutsche übersetzte Speisekarte.
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Manchmal überraschte mich eine Welle, Salzwasser schoss mir in Augen und Mund. Meine Mutter wartete dann bei den Liegestühlen auf mich mit Aprikosen gegen den Geschmack von Salzwasser. Die Erwachsenen reden über die katholische Kirche oder über Leute, denen meine Nonna die Wohnung putzt, oder über Berlusconi. Meine Nonna und mein Vater wurden dann immer sauer. Lange dauerte das nicht, weil dann mussten alle wieder in die Sonne blinzeln und so zufrieden seufzen. Die Probleme der Welt gingen unter in einer sonntäglichen Trägheit, obwohl es an einem solchen Ort für uns keine Wochentage gab. Die Sorgen, die wir hatten, schienen so klein, dass sie zwischen zwei Wellen oder zwischen zwei Liegen auf dem eng bestuhlten Strand passten.
Im Lockdown gliedern sich die Probleme nirgendwo ein. Sie drängen sich in den Vordergrund. Ich höre jetzt manchmal “Supergirl” in Dauerschleife. Und obwohl ich mir dabei lächerlich vorkomme, meine ich es ernst. Als ich mit elf in ein Freundebuch schreiben musste, blätterte ich durch die früheren Einträge. Unter “Das kann ich gut:” hat ein Mädchen geschrieben: “Musik hören.” Das schien mir wie die coolste Aussage, die ich in meinen elf Jahren Leben gehört hatte. Ich nahm mir vor, das auch gut zu können. Und gerade weiß ich, Musik hören kann ich nicht gut. Denn auch wenn ich voller Inbrunst eine Popballade mitsinge, bin ich nicht wirklich abgelenkt. Die Inzidenzwerte steigen und das Virus mutiert und ich singe beim Zähneputzen “Complicated” von Avril Lavigne.
Ich wünsche mir Ablenkung. Der Wunsch, wegzufahren wird erst jetzt richtig stark. Jetzt, da eigentlich fast schon Frühling ist. Die Sonne scheint und ich fühle mich verhöhnt von ihr, weil ich alles vermisse. Wie kann es jetzt so schönes Wetter sein, wenn alles schlecht ist. Frühling ist dazu da, sich trotzig eine dünne Jacke überzuziehen, obwohl es noch zu kalt dafür ist. Einen ganzen Nachmittag lang bewegt man sich mit der Sonne und schmiedet Pläne für den besten Sommer des Lebens, die man dann allesamt nicht einhält. Aber das ist OK. Das beste am Frühling ist das Potenzial des Sommers. Und jetzt macht mich dieses Potenzial unruhig. Es ist jetzt sonnig und wir wollen etwas erleben. “Ich bin jetzt bereit”, will ich dem Leben sagen. Ich warte, doch es kommt nicht.
Als es am Wochenende über zehn Grad warm wird, gehe ich raus. Ein Typ, der an mir vorbeigeht bezeichnet mich als “ganz süß”. Ich bin froh, dass er nicht irgendein anderes Adjektiv benutzt hat, das mehr von mir erwartet. Nach monatelangem Lockdown ist “ganz süß” sein vielleicht das einzige, was ich noch hinkriege. Auf dem Platz vor meinem Haus halten alle Abstand. Ich trinke Bier in der Sonne und merke gar nicht, dass mir Bier nicht schmeckt. Alle um mich herum sind zufrieden. Vielleicht ist das Urlaub genug.
Ich packe in meinen Koffer “Bleiben Sie gesund” als E-Mail-Grußformel, diese kitschige Sehnsucht nach mehr, Lockdown-Müdigkeit, zu wenig Socken. Und setze mich in die Sonne.
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