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Warum ich mich als Wohlstandskind manchmal nach Krieg sehne

Als ein lesbisches Pärchen aus dem Nachkriegs-Bosnien bei unserer Autorin einzieht, wirft das für sie einige Fragen über Wohlstand, Depression und ihr ziemlich harmloses Leben auf.
Foto von der Autorin und ihren Mitbewohnerinnen

Lana und Bjanka lernten sich im zerrütteten Nachkriegs-Bosnien kennen und verliebten sich am ersten Tag. Lana war ein bekannter DJ in Banjaluka, Bjanka hatte gerade ihre erste Chemo hinter sich. Im Gegensatz zu Bjanka, die zu der Zeit um ihr Leben bangte, schluckte, schniefte und rauchte Lana alles was ihr zwischen die Finger kam, um ein bisschen weniger am Leben und näher am Jenseits zu sein. Durch Bjanka erschien ihr das plötzlich präpotent destruktiv und sie entschied sich für das Leben.

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Seitdem die beiden nun in meiner Wiener Wohnung eingezogen sind, sehe ich die Welt mit anderen Augen—zumindest theoretisch. Dabei sollte die Erkenntnis aus dem Zusammenleben mit den beiden eigentlich direkt in meine Lebenspraxis übergehen. Ich sollte freudestrahlend und mit Rückenwind hinaus aus dem Studium in die echte Arbeitswelt hüpfen und die frohe Botschaft verkünden: Juhu! Wir sind privilegiert!

Denn während Bjanka und Lana im Ex-Jugoslawischen-Krieg nach brauchbaren Spielsachen im Bombenschutt suchten und ihre Väter aus Autobatterien funktionstüchtige Generatoren bauten, die die ganze Familie mit einer Stunde Strom am Tag versorgten, hockte ich in den österreichischen Bergen und glotzte Mac Guyver, der aus Autobatterien funktionstüchtige Generatoren bastelte. Ich liebte Fernsehen. Ohne den Rettungsschwimmern von Malibu, K.I.T.T. und Steve Urkel hätte mich der oberösterreichische Berg, auf dem ich meine ersten Lebensjahre verbrachte, vollkommen verrückt gemacht. Fernsehen war für uns das Fenster zu einer besseren Welt—einer Fun-Welt.

Auch wenn wir nur zwei Programme hatten und meine Eltern am Anfang des Monats Fernsehmarken an mich und meine vier Geschwister verteilten, vermittelte es uns den nötigen Sinn unseres sonst so trostlosen Daseins. Es dauerte nicht lange und es entwickelte sich eine Art Schwarzmarkt rund um diese Marken. Es gab Tage, da hätte ich meine Seele verkauft für eine weitere Fernsehmarke (wenn am Ende meiner Lieblingsserie „Fortsetzung folgt" eingeblendet wurde und ich all meine Marken bereits verpulvert hatte). Meine Geschwister wussten, dass ich in so Momenten ein leicht gefundenes Fressen für krumme Geschäfte war und zogen mir den letzten Groschen aus der Tasche.

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Schlimmer war allerdings, wenn auch mein bescheidenes Taschengeld bereits im Umlauf war und ich im Gegenzug zu einer Stunde Fernsehen meinem Bruder erlaubte, mir ins Gesicht zu furzen. Was ich schon damals wusste: Mein Einverständnis zu diesem Deal war bedenklich. Aber das Einverständnis meines Bruders zu diesem Geschäft war richtig krank. Warum will man jemandem ins Gesicht furzen? Während ich mir meinen Kinderkopf mit Fragen wie diesen zerbrach, musste Bjanka im bosnischen Konzentrationslager den Urin eines anderen Mädchens trinken, um ihren täglichen Flüssigkeitsbedarf zu erfüllen.

Ungefähr zur selben Zeit, als ich Fanta aus dünnen Strohhalmen im Freibad schlürfte und mit Cola-Kracherln und Pommes aus der Tüte versuchte, die Leere in mir zu füllen, erklärten die jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Das war der Anfang von vier Kriegen im jugoslawischen Vielvölkerstaat, die sich insgesamt über acht Jahre zogen und mehr als 100.000 Tote und Millionen Vertriebene zur Folge hatten. Meine Mitbewohnerin Lana wurde von entfernten Verwandten über die Grenze geschmuggelt und zu ihrer Oma nach Bosnien in Sicherheit gebracht. Während der Autofahrt lag sie mucksmäuschenstill im Kofferraum und bemerkte erst nach Stunden, dass sie den Krieg bereits hunderte Kilometer hinter sich gelassen hatte, genau wie ihre Eltern.

Als diese nach einem Jahr vom Krieg gezeichnet nachkamen, wusste Lana nichts mehr mit ihnen anzufangen. Sie fand die eingefallenen Gesichter und die fehlenden Zähne befremdlich und spürte genau, dass sich nicht nur die Gesichter unwiderruflich verändert haben. Sie waren sich fremd geworden. Lanas Mutter konnte ihr diese Entfremdung nie verzeihen. Seit ihrem Coming-Out beschränkt sich der Kontakt auf das Nötigste. Bjanka beschreibt die Zeit im Konzentrationslager als „Nullzeit". Sie konnte nicht schlafen, nicht weinen, nicht essen, nicht sprechen, sie war traumatisiert. Als sie nach Monaten frei kam, fanden ihre Kinderfüße von ganz allein den Weg in ihr Dorf zurück und sie fand sich plötzlich in ihrem alt vertrauten Wohnzimmer wieder. Und das Leben ging weiter.

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Doch dieses Leben—als lesbisches Paar—wurde ihnen in Bosnien nicht ermöglicht. Zusammen gründeten Lana und Bjanka den ersten offiziellen Verein für Homosexuelle und kämpften friedlich für ihre Rechte. Die Antworten fielen weniger friedlich aus. Sie mussten sich Gewalt und Diskriminierungen aussetzen und entschieden sich für eine neue Heimat: Wien. Und meine Wohnung sollte ihr neues Zuhause sein. Die ersten Abende hörte ich ihre Geschichten mit großen Ohren an und fühlte mich daneben wie ein unbeschriebenes Blatt.

Während ich am Anfang gar nicht genug von ihren Kriegserlebnissen hören konnte, denke ich mir jetzt: Bin ich eigentlich krass genug?

Was die beiden erlebt haben—der Krieg, die Diskriminierung, die hoffnungslose Arbeitslosigkeit der Nachkriegsgeneration—, gibt mir das Gefühl, nie wirklich Sorgen in meinem Leben gehabt zu haben. Im Gegensatz dazu erschien der Grund für meine wöchentliche Therapiesitzung wie ein schlechter Witz und ich verpasste mir selbst mehr und mehr die Identität einer verzogenen Göre, die gar nicht weiß, wie gut sie es eigentlich hat. Mit 27 Jahren haben die beiden mehr erlebt, als mein Gehirn fassen kann. Während ich am Anfang gar nicht genug hören konnte und mich das erhabene Gefühl berauschte, ein verdammtes Glückskind zu sein, weil ich in einem Land wie Österreich aufgewachsen bin, komme ich nun an einen Punkt, an dem ich mir denke: Bin ich eigentlich krass genug?

Meine Jugendsünden erscheinen, im Gegensatz zu Lanas ausführlichen Schilderungen unzähliger Drogenexzesse, wie ein billiger Fake. Außerdem war ich immer straight und musste mich nie in einem gefährlich konservativen Land öffentlich zu meiner Sexualität bekennen. Ich war nie im Krieg, ich wurde noch nie ernsthaft bedroht und ich musste mich noch nie wirklich mit dem Thema Tod beschäftigen.

Aber mir wurde ins Gesicht gefurzt. Mehrmals! Zählt das auch? Trotzdem wehre ich mich gegen den Begriff, der wie ein ungehaltener Nachbar immer wieder mit dem Besenstiel gegen meine Schädeldecke klopft: Wohlstandsdepression.

Erstens bin ich von Wohlstand weit entfernt, zweitens empfinde ich es als meine Verantwortung, die Zeit, das Geld und die Energie in mich selbst zu investieren um mich zu optimieren. Und somit im weitesten Sinne auch die Spezies Mensch.

Als Teil dieser Gesellschaft, die sich nie mit existenziellen Nöten plagen musste, leben wir in einem „Luxus" der es uns ermöglicht, sich mit unserem Inneren auseinanderzusetzen. Im Gegensatz zu meiner Großmutter habe ich die Freiheit, mein Leben eigenständig zu gestalten. Diese Freiheit ist gleichzeitig ein großer Druck, unter dem ich zuweilen zusammenklappe. Da wünschte ich mir manchmal einen Krieg oder ein Erdbeben—eine globale Katastrophe eben, die mich zwingt, den Fokus auf andere Dinge zu lenken, um mal eine Verschnaufpause von mir selbst zu haben. Doch dieser Gedanke ist wohl genauso präpotent destruktiv wie Lanas Sehnsucht nach dem Jenseits angesichts Bjankas Krebserkrankung. Und jetzt fällt mir auch der Grund für meine wöchentliche Therapiesitzung wieder ein.