Warst du schon mal abends bei Freunden und es wurde eine kurze Runde Risiko vorgeschlagen? Sechs Stunden später hasst ihr euch alle und geht angefressen nach Hause. Risiko ist aber auch nicht irgendein Brettspiel – sondern Teil einer langen Tradition von Kriegsspielen. Das sind strategische Spiele, die Taktiken der Kriegsführung vereinfachen.
Antoine Bourguilleau, Historiker und Forscher am Institut für Kriegs- und Friedensforschung der Sorbonne Universität in Paris, hat ein Buch über Kriegsspiele geschrieben. Seit Jahrzehnten werden sie benutzt, um Konflikte zu simulieren und Militärs zu trainieren.
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Kriegsspiele können mehrere Wochen dauern, extrem komplizierte Spielfelder und Regelbücher mit 60 Seiten haben. Bis heute benutzten Militärs sie, um Konflikte besser zu verstehen. Wir haben mit Antoine Bourguilleau gesprochen um herauszufinden, wie genau Gesellschaftsspiele zu einer strategischen Waffe für Armeen geworden sind.
VICE: Was sind Kriegsspiele?
Antoine Bourguilleau: Ein Kriegsspiel ist ein Hilfsmittel, um dich auf einen Konflikt vorzubereiten und ihn besser zu verstehen. Super praktisch: Es tötet keine Menschen und kostet nicht viel, was für viele Militärs wichtig ist.
Warum hat das Militär angefangen, sie zu benutzen?
Am Ende des 18. Jahrhunderts bemerkte das preußische Militär ein Problem: alle Soldaten waren auf den Krieg vorbereitet, abgesehen von den Offizieren, die sie führen sollten. Infanteristen waren geschult darin, zu schießen und in Formation zu laufen. Aber die Offiziere hatten nur eine sehr theoretische Ausbildung genossen. Zu dieser Zeit gab es Militärakademien, auf denen Offiziere Abkommen, Schlachten und Kampagnen studierten. Aber sie gingen nur selten aufs Schlachtfeld, um Simulationen von großen Manövern zu beobachten und sich vorzustellen, wie Krieg wirklich aussieht. Das wirkte sich sehr negativ aus.
Woran haben sich die Erfinder der ersten Kriegsspiele orientiert?
Die preußischen Erfinder orientierten sich am Schach. Aber anstelle des flachen Schachbretts gab es verschiedene Areale aus Dörfern oder Wäldern, die dazu benutzt wurden, die Armee zu schützen und die Sicht von Gegnern zu blockieren. Die Türme, Läufer und anderen Figuren wurden zur Infanterie, Kavallerie und Artillerie.
Später wurden auch militärische Karten benutzt. Ein Bauer repräsentierte das Bataillon, das zwischen den Karten hin- und her bewegt wurde. Die Spielregeln waren so ausgelegt, dass man nicht wusste, was der Gegner vorhatte.
Die preußische Armee war sehr erfolgreich. Lag das an ihrem Kriegsspiel?Die Preußen waren die ersten, die das Kriegsspiel in ihre Ausbildung aufgenommen haben. Leute fragen mich oft, ob ihr Erfolg daher kommt. Ich bin da vorsichtig. Aber es stimmt, dass die preußische Armee ihren Gegnern strategisch weit überlegen war. Unbestreitbar brachte der Erfolg der Preußen viele andere Armeen dazu, sich mit dem Kriegsspiel zu beschäftigen.
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Preußen beiseite, was können wir noch auf Kriegsspiele zurückführen?
Die Kampagne im Pazifik, die von den Vereinigten Staaten im zweiten Weltkrieg gegen Japan geführt wurde. Das Naval War College, das die Offiziere der US Navy trainiert, nahm Kriegsspiele ab dem 19. Jahrhundert in seine Trainingskurse auf. Zwischen 1918 und 1941 organisierten sie mehr als 200 von ihnen – manche dauerten Wochen.
In den meisten Szenarien ging es um potentielle Konflikte mit der japanischen Marine. Den Amerikanern fiel zum Beispiel auf, dass der Krieg sehr lang andauern würde, weil die Japaner sich über die pazifischen Inseln ausbreiten würden. Sie verstanden auch, dass die Japaner von einer Insel zur anderen reisen müssten, um wieder zurück nach Hause zu kommen. Und genau so war das auch.
Sind Operationen, die auf Kriegsspielen basieren, auch schon mal gescheitert?
Im Vietnam-Krieg. Computer waren damals noch nicht so weit und einige amerikanische Strategen rechneten mit quantitativen Mitteln aus, dass Nordvietnam ihnen nicht gewachsen sein würde. Aber im Krieg geht es nicht nur um Zahlen.
Einer der größten militärischen Denker, der preußische General Clausewitz, sagte mal, dass Kartenspielen dem Krieg am nächsten kommt. Beide haben etwas Ungewisses an sich. Im Krieg gibt es einen Plan und gewisse Dinge könnten diesen Plan scheitern lassen. Probleme mit den Befehlen, kranke Soldaten, späte Lieferungen, Ungenauigkeiten auf der Karte. Kriegsspiele können die Zukunft nicht präzise voraussagen, aber sie helfen bei der Vorbereitung auf mögliche Situationen.
Wann sind Kriegsspiele zu witzigen Gesellschaftsspielen geworden?
Die Tradition, zuhause Kriegsspiele zu spielen, startete zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit H.G. Wells, dem Autor von Krieg der Welten. 1912 veröffentlichte er Kleine Kriege – ein Buch, das die Regeln für ein Spiel mit Spielzeugsoldaten beschreibt. Das war der Anfang von Kriegsspielen, die zur Unterhaltung gespielt wurden und nicht für das Militär gedacht waren. Die Idee war, sich fiktionale Konflikte auszudenken oder historische Schlachten nachzuspielen.
Ende der 1930er waren Kriegsspiele ein hoch angesehenes Hobby, insbesondere in der New Yorker High Society. Erstaunlich war das Zusammenspiel von häuslichen und militärischen Kriegsspielen. In den 1950ern wurden viele amerikanische Spieleentwickler vom Verteidigungsministerium angesprochen – um Spiele für das Militär zu entwerfen. Das passiert heute noch. Zum Beispiel gibt es ein Spiel namens Phantom Fury, in dem es um die zweite Schlacht von Fallujah in 2004 geht. Laurent Closier hat es entworfen. Er arbeitet für das französische Verteidigungsministerium.
Ist es überhaupt möglich, so komplexe Konflikte wie die, die wir heute kennen, nachzustellen?
Es ist natürlich einfacher, einen klassischen Konflikt mit zwei Fronten zu simulieren. Dann gibt es die Guten und die Schlechten und sie kämpfen gegeneinander. Wer mehr Kugeln hat gewinnt. Aber in den frühen 90er-Jahren stellten wir fest, dass Krieg so nicht mehr funktioniert. Insbesondere die Auflösung von Jugoslawien machte das deutlich. Die Nato hatte schon lange Kriegsspiele genutzt. Aber jetzt fehlte ihnen die notwendige Software, um solche Konflikte zu verstehen. Also benutzten sie “Matrix”-Spiele mit mehreren Spielern.
Wie funktionieren “Matrix“-Spiele”?
Die Idee dahinter ist, Politik, Wirtschaft, Diplomatie und Medien in militärische Strategien einfließen zu lassen. Aber diese Bereiche lassen sich oft nicht quantifizieren. Die Regeln sind normalerweise ziemlich simpel. Jeder Spieler sagt, was er tun möchte und nennt drei Gründe für diese Aktion. Dann wird gewürfelt. Wenn ihre Gründe von den anderen Spielern als plausibel angesehen werden, dürfen sie zu ihren gewürfelten Punkten drei hinzufügen (einen oder zwei, wenn nur einer oder zwei der Gründe als plausibel angesehen werden). Erhält der Spieler mehr als sieben Punkte, wird sein Spielzug durchgeführt.
Wie hilfreich ist das im echten Leben?
Das Besondere an Kriegsspielen ist, dass man den moralischen Standpunkt total außer Acht lässt. Man fragt sich beim Spielen nie “Ist das ethisch vertretbar?”. Man evaluiert ausschließlich die Interessen, Ziele und Ressourcen aller Involvierten.