Warum es nie zu spät ist, Feministin zu werden

Sookee ist eines der feministischen Aushängeschilder der Deutschrapszene und beweist auf ihrem neuen Album Mortem & Makeup, dass HipHop auch im Jahr 2017 noch politisch sein kann. In diesem Gastbeitrag für Broadly erklärt die Berliner Aktivistin, wie sie zum Feminismus gefunden hat und warum der Kampf um Gleichberechtigung noch lange nicht vorbei ist.

Feminismus feiert gerade Hochkonjunktur. Mal wieder. Die Begeisterung für Girlpower und Emanzipation kommt und geht in Wellenform. Entweder, weil eine popkulturelle Inszenierung feministisch platziert wird und jeder gerne ein bisschen mehr wie Beyoncé wäre. Oder eben, weil die Scheiße gesellschaftlich am Dampfen ist und tatsächlich eine Menge politischer Arbeit ansteht, die nicht selten von Frauen angegangen wird.

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Trotzdem wird immer wieder gefragt, ob er überhaupt noch nötig sei, der Feminismus. Schließlich dürfen Frauen wählen, arbeiten und müssen ihren Wert nicht mehr daran bemessen, wie viele Kinder sie in die Welt setzen. Was will er da denn überhaupt noch bewegen, der Feminismus? Klingt doch auch schon so radikal. Kann man das nicht umbenennen? Irgendwie attraktiver machen?

Wenn man sich feministisch engagiert, gibt es oft Kritik, Misstrauen und Augenrollen. Dass das Bedürfnis nach Emanzipation, Gleichberechtigung und Sicherheit für Menschen aller sexuellen Ausrichtungen und Geschlechteridentitäten auch im 21. Jahrhundert ungebrochen ist, zeigt sich allerdings dann, wenn Feminist_innen weltweit auf die Straße gehen. Sei es bei den Women’s Marches gegen den weltweiten politischen Rechtsruck von Trump, AfD und Co., oder eben am Internationalen Frauenkampftag.

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Ich bin eine von ihnen. Der Weg auf die Straße war für mich allerdings ein weiter.

Ich habe Sexismus lange Zeit in meinem Leben sehr stark verinnerlicht. Das ist eine harte Wahrheit, aus der ich mich mühsam über Jahre herausschälen musste. Meistens gab ich den Frauen selbst die Schuld dafür, wenn sie verarscht, benachteiligt, ausgelacht und unterdrückt wurden. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, weshalb ich mich nicht mit Betroffenen solidarisiert habe. Vielleicht hatte ich mir dadurch die Sicherheit erhofft, nicht selbst auf Seiten der Opfer zu stehen. Wer will schon belächelt, ignoriert, für dumm verkauft und ausgebeutet werden? Vermutlich habe ich meiner Familie zu lange genau das beobachten müssen.

Weibliche Solidarität habe ich bis Mitte Zwanzig eigentlich nicht wirklich gekannt. Zumindest nicht praktisch. Dass sich Frauen verbünden, war mir klar. Aber ich habe es eher als Zeichen ihrer Bedürftigkeit oder Schwäche gewertet. Alleine seien sie nicht stark genug, dachte ich, deswegen müssten sie sich zwangsläufig zusammentun. Frauen habe ich in meinem Umfeld vor allem in ihrer Überarbeitung und Überforderung, in der Vereinzelung erlebt. Vollzeit, Schichtdienst, Haushalt, Kinder, Weiterbildung, kaputte Ehe. Kein Raum für Inspiration, Lebensfreude und Träume. Stattdessen Funktionieren, Zähne zusammenbeissen, Frustration. Nichts, was als lebensbejahendes Vorbild dient.

Weiblichkeit bekommt keine Anerkennung. Egal, wie sehr man sich bemüht. Und ich war auf dem besten Weg, eine Frau zu werden.

Auch wenn das wie ein Widerspruch klingt: Ich hatte schon frühzeitig ein starkes Gerechtigkeitsempfinden. Ich wusste, dass Lästereien, Mobbing, Ungleichheit, Unterdrückung und Faschismus übel sind. Nur klammerte ich dabei irgendwie das Patriarchat aus.

Ich fand Mädchen sein als Kind schon scheiße und habe mich gegen Mädchenspielzeug, Mädchenkleidung, Mädchenattribute bereits im Kindergarten gewehrt. Die anderen Mädchen fand ich als solche eher doof und konnte (oder wollte) mich mit ihnen nicht identifizieren. Die Jungen wiederum wollten mit mir nichts zu tun haben. Schließlich war ich in ihren Augen ein Mädchen und auch sie hatten diese Unterscheidung schon voll drauf. Daher gab es für mich weder Puppen noch Autos. Aber auch kaum Freundschaften. Ich war eine Stubenhockerin, ein Bücherwurm, eine Einzelgängerin. Ängstlich, aber trotzdem große Klappe.

Alle Fotos: Eylül Aslan

Ich komme aus einem linken Elternhaus. Eigentlich ein guter Ort, um Emanzipation zu atmen. In Bezug auf die Rollenbilder waren Gleichheit und Sozialismus als Ziel in der Welt allerdings weit entfernt von dem Konservativismus daheim. Die Männer kümmerten sich um ihren eigenen Kram und die Frauen um den ganzen verdammten Rest. Frauen bewiesen 364 Tage im Jahr Durchhaltevermögen, Disziplin, absolute Verlässlichkeit und konnten dennoch mit nur einem degradierenden Satz in die Ecke geschickt werden. Da das System Familie am Laufen gehalten werden musste, gab es lange keine Zeit für Rebellion.

Mit 13 riss mich diese Spannung in eine derartige Krise, dass ich eine Therapie begann. Ich hatte gelernt: Weiblichkeit bekommt keine Anerkennung. Egal, wie sehr man sich bemüht. Und ich war auf dem besten Weg, eine Frau zu werden.

Die Erfahrung wiederholte ich als Jugendliche, indem ich Frauen genauso abwertete, wie es die meisten Jungs um mich herum taten. Ich sexualisierte sie, stellte mich über sie, betrachtete sie heimlich als Konkurrenz, gab das wiederum niemals zu und isolierte mich damit in einem Umfeld, das mich natürlich nicht in Gänze als zugehörig empfand. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, um mitzuhalten.

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Irgendwann entstand in diesen Jahren ein Song mit dem Titel “Bros Before Hoes”. Auf diesem Track rappte mein Kumpel damals: “Bros Before Hoes, der Bruder kommt vorm Luder. Wenn ick mit meinen Homies chille, Nutte wat willst du da? […] Sookee ist sowas wie ein Homie nur mit Vagina.” Ich war so gefangen von der Angst, auch in diese Kategorie der ‘Untermenschen’ zu gehören, dass ich diese Unsäglichkeit als Anerkennung verstand. Den Songtitel trug ich damals allen Ernstes auf einem T-Shirt. Ich wollte eben dazugehören.

Gleichzeitig merkte ich zunehmend, dass alles das falsch und unrecht war, ich daran aber genauso mitstrickte. Am Deutlichsten wurde mir das bewusst, wenn ich mich in andere Frauen verliebte.

Auf der einen Seite war ich voller Gefühl für eine bewundernswerte Person, gleichzeitig redete ich allerdings schlecht über die nervigen, eifersüchtigen, langweiligen, namenlosen Freundinnen irgendwelcher Kumpels. Ein Widerspruch, der mich emotional natürlich völlig überforderte. Dass sowohl meine Partnerin, als auch die Freundinnen meiner Kumpel Menschen des gleichen Werts waren, die den gleichen Respekt verdienten, konnte ich mir noch nicht eingestehen.

Ich verstand, dass Frauen keine Konkurrentinnen waren, die es hinter sich zu lassen galt, sondern potentielle Verbündete.

Nach dem Abi begann ich, auf Umwegen Gender Studies zu studieren. Es gibt Menschen, die über Monate hinweg eine Schwangerschaft verdrängen können, manchmal bis zur Entbindung. Ich habe über die ersten Semester nicht einsehen können, dass ich eigentlich feministische Theorie studierte. Ausgerechnet ich, die um die Zeit des Abiturs ein FHM-Abo besaß und angefangen hatte, halb im Spaß, halb im Ernst US-amerikanische Maskulisten zu lesen.

Im Studium wurden die Innenkämpfe immer stärker und ich begann mehr und mehr zu verstehen, wie selbstverleugnend und autodestruktiv mein Blick auf Frauen fast mein ganzes Leben gewesen war. Mein Weltbild wurde komplett auf den Kopf gestellt – und ich bin dankbar dafür. Nach und nach lernte ich die strukturelle Täter-Opfer-Umkehr, an die ich immer geglaubt hatte, um mich selbst zu schützen, wieder aufzulösen. Ich verstand, dass Frauen keine Konkurrentinnen waren, die es hinter sich zu lassen galt, sondern potentielle Verbündete. Alleine schon deshalb, weil sie mit Sexismus ähnliche Erfahrungen machten wie ich.

Im Jahr 2005 hatte ich dann auch endlich in Bezug auf HipHop eine Ahnung, wie wichtig frau-frauliche Zuwendung sein konnte. Die Rapperin Pyranja teilte ihr Wissen, ihre Strukturen und ihre Bühnenzeit mit mir. Sie nahm mich zu Rap-Workshops mit, die wir gemeinsam durchführten. Anschließend teilte sie die Gage 50:50. Allerdings dauerte es noch weitere drei Jahre, bis ich mich endlich traute, das F-Wort in meinen heiligen HipHop miteinzubeziehen.

Beim We B* Girlz-Festival in Berlin lernte ich Dutzende andere Rapperinnen, Breakerinnen und Writerinnen kennen und war kulturell und politisch so bereichert wie nie zuvor. In diesem Jahr löste ich mich endgültig aus meinen alten Freundeskreisen und wagte den Neustart. Neue Themen, die endlich auch außerhalb meines Kopfes ausgesprochen werden durften. Auf Bühnen, auf denen diese Themen nicht nur akzeptiert, sondern sogar vollends gewollt waren. Feminismus und Rap wurden eine Einheit.

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Durch meine Musik hab ich dann nach der feministischen Theorie in der Uni die feministische Praxis auf hunderten Konzerten, Workshops, Festivals, Podien und dergleichen kennengelernt. Ich fühlte mich zugehörig, ich fühlte mich gehört und verstanden. Auch von mir selbst. Die innere Spannung, die mich in meinen Teenagerjahren in die Depression geführt hatte, war Vergangenheit. Ich lernte zu mir selbst zu stehen und für mich einzustehen. Laut zu sein, nicht um des Laut-Seins Willen, sondern um etwas auszusagen. Vor allem aber lernte ich Wertschätzung, in beide Richtungen. Ein Gefühl, dass ich zuvor nur in Form einer Sehnsucht erahnt hatte.

Ich habe Frauen kennengelernt, auf die ich richtig stolz war. Die mich beeindruckten. Die meine Mentorinnen wurden. Von denen ich gerne lernte. Die Stärke feministischer Lebenspraxis brachte mich in Kontakt mit mir – und ließ mich gewaltig übers Ziel hinausschießen.

Ich hatte mich in den letzten Jahren bis an den Rand des Dogmatismus radikalisiert und musste einsehen, dass ich Menschen damit verschreckt, verunsichtbart und verletzt habe. So sicher ich mich auch mit meiner feministischen Weltsicht fühlte, verstand ich, dass neu justieren musste. An meinen Überzeugungen und mir selbst im besten Sinne zweifeln.

Auch wenn mein Feminismus nur existiert, um sich in einer befreiten Welt eines Tages selbst zu überholen.

Heute bin ich 33 Jahre alt und identifiziere mich weiterhin politisch und philosophisch in erster Linie über die Ideen, die ich im queeren, intersektionalen Feminismus gefunden habe. Ich habe gelernt, mich für die Diskriminierungserfahrungen anderer zu sensibilisieren und einzusehen, dass mein Verhalten ebenfalls dazu beitragen kann. Ich habe Struktur- und Geschichtsbewusstsein entwickelt, gelernt zu argumentieren, Raum zu schaffen, mir Raum zu nehmen und diesen wieder zu teilen. Alltägliches als politisch zu verstehen. Wütend zu werden, aber besonnen zu bleiben.

All diese Stärken verdanke ich nicht nur meiner eigenen Entwicklung, sondern auch der kollektiven Superkraft aller Frauen, die diese Werte teilen. Für sie, für mich, für die feministische Bewegung gehe ich auf die Straße. Auch wenn mein Feminismus nur existiert, um sich in einer befreiten Welt eines Tages selbst zu überholen.