Vom heimlich schwulen Stripclub-Mogul zum FBI-Spitzel – die Geschichte des Michael Blutrich

“Ich glaube nicht, dass du einen anderen Homosexuellen kennst, der heimlich für das FBI arbeitete und den Kopf einer großen Gangsterfamilie hinter Gitter brachte.” Diese Behauptung stellt Michael Blutrich auf, als wir miteinander telefonieren. Und er hat recht.

Blutrichs neue Memoiren tragen den Titel Scores. Es ist aber der Untertitel, der die wilde Karriere Blutrichs sehr treffend zusammenfasst: “Wie ich den beliebtesten Stripclub New Yorks eröffnete, mir die Gambino-Familie Millionen Dollar abnötigte und ich zu einem der erfolgreichsten Spitzel in der Geschichte des FBI wurde.”

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Blutrichs Enthüllungsbuch ist Geständnis und warnendes Beispiel zugleich. Aber auch urkomische Züge lassen sich darin finden – zum Beispiel als er ahnungslosen Gangstern während einer proktologischen Untersuchung Geständnisse entlockt. Im Allgemeinen hat man als Leser jedoch das Gefühl, dass ein Mann hier einen langen Seufzer der Erleichterung ausstößt, nachdem er jahrelang mehr Geheimnisse hüten musste, als irgendjemand sollte. 

Vor seinem Gefängnisaufenthalt – der vor Kurzem endete – war Blutrichs aufregendes Leben von Geheimniskrämerei und Widersprüchen geprägt. Am Höhepunkt seiner Karriere arbeitete er als homosexueller Mann in der heterosexuellsten Branche überhaupt. Aber seine Leitung des Millionen Dollar schweren New Yorker Stripclubs Scores bedeutete auch, dass er mit der Mafia in Kontakt kam. Und damit zog Blutrich wiederum die Aufmerksamkeit des FBI auf sich. 

So war der Geschäftsmann zwischen seinem Unternehmen, der Unterwelt und der Vollzugsbehörden hin- und hergerissen. Letztgenannte hatten vorher eines der größten Geheimnisse Blutrichs aufgedeckt: Er war in einen weitreichenden Versicherungsbetrug verwickelt. Durch die Androhung einer strafrechtlichen Verfolgung brachten die Ermittler Blutrich dazu, die Gespräche mit seinen kriminellen Verbündeten heimlich aufzuzeichnen. Nachdem diese verurteilt worden waren, musste sich Blutrich 13 Jahre lang selbst in das Zeugenschutzprogramm eines Gefängnisses begeben.

Alles begann, als Blutrich in den 80er Jahren noch als erfolgreicher Anwalt tätig war. Eines Tages unterbreitete ihm ein Klient das radikale Angebot, zusammen einen Stripclub in Manhattan zu eröffnen. Besagter Klient hatte eine hochklassige und teure Alternative zu den ganzen heruntergekommenen Etablissements am Times Square im Sinn, die zu dieser Zeit der Standard waren. Blutrich sollte Miteigentümer werden.

“Ich dachte mir damals: ‘Das Letzte, was ich in meinem Leben will, ist ein Club voller nackter Frauen, die ein heterosexuelles und homophobes Publikum anziehen’”, erzählt Blutrich. Dennoch sagte er zu und Anfang der 90er eröffnete das Scores. Selbst die New York Times berichtete damals davon, dass sich Oben-ohne-Bars ihren Weg aus dem schmierigen Milieu bahnten.

Zwar warf das Geschäft schon bald unglaublich viel Geld ab, aber Blutrich fühlte sich darin dennoch wie ein Fremder. Seine sexuelle Orientierung war schon immer ein Stressfaktor gewesen: “Lange Zeit konnte ich nicht ich selbst sein”, sagt er. “Als Teenager hatte ich den Eindruck, der einzige Mensch mit diesen Gefühlen zu sein. Deshalb unterdrückte ich sie und heiratete.” Die Ehe hielt nicht lange. “Meine Frau langweilte sich schnell”, erzählt Blutrich. Die Trennung kam genau zu der Zeit, als die AIDS-Epidemie ausbrach. Obwohl der Geschäftsmann oft über ein Coming-out nachdachte, traute er sich nicht. “Die ganze Situation war so beängstigend”, fährt er fort. “Niemand wusste, wie sich die Krankheit überträgt. Deshalb wurde sie einfach als Schwulenkrankheit abgestempelt.”

Obwohl er öfters etwas mit Männern hatte, ließ sich Blutrich nie auf etwas Festes ein. Er mied sogar die Gegenden, in denen vornehmlich Schwule wohnten. Zu seiner Überraschung stellte sich seine sexuelle Orientierung aber als Vorteil im heterosexuellen Stripmilieu heraus. Die Tänzerinnen im Scores boten ihm nämlich sexuelle Gefallen im Gegenzug für die lukrativen Schichten an. Blutrich ließ sie immer wieder abblitzen und konzentrierte sich stattdessen auf das Geschäft. 

Es waren aber auch die oftmals selbst queeren Tänzerinnen, die Blutrichs Homosexualität letztendlich bemerkten. Die Gerüchteküche brodelte. “Schließlich sagte ich: ‘Verdammt, was mache ich hier eigentlich? Irgendwann bin ich sowieso tot. Die Mädels wissen Bescheid, die Leute im Club wissen Bescheid. Niemanden stört es. Schluss mit dem Versteckspiel!’”, erzählt er. 1998 folgte dann das Coming-out – sieben Jahre nach der Eröffnung des Scores.

Zu Blutrichs Erleichterung fiel ihm das Coming-out nicht so schwer, wie erwartet. Sein Geld und seine Macht halfen da sicherlich weiter. Er baute sich einen schwulen Freundeskreis auf und erinnert sich noch daran, wie er sich sogar wohl genug fühlte, um in einen Schwulen-Stripclub zu gehen. Diese Erfahrung öffnete ihm die Augen: Endlich verstand er, was die heterosexuelle Klientel in seinen eigenen Stripclub zog.

In New York war die Kacke jedoch immer mehr am Dampfen. Da die Mafia verstärkt in Blutrichs Unternehmen mitmischte, nahm seine Versicherungsbetrugsmasche immer größere Ausmaße an. Nachdem er mithilfe eines gefälschten Schecks drei seiner Klienten beim Kauf eines Versicherungsunternehmens in Florida geholfen hatte, wurden diese Klienten zu vertrauten Investoren in das Scores. Dabei nutzten sie den Club, um Gelder zu veruntreuen und so andere Investoren und die Regierung zu betrügen. Das FBI hatte für diese Verbrechen handfeste Beweise. Deshalb brachten die Beamten Blutrich dazu, als Spitzel gegen die Mafia zu agieren. Aus Angst vor einer Haftstrafe nahm der Geschäftsmann das extreme Risiko auf sich.

“Ich bin nicht mutig!”, sagt Blutrich. “Ich folgte nur den Anweisungen.” Dabei wurde es mehrfach sehr brenzlig, als er sich vor Treffen mit der Mafia ausziehen und einer Leibesvisitation unterziehen musste. “Während des zweiten Auftrags wurde ich zum ersten Mal fast erwischt”, erzählt er. Das Sicherheitspersonal bestand darauf, ihn zu durchsuchen. Dafür führte ihn ein Angestellter ins Bad. Beim Ausziehen verschob Blutrich das Aufnahmegerät dann vorsichtig in ein Hosenbein und fing anschließend an, dem Aufpasser einen Lapdance zu verpassen. “Der schrie daraufhin: ‘Zieh dich verdammt noch mal wieder an!’ Ich antwortete: ‘Wenn du mich hier so demütigst, werde ich ganz steif’”, erzählt er. So stellte er sicher, von diesem Aufpasser nie wieder durchsucht zu werden.

Als ein Anwalt der Mafia Blutrich vor einem anderen Treffen abtastete, kam er dem Aufnahmegerät in dessen Schritt gefährlich nahe. Also fasste Blutrich dem Anwalt ebenfalls in den Schritt. Völlig überrumpelt beendete der sofort die Leibesvisitation.

Blutrich lebte als FBI-Informant ein Jahr lang in ständiger Angst. Letztendlich halfen die Aufnahmen dabei, 35 Mafiosi in verschiedenen Punkten anzuklagen und hinter Gitter zu bringen. Blutrich selbst wurde wegen des Versicherungsbetrugs zu 16 Jahren Haft verurteilt. Er saß damit länger im Knast als viele der Männer, bei deren Verurteilung er behilflich war.

“Ich hatte mich endlich geoutet und fühlte mich wohl in meiner Haut. Und dann kam ich plötzlich wieder in ein Umfeld, in dem ich mich extrem bedeckt halten musste”, erzählt Blutrich. “Im Gefängnis kann man als bekannte Person nämlich nicht einfach einen Freund haben oder mit anderen Männern schlafen.”

Nach seiner Freilassung fand sich Blutrich in einer veränderten Welt wieder. “Die Offenheit der Schwulen-Community finde ich faszinierend”, sagt er. “Im Gefängnis war meine sexuelle Orientierung manchmal ein Problem. Draußen verleiht sie mir Flügel. Zum ersten Mal in meinem Leben kann es mir egal sein, was andere Leute zu meinem Coming-out sagten.”

Das Scores existiert – wenn auch mit einem anderen Management – auch heute noch. Seinen Ruf hat der Stripclub jedoch nicht verloren. 2004 kam durch die Tänzerinnen heraus, dass ein ausgeklügelter Kreditkartenbetrugsring von dort aus operierte. Blutrich ist währenddessen damit beschäftigt, sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Es macht ihm immer noch schwer zu schaffen, dass er damals so viele Geheimnisse so lange hüten musste. Im Alltag benutzt er einen Decknamen. Außerdem hat er absichtlich nur einen kleinen Freundeskreis, um keine Rache fürchten zu müssen.

Bei den ganzen Fassaden, die Blutrich in seinem Leben schon aufrechterhalten musste, scheint ihm die Verheimlichung seiner Homosexualität am schwersten gefallen zu sein. Nur an einer Stelle unseres einstündigen Gesprächs spricht er langsamer – nämlich als er darüber nachdenkt, wie viel Überwindung ihn sein Coming-out gekostet hat. “Ich wünschte, ich wäre in der heutigen Zeit geboren worden”, sagt er. “Dann hätte ich mein Leben von Anfang an richtig genießen können.”