Psychos, Drogendealer, Omis: Das sind die einzigen Menschen, die Telefonzellen noch benutzen – und selbst die steigen zunehmend auf andere Kommunikationsmittel um (Facebook, alte Nokias, Todesanzeigen). Das ist der Fortschritt!
Die Deutsche Telekom ist schon seit Jahren dabei, immer mehr von den Dingern abzubauen, bevor sie endgültig zu Brutkästen für Schlangen oder Survival-YouTuber werden. Im letzten Herbst hat das Unternehmen die letzte gelbe Telefonzelle Deutschlands abgebaut, die stand in dem malerischen Wallfahrtsort St. Bartholomä am Königssee.
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Und weil die Telekom-Chefs erkannt haben, dass die kleine gelbe Zelle sehr viele Emotionen auslösen wird, haben sie die ganze Aktion gefilmt und den Film am Montag auf YouTube gestellt. Hier ist er. Schaut ihn euch an, und dann lasst euch von mir erklären, welche Emotionen er wirklich bei euch ausgelöst hat. Obi geht’s!
Trauer
Die erste und offensichtlichste Reaktion. Irgendwie sad, denkst du dir, dass keiner mehr die Dinger benutzt. Klar rochen die immer leicht nach Urin, und genug Kleingeld hatte man meistens sowieso nicht dabei, aber: Steht die Telefonzelle nicht irgendwie auch für eine einfachere, entschleunigtere Zeit? Eine Zeit, in der wir noch barfuß ins Freibad geradelt sind? Und dann im Schwimmbad getaucht, gerannt und gesprungen sind, ganz ohne Insta-Story? Und danach mit vom Bum-Bum-verklebten Fingern die Nummer von Zuhause gewählt und die Mutter gefragt haben, ob es OK ist, wenn wir heute eine Stunde später zum Abendessen kommen? Und wir dann noch ganz in Ruhe mit Conny durch den Ort geradelt sind, immer Ausschau haltend nach unbewachten Mülltonnen, die man anzünden konnte?
Hach, deine Jugend. Du kannst ihr zusehen, wie sie von der Telekom abgebaut, über den Königssee geschippert und in einen Container geworfen wird. Du wirst sie nie wiedersehen.
Schuld
Schon auch irgendwie anklagend, das kleine gelbe Häuschen, wie es da so leicht wackelnd abtransportiert wird, oder?
“Seht her”, scheint es zu sagen, “so geht ihr Menschen mit mir um! Jahrzehntelang habe ich gedient, habe tausenden Menschen Gespräche ermöglicht. Belanglose, lebenswichtige, alberne, ernste – und einmal, 1982, hat so ein völlig durcher Flensburger Tourist sogar eine Telefonsexnummer angerufen und sich in mir einen geschleudert, das musste die Vroni dann wegmachen –, und dann, dann habt ihr mich einfach vergessen.
Versteh ich ja, ihr habt jetzt alle Telefone in der Tasche, ist ja klar, dass das einfacher ist, aber … aber hätten mich nicht ein paar von euch einfach trotzdem immer mal wieder benutzen können? Ist doch romantisch! ‘Hey Viktor, rat mal von wo ich dich grade anrufe, aus ner Telefonzelle! Am Königssee! Genau, son altes … oh shit, Geld ist alle!’
50 Euro Umsatz im Monat wär’ alles gewesen, was ich zum Überleben gebraucht hätte! Wäre das zu viel verlangt gewesen? Zu mir müsst ihr nicht kommen, wenn ihr endlich rausgefunden habt, dass die Smartphones eure Hirne kochen. Ich bin dann nämlich schon im Container!”
Ehrfurcht
Wow, einfach wow, der Königssee! Wie das strahlt, wie das leuchtet, schroffe Berge, starke Tannen, kristallklares Wasser!
Wusstet ihr, dass der Königssee bis zu 190 Meter tief ist, weil er in einer Gletscherspalte liegt? Und zu den kältesten und tiefsten Seen Deutschlands gehört? Das macht ihn aber nicht nur schön, sondern auch gefährlich: Gerade am Dienstagabend sind zwei Männer beim Baden in einem Seitenbach des Sees ertrunken. Trotz der Gefahr versuchen immer wieder Leute, zum Grund des Sees zu tauchen, weil sie glauben, dort Nazigold finden zu können. Bis jetzt wurde allerdings nur ein sehr gut erhaltener VW Käfer von 1964 gefunden.
Und dann dieses Bild von der Telefonzelle, wie sie über den See gefahren wird – was für eine bizarre Mischung aus Profanem und Pompösen! Was für ein Assoziationsfeuerwerk, das da ausgelöst wird! Charon, der diese ganze Analog-Technik über den bayerischen Styx in die Unterwelt fährt, die Telefonzelle als leicht angegammelter Lohengrin, der Kutter als das Schwanenboot – erhabener geht es nicht!
Geilheit
Nein, das wirklich gar nicht. Außer, du bist aus Flensburg.
Langeweile
Wahnsinnig dröge, wie der Pressesprecher und die anderen Telekom-Heinis sich da gegenseitig ihre auswendig gelernten Texte aufsagen. Da ist sogar einer, dessen Job offenbar ausschließlich daraus besteht, in ganz Bayern die Telefonzellen abzubauen. Letztes Jahr hätte er “etwa 300 Telefonzellen” abgebaut, erzählt er, und dass die Planung des Abbaus einer einzelnen Zelle so sechs bis acht Wochen dauere, weil man das ja auch mit der Gemeinde und dem Stromnetz und so koordinieren müsse, und man denkt sich: Fuck. Was ist das für ein Job? Was ist das für eine berufliche Perspektive? Du bringst niemandem etwas, du baust einfach nur nach und nach die Relikte einer obsolet geworden Technologie ab, bis sie alle weg sind. Und dann, nach vier Jahren als Leiter der Telefonzellenabbau-Abteilung kommt dann ein “Ja, äh, sind sie jetzt alle weg? Ja, gut gemacht, Josef … danke!”, und du wirst in irgendeine andere Abteilung versetzt. Na Prosit.
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Furcht
Und jetzt bekommst du plötzlich Angst. Klar, die eine Zelle bedeutet jetzt nichts, aber im Allgemeinen eben doch! Denn irgendwie standen die Zellen ja auch für eine Welt, in der man noch wirklich anonym sein konnte. In der weder der Staat noch irgendwelche Konzerne einen auf Schritt und Tritt überwachen konnten, weil wir nicht darauf verzichten können, jedes noch so banale Detail unseres Lebens ins Internet zu ballern. Und jetzt sitzen wir telefonierend am Königssee und wissen gar nicht mehr, wer uns alles belauscht: Google, die NSA, Amazon, der bayerische Verfassungsschutz und ProSieben und der deutsche Brauerei-Verband? Und dann sind wir so überfordert, dass wir einfach aufgeben, uns darüber Sorgen zu machen.
Melancholie
Ist nicht besonders originell, so als Gefühl, weil das Video ja genau das hervorrufen soll, aber hey: Du kannst dich nicht dagegen wehren, selbst wenn du noch nie in einer Telefonzelle warst.
Laut Wikipedia bezeichnet Melancholie “eine durch Schwermut bzw. Schwermütigkeit, Schmerz, Traurigkeit oder Nachdenklichkeit geprägte Gemütsstimmung”, und das beschreibt es in dieser Situation ja irgendwie perfekt. Auf Wiedersehen, kleine gelbe Telefonzelle! Wir werden dich vermissen – bis zur nächsten Insta-Story.
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