Kaum ein anderes Rollenspiel steht so sehr für die 90er wie Vampire: The Masquerade. Zum ersten Mal wirkten Pen&Paper-Rollenspiele, die eigentlich als Domäne der allergrößten Nerds verschrien waren, cool. Zum ersten Mal zeigte ein Spiel einer breiten Öffentlichkeit, dass es bei diesem Genre nicht um Elfen-Barden und Zwergen-Krieger, die Goblins im Hobbykeller totwürfeln, gehen muss, sondern um tragische Vampire, um große moralische Fragen, um Nietenjacken und das Nachtleben in modernen Großstädten. Vampire wirkte damals auf viele Gamer erwachsen, edgy, wie ein fester Teil einer Popkultur, die gerade ihren großen Goth-Moment erlebt. Es diente als Vorlage für Videospiele, inspirierte Film-Universen wie Underworld und das bis heute wohl erfolgreichste Live-Rollenspiel Mind’s Eye Theatre. Doch obwohl das Spiel eine treue Fangemeinde hatte, war der große Hype irgendwann vorbei. Das lag auch daran, dass die Entwickler die falschen Neuauflagen rausbrachten und Entscheidungen trafen, die bei den Fans nicht gut ankamen.
White Wolf, die US-Firma, die das Spiel entwickelte und die Regelbücher herausgab, konnte in den 00er-Jahren nicht an die Erfolge der 90er anknüpfen. Ein geplantes Online-Rollenspiel wurde eingestellt, eine Neuauflage von Vampire scheiterte 2004 an den Erwartungen der Fans, acht Jahre später gab das Studio die Arbeit an neuen Spielen auf. Das ändert sich jetzt. Denn Vampire kehrt in diesem August zurück. Mit einer neuen Edition, die mit dem alten Namen Vampire: The Masquerade an alte Erfolge anknüpfen soll. Motherboard konnte eine frühe Kopie des Regelbuchs lesen, um herauszufinden, wofür Vampire als Spiel heute stehen soll.
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‘Vampire: The Masquerade’ bleibt nah am Original
Wer sich näher mit Vampire: The Masquerade beschäftigt hat, weiß: Die Geschichte des Spiels, der sogenannte “Metaplot” über Vampire, Magier und Dämonen, endet mit dem Weltuntergang. Die wohl wichtigste Änderung am neuen Spiel: Der Weltuntergang fand nicht statt. Die “Welt der Dunkelheit” drehte sich einfach weiter.
Im Gegensatz zu den radikalen Änderungen der ungeliebten Neuauflage Vampire: The Requiem von 2004 bleiben also viele Elemente aus den 90ern bestehen: Vampire sind hochpolitische Kreaturen. Sie organisieren sich in Clans, die gängigen Stereotypen entsprechen: Die Vampire der Toreador sind Schönheiten, die Sterbliche verführen; die Nosferatu scheußliche Monster; die Brujah rebellische Superkrieger. Diese Clans ordnen sich in eine Art Zwei-Parteiensystem: Das Establishment der Camarilla und die Anarchen. Ihre Gemeinsamkeit ist “Die Maskerade”, eine Art Vampir-Grundgesetz, das Vampire zur höchsten Geheimhaltung über ihre Existenz verpflichtet.
In dieser Welt erstellen sich die Spielenden Vampir-Helden, deren Eigenschaften, Vampirkräfte und Überzeugungen sie auf speziellen Papier-Bögen festhalten. Eine Spielleiterin erzählt eine sich selbst ausgedachte Geschichte, die Spielergruppe reagiert frei auf die Story und benutzt Würfel, um den Ausgang bestimmter Situationen (etwa einen Kampf gegen einen Werwolf oder eine Debatte mit dem Vampir-Prinzen der Stadt) zu bestimmen. An den Grundpfeilern der Vampire-Reihe ändert sich also nichts. Das dürfte die hartgesottenen Fans der Serie freuen – über die 2004er Version, die sich weit vom Original entfernte, lästern Fans noch heute auf Reddit, es hätte “den Untergang” der Community bedeutet, es wäre “lame” und sei “einfach nicht dasselbe gewesen”.
Warum es bei Vampire dennoch große Neuerungen gibt, die Fans begeistern werden
Interessant wird es bei zwei Dingen. Erstens: Die Regeln. Federführend für ihr Design ist Kenneth Hite. Im Gegensatz zu alten Systemen voller komplexer Regeln, zu denen zu einem gewissen Grad auch das Vampire der 90er gehört, steht Hite für innovative Systeme und neue Ideen.
Von Hite stammt das Dracula Dossier, eine preisgekrönte Rollenspiel-Story, in der sich die Spielergruppe durch eine annotierte Ausgabe von Bram Stokers Dracula arbeiten muss, um die Welt vor dem Obervampir zu retten. Diesen Ideenreichtum merkt man auch dem neuen Vampire an: Die Heldinnen erleben Flashbacks zu früheren Leben, die Jagd nach Blut rückt in den Mittelpunkt und Kämpfe werden stark vereinfacht.
Der andere Grund, warum Vampire: The Masquerade nicht nur für Rollenspiel-Geeks wichtig ist, heißt Politik.
Vampire ist ein Horrorspiel über die Ängste von Millennials
In Vampire: The Masquerade ging es schon immer nur vordergründig um Monster und Superkräfte, es war schon immer ein Spiel über größere Themen. Und nie war das so deutlich wie mit der neuen Ausgabe.
Aktuelle Fragen, Ängste und Probleme sind nicht an den Designern vorbeigezogen. Denn im Gegensatz zu den alten Spielen bröckelt “Die Maskerade”. Die Vampire sind eben nicht mehr die unangefochtenen Herrscher der Nacht, sondern Beute für eine internationale Koalition aus Geheimdiensten, die “Zweite Inquisition”: “Du steigst in einen Flieger? Du bist auf der Liste. Du gehst online? Warum nicht gleich eine Mail an die NSA schicken? Das Five-Eyes-Bündnis hat schon längst Vampir-Keywords aufgesetzt”, heißt es im Buch. Wo das alte Vampire noch von einem anonymen Nosferatu-Netz fantasierte, in dem Vampire Forenkriege austragen konnten, ist der Netzoptimismus der 90er hier endgültig vorbei. Ein Vampir in Vampire zu sein, bedeutet konstante Angst vor Überwachung und den Einstieg in eine paranoide Schattengesellschaft, in der jeder jeden verdächtigt, ein Informant für schwerbewaffnete Inquisitoren zu sein. Schuld sollen die Vampire selbst sein, die über Jahre versucht haben, Geheimdienste für ihre Zwecke einzuspannen. Das ist gescheitert.
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Hilfe von anderen Vampiren ist dabei nicht zu erwarten, auch das macht das Regelbuch klar. Denn während die “Zweite Inquisition” Jagd macht, verläuft gleichzeitig ein großer Generationen- und Klassenkampf. Das alteingesessene, konservative Establishment der “Camarilla”, so etwas wie die CDU/CSU der Vampire, verhängt einen Aufnahmestopp über junge Vampire. Mit ihrer Auslöschung konfrontiert, bewachen die alten Vampire ihren Besitz umso stärker. Besonders junge Vampire, die “Thinbloods”, sollen sogar offen gejagt werden.
Ohne die Chance in die gehobene Vampir-Gesellschaft aufzusteigen, bilden junge Blutsauger Banden und organisieren sich in der Bewegung der Anarchen, um die Camarilla zu entmachten: “Auf der Straße wird von Revolution gesprochen. Keine Kompromisse mehr, keine Politik, keine Deals mit der Camarilla”, heißt es im Buch über den Konflikt. Und während die Vampire um ihre wenigen Ressourcen kämpfen, verabschieden sich die, die diese Gesellschaft gebaut haben: Die Vampir-Ältesten. Eine mysteriöse Kraft zieht sie in der neuen Welt von Vampire zu einer weit entfernten Pilgerstätte.
Wie sich Vampire: The Masquerade von seiner Vergangenheit distanziert
Was Kenneth Hite und seine Co-Autoren hier schaffen, ist eine Art Vampir-Horror-Version von aktuellen Ängsten der Millenial-Generation: Eltern, die es völlig verbockt haben und die die Welt in schlechterem Zustand hinterlassen als sie sie vorgefunden haben; ein Regierungsapparat, der Misstrauen und Angst stiftet; ein politisches System, das große Gruppen von der Teilhabe ausschließt.
So klar, so aktuell war das Vampire der 90er nie. Laut dem Designer der alten Spiele, Mark Rein-Hagen, wollte er vor allem ein Spiel über Religion und Glauben machen, schrieb er in einer AmA-Fragerunde auf Reddit. Gelungen ist ihm das nie. Das alte Vampire war vor allem ein Spiel über Subkulturen und ihre Eigenheiten. Dabei kamen Vampir-Superhelden und Vampir-Clans in dem Spiel vor, die aus heutiger Sicht einfach extrem peinlich sind: Etwa die italienischen Mafia-Vampire des Clans Giovanni, oder – noch schlimmer – die Roma/Sinti-Vampire der Ravnos, die konstant ihrem Impuls widerstehen müssen, kriminell zu werden. Noch immer hängt dem Spielestudio wegen solcher Charaktere der Ruf nach, ahnungslos, unsensibel und – im schlimmsten Fall – rassistisch zu sein. Erst vor kurzem erzeugte ein Blog-Post eine Kontroverse, die White Wolf dazu zwang, sich deutlich von Nazi-Ideologie distanzieren zu müssen.
Das neue Regelbuch spricht jedoch zumindest in dieser Hinsicht für sich. Vampire: The Masquerade ist ein mutiges Rollenspiel, weil es eben nicht Machtfantasien über Super-Vampire erzeugen will, sondern Spieler mit der attraktiven Fantasie von mächtigen, wunderschönen, unsterblichen Vampiren lockt – und sie dann in eine Welt wirft, die diese Versprechen der alten Generation einfach bricht.
Und genau das könnte dieses Spiel wieder so relevant machen wie damals, 1991, als Lederjacken, Mafia-Vampire und Goth-Subkultur so viele Menschen zu einem Pen&Paper-Rollenspiel brachten wie nie zuvor.
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