Warum ein deutsches Kriegsschiff in Tansania als Passagierfähre dient

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Es war 22 Uhr, als mein Fotograf Alex die Ruderboote auf unser Schiff zugleiten sah. Das historische Motorschiff Liemba brachte uns diesen Januar auf einer dreitägigen Reise von Tansania nach Sambia. Junge Männer warfen Taue an Bord und kämpften sich, auf Französisch und Swahili rufend, den Rumpf hinauf bis aufs Hauptdeck. Die anderen Passagiere hielten inne und verfolgten verwirrt das Spektakel. Zumindest erzählte man mir das später, denn wir hatten unseren ersten Abend an Bord ordentlich begossen und ich war früh zu Bett gewankt.

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Wie sich herausstellen sollte, ist das alles völlig normal. Im Laufe unserer Reise spielen sich an Deck oft solche Szenen ab. Stopps werden nicht angekündigt, doch das war wohl die erste von 21 Stationen auf der 500 Kilometer langen Route vom Hafen Kigoma im Westen Tansanias nach Mpulungu, einer kleinen Hafenstadt im Nordwesten Sambias. Die Liemba legt insgesamt nur zweimal an: einmal kurz nach Reisebeginn und dann im Zielhafen. Die restliche Zeit geht sie draußen auf dem zweittiefsten See der Erde, dem Tanganjika-See, vor Anker. Die örtlichen Händler kommen zu ihr gerudert, um Geschäfte zu machen – Fracht wird gelöscht, Tauschhandel betrieben und Passiere steigen zu oder ab.

Das Motorschiff Liemba, ein umgerüstetes deutsches Kriegsschiff, ist die älteste aktive Passagierfähre der Welt und verkörpert mit ihrer Geschichte die Ambitionen ehemaliger Kolonialreiche, deren Nachwirkungen in Afrika noch immer zu spüren sind. Allerdings veranschaulicht sie auch die Geschäftigkeit und den zunehmenden Kapitalismus, die einen Großteil des Kontinents heute auszeichnen. Und: Es macht verdammt Spaß, mit ihr zu fahren!

Die Fähre läuft nur zwei Häfen an, aber auf der gesamten Strecke ankert sie immer wieder und Passagiere kommen von kleineren Booten an Bord.

Kapitän Titus Benjamin Mnyanyi begleitet das Schiff schon mehr als 25 Jahre lang und hat in etwa ebenso vielen Liemba-Filmen mitgemacht. Laut Mnyanyi gibt es auf jeder Fahrt den See hinab eine Handvoll Touristen – immer in der ersten Klasse. Die große Mehrheit der Liemba-Passagiere sind Afrikaner, meist Tansanier, für die der Wasserweg die praktischste Route in die Küstenstädte der südlichen Landeshälfte darstellt. Die nächste Hauptstraße, die parallel zur Liemba-Route verläuft, liegt viele Kilometer von den Dörfern entfernt, und unwegsames Gelände erschwert die Reise. In der dritten Klasse, wo die Luft vom Geruch der Ananasfracht erfüllt ist, treffe ich Tatu Kasim. Die 22-Jährige sagt, sie könne ihr Dorf nur per Schiff verlassen.

Zweimal im Monat fährt die Liemba von Tansania nach Sambia und zurück. Die Passagiere und die transportierte Fracht bescheren den ansonsten isolierten Gemeinden entlang der Route ihren einzigen “Boom”. Das Schiff fasst bis zu 600 Menschen und 200 Tonnen Ladung. Zur Standardfracht gehören dagaa (kleine Trockenfische), Holz, Seife, kistenweise Saft und – auf dieser Überfahrt – tausende Ananas.

“Dieses Schiff ist wichtig”, erklärt Matthews Bala, der auf meine Frage, woher er komme, mit “Ich bin Afrikaner” antwortet. Bala reist erster Klasse und transportiert Dagaa von Tansania in den Kongo; er hat in beiden Ländern Familie. Er kauft den Fisch zu einem Kurs von 30.000 tansanischen Schilling (etwas weniger als 13 Euro) pro Eimer, verschifft ihn nach Mpulungu und bringt ihn dann im Lkw in den Kongo. Das ist die kürzeste Strecke, die er dafür nehmen kann. Bala sagt, er verkaufe 100 Kilo für rund 375 Euro. Doch nicht alle Passagiere sind Geschäftsreisende. Viele besuchen mit dem Schiff Freunde und Familie – darunter auch Janet Adam, die allein in der dritten Klasse reist, um ihren kranken Vater in Kasanga, dem vorletzten Halt, zu besuchen.

Mein erster Morgen an Bord beginnt bei Sonnenaufgang. Der Plan war, eine Runde an Deck zu drehen und dann ins bequeme Stockbett meiner Kabine zurückzukehren. Als wir aber die fruchtbaren Hänge der Mahale Mountains passieren, lässt mich der rosa-violette Himmel alles vergessen. Wenig später lerne ich im Speisesaal bei Pulverkaffee und Omelette den Ingenieur Frank Espert kennen. Der Norddeutsche ist mittleren Alters und unverhohlen elegant gekleidet: Das blaue Ziffernblatt seiner Uhr passt zu den Streifen seines Maßhemdes und zum marineblauen Pullover, der über seinen Schultern hängt. Espert ist auf der Liemba, weil er neugierig darauf ist, wie die Dinge in anderen Ländern laufen. Verkehrsmittel, erklärt er mir, seien einige der besten Orte, um genau das zu erleben.

2016 haben Sarah Paulus und Rolf G. Wackenberg das Buch Von Goetzen bis Liemba. Auf Reisen mit einem Jahrhundertschiff veröffentlicht, doch Espert kennt die Geschichte der Liemba selbst auswendig: Gebaut wurde sie 1913 in der berühmten Meyer-Werft im niedersächsischen Papenburg. Damals war Wilhelm II. noch Kaiser, Tansania hieß Deutsch-Ostafrika und Kigoma war ein kleines Fischerdorf, das die Deutschen in einen großen Fischereihafen verwandeln wollten. Das Schiff wurde nach dem Bau demontiert und in fünftausend Holzkisten nach Tansania gebracht. Die Container kamen per Schiff nach Daressalam und dann zu Fuß und per Eisenbahn nach Kigoma, wo man die Liemba wieder zusammensetzte.

Das MS Liemba wurde 1913 in Deutschland gebaut, war am Ersten Weltkrieg beteiligt und wurde im Tanganjika-See versenkt, bevor die Briten es 1927 wieder in Dienst stellten.

Kaiser Wilhelm II. hatte ursprünglich seine Besitzungen in Tansania besuchen wollen – das Gebäude, das in Kigoma für seinen Aufenthalt errichtet wurde, dient jetzt als Behörde – doch der Erste Weltkrieg machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Als die europäischen Mächte um ihre kolonialen Einflusssphären kämpften, wurde Afrika Opfer des Ersten Weltkriegs. Rund sechs Monate nach Kriegsausbruch, im Februar 1915, lief die Liemba vom Stapel und wurde mit Kanonen ausgestattet, um die deutschen Interessen gegen die Briten zu verteidigen. Als Basis der Angriffe auf die Streitkräfte der Entente beherrschte sie den Tanganjika-See und machte aus ihm ein zentrales Schlachtfeld. Die Deutschen investierten viel Zeit und Geld, um die alliierten Kräfte im Ostafrikafeldzug zu binden. Hunderttausende Afrikanerinnen und Afrikaner fielen dem Krieg zum Opfer – Schätzungen zufolge starben über 150.000 Menschen allein durch Zwangsarbeit für ihre Kolonialherren.

Im Verlauf der Auseinandersetzungen musste sich Deutschland auf den britischen Vormarsch an Land konzentrieren und versenkte die Liemba im Tanganjika-See, damit sie nicht den Feinden in die Hände fiel. Nach dem Krieg zeigten Einheimische den Briten, wo das Schiff lag, und holten es zusammen mit den neuen Kolonisatoren an die Oberfläche. Die Liemba wurde 1927 wieder in Dienst gestellt und ist seither beinahe ununterbrochen im Einsatz. Mit der Unabhängigkeit Tansanias im Jahr 1961 übernahm die neue Regierung das Schiff, das seither zweimal, 1974 und 1993, renoviert wurde. Wie der aktuelle Navigator der Liemba, Yusuf Shambi, erklärt, soll das Schiff diesen Sommer abermals überholt werden – wirklich sicher sei das allerdings nicht. Teil der Modernisierung soll auch eine Klimaanlage für die dritte Klasse sein: So sollen die dortigen Passagiere vom Erste-Klasse-Deck ferngehalten werden. Westliche Passagiere haben sich laut Shambi über die Durchlässigkeit zwischen den Klassen und die angebliche “Überfüllung” des Oberdecks beschwert.

Diese Aussicht deprimiert mich, denn die entspannte Stimmung ist in meinen Augen einer der besten Aspekte des Schiffs. Eigentlich habe ich befürchtet, unser Trip könnte eine Zeitreise in die dunkle Kolonialzeit werden. Stattdessen stelle ich zufrieden fest, dass Afrika die Liemba komplett zurückerobert hat.

Von Kapitän Mnyanyi, der seine Karriere als Kadett auf der Liemba begann, erfahre ich die jüngere Geschichte des Schiffs. Er war an Bord, als 1997 über 75.000 und zwischen 2012 und 2014 über 100.000 Kongolesen abgeschoben wurden. Er erzählt, er habe sich nicht schuldig gefühlt, die Menschen zurückzubringen, obwohl sie sich in Tansania niedergelassen hatten – schließlich sei der Krieg in ihrem Land vorbei gewesen. Er befehligte das Schiff auch 2015, als der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge es charterte, um mehr als 50.000 burundische Flüchtlinge vom tansanischen Kagunga-Küstenstreifen nach Süden in Lager bei Kigoma zu bringen. “Es war schrecklich”, erinnert sich Luleka Mwendesha. Der 26-jährige Seemann schaffte nur 9 der 29 Flüchtlingstouren, bevor er krank wurde. In seinen drei Jahren auf der Liemba hat Mwendesha mindestens drei Menschen auf dem Schiff sterben sehen. Das nächstgelegene Krankenhaus der höchsten Versorgungsstufe liegt in Kigoma, und oft werden Kranke an Bord gebracht, wenn das Schiff nach Norden fährt. Manchmal ist es für sie zu spät.

Die Bewegungs- freiheit der Passagiere zwischen den Klassen ist relativ unbeschränkt, weshalb die Stimmung an Bord entspannt und überhaupt nicht kolonial wirkt.

Gegen Ende des zweiten Tages sieht Frank Espert schon viel entspannter aus. Er trägt ein Achselhemd und immer, wenn ich frage, wie es ihm gehe, antwortet er: “Perfekt.” Dass ich am ersten Abend früh schlapp gemacht habe, mache ich jetzt wett: Ich trinke bis spät in die Nacht Konyagi und Stoney – tansanischen Schnaps und Ingwer-Bier – und hänge am Bug mit Seeleuten und Reisenden ab, die Tüten rauchen.

Am Mittag des eigentlich letzten Tages erfahre ich zu meiner Freude, dass wir den ganzen Nachmittag und Abend in Kasanga ankern werden. So sollen die Passagiere mehr Zeit für Geschäfte haben, und gleichzeitig kann die Liemba sich die sambische Nacht-Anlegegebühr von fast 100 Euro sparen. Ich nutzte diese Gelegenheit, die anderen Passagiere und auch Matthews Bala, den Dagaa-Händler, besser kennenzulernen. Letztendlich verrät Bala mir, er sei Kongolese, doch er sehe sich in erster Linie als Afrikaner, denn für ihn komme der Kontinent an erster Stelle. “Ihr Amerikaner und Franzosen habt uns Freiheit gegeben, aber keine vollständige Freiheit”, sagt er. Er fügt hinzu, beide Länder seien am Aufstieg von Diktatoren beteiligt gewesen, die Afrika ruiniert hätten. Bala weist mich an, eine Liste zu schreiben, die Paul Kagame aus Ruanda, Joseph Kabila aus dem Kongo, Pierre Nkurunziza aus Burundi und Robert Mugabe aus Simbabwe umfasst. Vielleicht ist es die damals wie heute geteilte Unterdrückung, die ihn dazu gebracht hat, auf Einheit zu beharren: ein Kontinentalist, kein Nationalist. “Ich liebe es, Afrikaner zu sein.”

Der Navigator Yusuf Shambi sagt, es gehe ihm genauso. Er ist überzeugt: “Wenn man leben will”, dann finde man in Afrika ein besseres Leben als in Amerika. Ich überlege kurz, ob ich auf krisengeschüttelte Länder wie den Südsudan oder Somalia hinweisen soll, aber wie wir so dastehen und hinausblicken, spüre ich etwas von dieser gewaltigen Weite in mir und muss ihm einfach zustimmen.

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