Bobby Bogle war vier Jahre alt, als sein Vater ihm am Weihnachtsmorgen eine braune Papiertüte in die Hand drückte. Darin verpackt war ein schwerer Schraubenschlüssel. Zuerst wusste der Junge nichts mit dem Geschenk anzufangen. Dann erinnerte er sich aber an die Heldengeschichten, die sein Vater, Rooster, immer von seinen Einbrüchen und seiner Zeit im Gefängnis erzählt hatte.
Bobby verstand das Geschenk als Aufforderung, die Familientradition fortzuführen. Eines Morgens schlich er sich mit dem Schraubenschlüssel aus dem Haus, schlug das Schaufenster eines Supermarkts ein und klaute ein paar Flaschen Cola. Als er mit dem Diebesgut nach Hause zurückkehrte, empfing ihn sein Vater, als hätte Bobby gerade seinen ersten Homerun geschlagen.
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Für die Bogles war Verbrechen eine Familientradition. Seit den 1920ern wurden rund 60 Familienmitglieder rechtskräftig verurteilt, saßen im Gefängnis oder bekamen Bewährungsstrafen. Aktuell befinden sich sechs Familienmitglieder in Haft.
Der New York Times-Journalist und Pulitzerpreisträger Fox Butterfield hat sich eingehend mit der Familie Bogle beschäftigt und mit Angehörigen in und außerhalb von Gefängnissen gesprochen. Herausgekommen ist das Buch My Father’s House: A New View of How Crime Runs in the Family. Darin setzt er sich intensiv mit den verschiedenen Faktoren auseinander, die zu der ungewöhnlichen Familiengeschichte beigetragen haben.
VICE hat mit Butterfield darüber gesprochen, ob kriminelles Verhalten tatsächlich vererbbar sein könnte und was das alles für das vergiftete politische Klima in den USA sowie den globalen Rechtsruck bedeutet.
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VICE: Warum haben Sie sich so sehr auf die Rolle der Familie konzentriert, wenn es zahlreiche Untersuchungen gibt, die Umweltfaktoren wie Armut eine zentrale Rolle in kriminellen Biografen zuschreiben?
Fox Butterfield: Es gibt einige US-amerikanische und britische Studien, die untersucht haben, wie sich Kriminalität in Familien verbreitet. Obwohl es diese Befunde schon länger gibt, hat noch nie jemand etwas damit gemacht. Niemand hat sich genauer angeschaut, warum sich Familien so verhalten. In den USA tendieren wir außerdem dazu, nicht mehr über die Verbrechen von Weißen zu sprechen. Die Diskussion dreht sich fast ausschließlich um Schwarze. Ich wollte eine weiße Familie finden, um ethnische Faktoren möglichst ausschließen zu können.
Warum glauben Sie denn, dass diese Studien, die Familien einbeziehen, weniger bekannt sind?
Im Gespräch mit Kriminologinnen und Kriminologen bekam ich den Eindruck, dass viele fast schon Angst davor haben, die Familie als Faktor miteinzubeziehen. Bis vor Kurzem wäre man noch als Rassist bezeichnet worden, wenn man die Familienbeziehungen oder einen biologischen oder genetischen Zusammenhang in Erwägung gezogen hätte. Deswegen haben viele sich in allen anderen Richtungen umgeschaut. Sie schauten sich den Einfluss der Nachbarschaft, Armut, Gangs und Drogen an. Die Familie wurde ignoriert, obwohl es diese ganzen Studien gibt.
Welche Schlüsse lassen sich denn aus einer Familie wie den Bogles ziehen, ohne eine ganze Familie aufgrund ihrer Herkunft zu verteufeln?
In meinen Gesprächen mit den Familienmitgliedern sagten mir alle sofort, dass sie schon in sehr jungen Jahren von ihrem Vater und ihrer Mutter, manchmal auch von ihren Onkel und Tanten mitgenommen worden seien, um gemeinsam Verbrechen zu begehen. Sie lernten Verbrechen als Familienaktivität kennen.
Rooster Bogle besuchte mit seinen Söhnen etwa einmal die Woche ein Gefängnis in der Nähe ihres Hauses. Er zeigte auf das Gebäude und sagte: “Schaut genau hin, Jungs. Wenn ihr groß seid, werdet ihr nämlich dort leben.” Seine Söhne verstanden das nicht als Warnung, sondern als Herausforderung.
Sie lernten Kriminalität als etwas Ehrbares kennen. Kriminologen beschreiben das mit der sozialen Lerntheorie. Es ist ein Prozess der Nachahmung. Als ich mich eingehender mit der Familie auseinandersetzte, entdeckte ich auch Mechanismen der sozialen Kontrolle. Sie hatten kaum soziale Bindungen. Sie waren weder bei den Pfadfindern, noch hatten sie ein enges Verhältnis zu ihren Lehrern. Sie waren in keinem Sportverein, gingen nicht in die Kirche oder zur Sonntagsschule. Sie gehörten keiner anderen Gesellschaftsgruppe an und verfügten über keine realen Vorbilder jenseits der Familie. Sie hatten nur wirklichen Kontakt zu anderen Familienmitgliedern, die selbst eine kriminelle Karriere einschlugen.
Wie haben Sie sich davor geschützt, problematische Aussagen über den Zusammenhang von Vererbung und Verbrechen zu treffen?
Seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist es möglich, Rückschlüsse vom Erbgut auf kriminelles Verhalten zu ziehen. Bis vor Kurzem war das noch unmöglich. Man wäre ziemlich schnell als Rassist oder Nazi abgestempelt worden. Jetzt befassen sich einige Kriminologinnen und Kriminologen mit diesem Aspekt. Sie haben entdeckt, dass dich gewisse Gene in Kombination mit einem Familienumfeld wie dem der Bogles zu bestimmten Verhaltensweisen tendieren lassen.
Besonders interessant ist zum Beispiel das Gen, das Menschen impulsiver macht. Deswegen wird man zwar nicht automatisch zum Verbrecher, aber es ist oft ein Vorzeichen kriminellen Verhaltens. Bei aller Forschung, die momentan in diesem Bereich passiert, betonen Wissenschaftler immer wieder, dass es nicht so etwas wie ein Verbrecher-Gen gibt. Tausende Gene spielen dabei eine Rolle und diese müssen auch erst in einer bestimmten Kombination auf ein entsprechendes Umfeld treffen.
Machen Sie sich keine Sorgen, dass Ihre Thesen bei dem aktuellen rechtsgerichteten politischen Klima vom falschen Lager aufgegriffen werden?
Ich hoffe, dass das Buch für sich steht und in keiner Rechts-Links-Debatte untergeht. Ich habe bewusst darauf geachtet, dass es nicht so klingt, als wären bestimmte Familien durch ihr Erbgut verdammt und könnten sich nie ändern. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen solche Muster durchbrochen haben.
Allerdings denke ich, dass unser Strafrechtssystem viel effektiver sein könnte, wenn wir uns dieses Familieneffekts bewusster wären. Wir könnten dann versuchen, enger mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten, solange sie noch jung sind. Je früher man Menschen dazu bringt, ihr Verhalten zu ändern, desto einfacher ist es. Nach einer gewissen Zeit brennt sich das ein.
Wie konnte sich diese Verbrecher-Mentalität bei der Familie Bogle über mehrere Generationen halten?
Diese Mentalität wurde in der Familie geformt. Sie bewahrten einiges davon als Tradition und Weltbild. Es erfüllte sie mit Stolz. Rooster machte seinen Kindern diese kleinen Tattoos auf die Wangen, kleine Punkte unter dem linken Auge. Er erzählte ihnen, es sei “ein Zigeuner-Zeichen”, aber eigentlich stammt es von amerikanischen Häftlingen aus den 50er und 60er Jahren. Ich glaube nicht, dass es noch weit verbreitet ist, aber damals waren solche Tätowierungen relativ gängig.
Es war also weniger eine Frage des Überlebens, sondern drehte sich um Stolz und Ablehnung der gesellschaftlichen Werte?
Es war Teil der Familienidentität geworden. Es war das, woran sie glaubten. Die Bogles lebten auch sehr abgeschieden vom Rest der Gesellschaft. Sie hatten kaum Freunde, die nicht zur Verwandtschaft gehörten. Sie erlaubten ihren Kindern nicht, mit Kindern anderer Familien zu spielen. Sie blieben quasi unter sich. Sie wollten nicht, dass andere Menschen erfahren, wie sie leben. Und diese Abgeschiedenheit vom Rest der Gesellschaft spielte eine große Rolle.
Glauben Sie, dass am Ende Armut und Chancenlosigkeit eine größere Rolle spielten oder das Weltbild, das in der Familie weitergegeben wurde?
Über diese Frage habe ich habe sehr lange nachgedacht. Die Bogles sind definitiv eine unterprivilegierte weiße Familie. Sie haben jedoch nicht die gleichen Probleme wie zum Beispiel Afroamerikaner, die bereits durch ihre dunklere Haut Vorurteilen ausgesetzt sind.
In der Familie selbst wird Verbrechen als Talent wahrgenommen: die Sache, in der sie besonders gut sind. Und sie sind stolz darauf. Für sie ist das etwas Kulturelles.
Sie erwähnten vorhin, dass manche das Muster durchbrechen konnten: Wie ist ihnen das gelungen?
Tammie Bogle zum Beispiel ist ein tief religiöser Mensch. Auch wenn viele ihrer Brüder und ein paar ihrer eigenen Kinder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen oder im Gefängnis gelandet sind, haben ihre Willensstärke und ihr Glauben sie auf einen guten Weg gebracht.
Ashley Bogle wiederum entschied sich früh für eine andere Laufbahn, obwohl sie von Kriminellen umgeben war. Sie konzentrierte sich stattdessen auf die Schule und wurde die erste in der Familie mit einem College-Abschluss. Ich glaube nicht, dass Menschen vorbestimmt sind, einen kriminellen Weg einzuschlagen. Sie treffen unterwegs immer wieder Entscheidungen. Nicht jeder in so einer Familie muss kriminell werden. Es ist nicht einfach, aber es gibt Auswege.
‘My Father’s House: A New View of How Crime Runs in the Family’ ist jetzt bei Knopf erschienen. Du kannst es unter anderem hier kaufen.
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