Warum läuft dieser Mann 700 Kilometer durch die Eiswüste?

Einmal im Jahr fallen in Kanada Verrückte aus aller Welt ein, um sich so richtig den Arsch abzufrieren. Wenn im Februar die Thermometeranzeige ins Bodenlose fällt, vorbei an der Minus-50-Grad-Celsius-Marke, dann nehmen diese Leute zum Beispiel freiwillig (und gegen Zahlung einer hohen Startgebühr) am „Yukon Quest” teil: Sie stellen sich auf einen Schlitten und lassen sich tage- und nächtelang von Huskys durch diese lebensfeindliche Eiswüste namens Yukon ziehen.

Auch Jörn Theissig aus Frankfurt, nach eigener Aussage „überhaupt keine Sportsau”, auf den ersten Blick völlig zurechnungsfähig, durchquert um diese Zeit gerne den Yukon. Allerdings zu Fuß—alleine mit sich, seinem 30-Kilo-Gepäck und den urigen, schneebedeckten Bäumen, die sich manchmal, im Flimmern der Kälte und Müdigkeit, in riesige Kobolde verwandeln. Leute vom Fach sprechen dann von „illusionären Verkennungen”, Halluzinationen wären erst „die zweite Stufe”, weiß Theissig.

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Alle Fotos (soweit nicht anders angegeben): Yann Besrest Butler

„In den ersten beiden Nächten herrschten Minus 48 Grad”, erzählt Theissig, der schon zweimal die längste Variante wählte und so innerhalb von 24 Stunden durchschnittlich 53 Kilometer zurücklegen musste—also 14 bis 16 Stunden am Stück, bei höchstens fünf Stunden Schlaf: „Die Hälfte der Teilnehmer gab wegen Erfrierungen schon am dritten Tag auf. Bei einem Polen war nicht klar, ob man alle Finger retten kann.”

Er selbst habe bislang keine lebensbedrohlichen Situationen erlebt. Nur einmal, als er die falschen Handschuhe trug, ging ihm „der Arsch auf Grundeis”, weil sie in wahnsinniger Geschwindigkeit vereisten. „Eine Jacke, die ich kurz weg gelegt habe, war in fünf Minuten tiefgefroren. Ein Kumpel hatte eine Erfrierung am Zeigefinger, nachdem er auf den Auslöser einer Kamera drückte”.

Um sich auch bei Rastpausen vor der Kälte zu schützen, ist Schnelligkeit daher oberstes Gebot: „Das Zelt muss in sechs Minuten stehen, auch wenn man dicke Fäustlinge trägt und ein Loch in den Schnee graben muss. Beim Umziehen muss jeder Griff sitzen.” Wichtig sei es auch, Schweiß zu vermeiden, weil Flüssigkeit über die Gore-Tex-Kleidung nach außen getragen werde, was selbige zu einem Eispanzer mache. An den Füßen trägt Theissig deswegen Plastiksocken: „Da läufst du zwar im eigenen Saft, aber dafür wärmt der Schweiß.” Für den Notfall hat er stets einen Sack mit frischer Kleidung griffbereit, schließlich führt ihn der Weg auch über den gefrorenen Yukon River: „Da kannst du auch mal den Abgang machen. Du solltest aber nicht zu tief einbrechen”, lacht Theissig.

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Zu seinem Gepäck gehören neben Isomatte, Schlafsack, Zelt und Kleidung noch Kiloweise Kalorien (von denen er 7000 bis 9000 pro Tag verputzt), vier Thermoskannen (zwei davon für Trinkwasser, das er aus Schnee gewinnt), eine Camel-Bag mit Trinkschlauch, eine Atemmaske, ein Satellitentelefon, ein GPS-Tracker, Plastikgeschirr, eine Stirnlampe und vieles mehr, das er im Rucksack und in einem bootsähnlichen Schlitten, Pulka genannt, hinter sich herzieht.

Foto: Jörn Theissig

Um mit dem Gewicht und der Dynamik der Pulka klar zu kommen, zieht Theissig regelmäßig zwei alte Autoreifen durch den Frankfurter Stadtwald. Für die Ausdauer fährt er große Fahrradtouren oder überquert „just for fun” die Alpen. Um das Gefühl der Niedergeschlagenheit bekämpfen zu können und immer wieder „den inneren Schweinehund kleinzukriegen”, ließ er sich beim Boxen mehrfach K.O. schlagen. Die Kälteresistenz trainierte er, indem er sich acht Stunden lang in ein Kühlhaus sperren ließ—ohne Schweinehälften, aber bei Minus 26 Grad.

Von außen betrachtet ließe er sich also auch in der Heimat leicht für verrückt halten. Nicht zuletzt, wenn man hört, dass das YAU nicht einmal ein fettes Preisgeld für den Sieger verspricht. Zu gewinnen gibt es nur Ruhm und Ehre—und die absolute Gewissheit, Eier aus Stahl zu besitzen. Oder Eierstöcke aus Eisen. YAU ist keine Männerdomäne.

Für Theissig spielen aber weder Geld noch Cojones eine Rolle—im Gegensatz zu manch anderem YAU-Teilnehmer: „Einige wollen es sich beweisen und alle Extremläufe der Welt absolvieren. Die haben keinen Respekt”, meint er. „Der Teufel ist ein Eichhörnchen. Man muss ordentlich Respekt vor Mutter Natur haben. Die erdet dich ganz schnell, weil sie nichts verzeiht.”

Angst hingegen spiele in seiner Gefühlswelt keine große Rolle, auch nicht in der Wildnis. Trotzdem gab es am vierten Tag diese Situation: „Ich war noch schlaftrunken, da hörte ich aus dem Wald Gejaule und Geheule. Da ist mir das Herz in die Hose gerutscht, ich war plötzlich hellwach.” Sich umsehen, mit der Stirnlampe ins Dunkel leuchten, wollte er nicht. „Sonst würde ich doch bloß in die funkelnden Augen eines Wolfsrudels blicken, das mich beobachtet. Da kommt man ja nicht so schnell weg.” Nach einigen Augenblicken mischte sich dann Gebell in das Geheule—ein Hundeschlitten einer örtlichen Husky-Farm war in der Nähe. „Wölfe habe ich leider noch nicht gesehen, Bären halten noch Winterschlaf. Wenn so ein Grizzly oder Schwarzbär käme, hätte ich natürlich ein echtes Problem”, sagt er. Durch den Yukon—das erzählt Theissig nicht—wandern aber auch andere, nicht weniger gefährliche Tierarten: Pumas, Kojoten, Luchse, große Hirscharten und Elche. Und so ein Vielfraß versteht sicher auch keinen Spaß.

Fragt man Theissig nach seinem Motiv, sich ohne Not derartigen Extremsituationen auszusetzen, sprudelt es aus ihm heraus: Der Yukon sei eine „seelische Tankstelle”, die Totenstille gar „göttlich”. Das Laufen an sich sei „unwahrscheinlich sinngebend”, er habe versucht, die unterschiedlichen Lichtverhältnisse des Eises, des Schnees und der Landschaft in sich aufzunehmen: „Der Yukon ist visuell so facettenreich, dass es nie langweilig wird. In den langen Phasen der Dunkelheit konnte ich mich an den Sternen und am Polarlicht erfreuen. Ich konnte mich einfach nicht sattsehen.” Verglichen mit der endlosen, uralten Landschaft werde dir klar, „was für ein kleiner Zwerg du bist”: „Du kriegst ein anderes Verhältnis zu den Dingen, erfährst wieder, was Demut, Dankbarkeit und Wertschätzung bedeuten. Und du konzentrierst dich aufs Wesentliche”.

Dieses Wesentliche lautet: „Achtung auf dem Trail: genau schauen, wo ich hintrete. Habe ich die richtige Kleidungsschicht an? Was esse ich als Nächstes? Wie lange werde ich noch zum nächsten Checkpoint laufen? Was erwartet mich dort? Welches Essen werde ich bekommen? Reichen meine Wasservorräte noch?” Teilweise hilft ihm harter Techno, so weit zu gehen, wie ihn die Füße tragen.

Dass Theissig derart extreme Erfahrungen benötigt, um sich zu erden, das Wesentliche wieder in den Blick zu nehmen, kommt indes nicht von Ungefähr: Als Kriminaloberrat des BKA beschäftigt er sich mit schwerer organisierter Kriminalität.

Oder genauer gesagt: Mit den menschlichen Abgründen der Kinderpornografie, und zwar als stellvertretender Leiter des zuständigen BKA-Referats SO 12. In der vieldiskutierten Edathy-Affäre sagte Theissig vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags als Zeuge aus. Über die Inhalte und Anforderungen seines Jobs will und darf er allerdings nicht sprechen. Es scheint aber nicht allzu weit hergeholt, dass er die grauenhaften Eindrücke mit den krassen Erfahrungen in der menschenleeren Eiswüste ausgleicht. Sein Seelenleben trägt er jedenfalls nicht vor sich her, die psychische Beanspruchung sieht man dem äußerst freundlichen, sanften und kommunikativen Mann in keinster Weise an.

Deutlicher wird dadurch aber, warum er seine beiden bisherigen YAU-Läufe dem guten Zweck widmete. 2013 sammelte er 40.000 Euro für das Hilfsprojekt Cargo Human Care, das unter anderem ein Waisenhaus für 128 Kinder und ein medizinisches Zentrum für die Versorgung von über 10.000 Menschen in der Nähe von Nairobi aufbaute. 2015 kamen dann stolze 70.000 Euro für das deutsche Projekt Schmetterling zusammen, das sich für die psychologische Betreuung von Krebspatienten einsetzt. Besonders für dieses Projekt wollte er „so viele Spendengelder wie möglich erlaufen, um die Gesellschaft wachzurütteln.” Der psychologische Aspekt der Krebserkrankung sei noch immer ein Tabu-Thema, obwohl es viele Millionen Kranke gäbe. „Man vergisst oft, dass hinter dem Tumor noch Menschen sind.” Betroffene erzählten Theissig, dass sie sich „wie im freien Fall” fühlten, ständig von latenter Todesangst gequält. Noch mehr als die Kranken treffe das Leiden deswegen oftmals die machtlosen Angehörigen—er selbst verlor seine Mutter an den Krebs. Laut seinen Informationen sind die 70.000 Euro für Projekt Schmetterling die höchste Summe, die je ein privater Spendenläufer in Deutschland zusammengetragen hat.

Bei aller offensichtlichen Unverwüstbarkeit ist Jörn Theissig aber nicht unverwundbar. Den letzten Lauf musste er nach 520 Kilometern abbrechen, weil er Gefahr lief, dass die Arterien in seinen Beinen anschwellen. Da er die Füße im Schnee stets höher heben musste als gewohnt, entstanden waagerechte Schnitte auf seinen Schienbeinen—das Schienbeinkantensyndrom setzte ihn „in the middle of nowhere, 70 Kilometer vom nächsten Ort” außer Gefecht. Schneemobile mussten ihn evakuieren.

Kaum zurück juckt es ihn allerdings schon wieder in den Füßen. Die Wildnis ruft, er will wieder laufen. Beim nächsten Start im Februar 2016 aber „nur” 460 Kilometer. Nicht für den guten Zweck, sondern „zur bloßen Entspannung”.