Im Mai 1982 nahm sich Semra Ertan, eine Mittzwanzigerin, auf St. Pauli in Hamburg öffentlich das Leben. Seitdem existieren zwei Versionen ihrer Geschichte.
In der einen heißt es, Semra Ertan habe psychische Probleme gehabt und bereits vor ihrem Suizid versucht, sich umzubringen. In der zweiten Version ist Semra Ertan am Rassismus ihrer Zeit gestorben.
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Unzweifelhaft ist der Tatverlauf selbst. Am 24. Mai füllte Semra an einer Tankstelle einen Kanister mit fünf Litern Benzin. Um Viertel nach 5 Uhr zündete sie sich an der Ecke Simon-von-Utrecht-Straße und Detlef-Bremer-Straße an. Polizisten aus einem zufällig vorbeifahrenden Streifenwagen versuchten, die Flammen mit Decken zu ersticken. Ein Rettungswagen fuhr Semra ins Hafenkrankenhaus. Mehr als die Hälfte ihrer Haut war verbrannt. Sie starb zwei Tage später.
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Am Vorabend hatte Semra Ertan in einer Radiosendung des NDR und beim ZDF angerufen. Sie sagte: “Ich werde mich verbrennen. Wollt ihr nicht darüber berichten?” Und: “Wenigstens sollten wir hier nicht wie Hunde behandelt werden von den Deutschen.” Semra hatte eines ihrer politischen Gedichte vorgetragen: Mein Name ist Ausländer.
Mein Land hat uns nach Deutschland verkauft / Wie Stiefkinder / Wie unbrauchbare Menschen.
Das Fernsehmagazin Monitor machte einige Wochen später einen Beitrag: Tod einer Türkin. Ohne Namen im Titel.
Aber was war Semra Ertan nun? Eine psychisch kranke, junge Frau oder eine antirassistische Märtyrerin? Und sollte einer Suizidantin die Deutung ihres eigenen Todes überlassen werden?
In den Jahrzehnten nach ihrem Tod geriet die erste Version der Geschichte in Vergessenheit, also die der psychisch labilen Frau. Und auch Semra Ertan selbst wurde vergessen, vor allem unter weißen Deutschen. In der türkischen Community, vor allem in Hamburg, kannte man aber ihren Namen. Und auch in der Türkei, wo Semra Ertans Gedichte in Schulbüchern abgedruckt wurden.
In linken Bewegungen wurde Semra Ertan zum Slogan für den antirassistischen Kampf. Ihr Name tauchte auf Plakaten und Graffitis auf, wird noch heute mit den Namen anderer Opfer rassistischer Gewalt auf Demos ins Mikro gerufen, begleitet von “Rest in Power!” und “Say their names!”.
“Keiner hat mit uns gesprochen”
Die Idee davon, wer Semra Ertan ist und wofür sie steht, hat sich von der eigentlichen Geschichte gelöst. Drei Jahre nach Semras Tod gab sich der Undercover-Journalist Günter Wallraff als “Ali” aus, um Rassismus gegen türkische Einwanderer zu dokumentieren. Sein Buch Ganz unten widmete er “Semra Ertam”. In neueren Auflagen ist der Fehler korrigiert.
“Immer wieder habe ich Semras Gedichte zufällig in Büchern entdeckt. Aber niemand hat mit uns gesprochen”, sagt Zühal Bilir-Meier. Sie ist eine von sechs Schwestern von Semra Ertan.
Semra und Zühal stammen aus Mersin, einer Großstadt an der türkischen Mittelmeerküste. “Wir wuchsen wie typische Gastarbeiterkinder auf: mal in der Türkei, mal hier, mal bei den Großeltern.” Die Eltern gingen als Gastarbeiter nach Kiel, Zühal kam 1970 dazu. Ein Jahr später, mit 15, folgte Semra.
Am deutschen Gymnasium kam Semra schlecht zurecht. Zühal studierte damals bereits Agrarwissenschaften. Manchmal kam Semra zu Besuch. Semra schwieg dann meist. Sie lauschte, glaubt Zühal heute. Wenn Semra wieder alleine war, goss sie in Gedichte, was sie dachte. Die Gedichte nennt Zühal Semras “Gabe”.
“Ein perfektes türkisches Mädchen”
Später, Ende der 1970er Jahre, arbeitete Semra als Dolmetscherin und technische Bauzeichnerin. Ihre Gedichte trug sie in türkischen Vereinen vor oder schickte sie an die Leserbriefseite der Tageszeitung Milliyet in der Türkei. Es waren wütende, politische Gedichte.
Ich bin in der feucht nassen Kälte/ Es ähnelt der anatolischen Kälte nicht / Das Rauschen der Winde ist anders… /Wo sind die Lieder, die wir gepfiffen haben. / Auch die Menschen sind völlig anders / Sie singen andere Lieder / Als ob sie die Tonart der Lieder nicht treffen würden.
Zühal wusste, dass es ihrer Schwester nicht gut ging. “Wir sind ganz andere Naturen. Sie hat ganz anders gefühlt, ich habe nicht so gelitten wie sie.” Zühal verbiss sich in ihre Bücher, studierte Ökologie und Biosysteme. Semra aber war wütend und unglücklich, manchmal trat sie für eine Weile in den Hungerstreik.
Immer wieder sprachen sie in der Familie über Semra. “Aber ich konnte ihr nicht helfen. Ich konnte es nicht aufhalten. Vielleicht, weil ich selbst noch eine junge Frau war und so vieles noch nicht wusste.”
Am 7. März 1977 um 22:10 Uhr notierte die 20-jährige Semra in eine ihrer Kladden:
Was hat mir das Leben gebracht?
Nichts…
Was in den Tagen vor Semras Tod passiert ist, erzählt Zühal nicht so gern. Sie sorgt sich, dass Semra Ertan abgestempelt wird, dass ihre Gedichte in Vergessenheit geraten. Dass die Menschen die politische Dimension ihrer Tat vergessen. So wie die Journalisten, die nach Semras Suizid anriefen und Filme oder Artikel über sie machen wollten.
“Dieses System, die Sackgasse – das macht die Menschen krank.” Eine Woche nach Semras Tod, am 3. Juni 1982, titelte die Milliyet mit Bildern von ihr und forderte in einem zweisprachigen Aufruf, den Rassismus in Deutschland endlich zu beenden. Zühal sagte der Zeitung damals: “Semra war ein perfektes türkisches Mädchen.”
Ein halbes Jahr später, so berichtet die Tageszeitung Hürriyet, zündete sich ein türkischer Jugendlicher auf St. Pauli an, Hasan Fikri Kosan.
Die Kiste
Alles, was Zühal von Semra blieb, war eine Kiste voller Bücher, Zeitungen und Kleidung. Und ein kleiner Nachlass aus zehn Notizbüchern mit fast 350 Gedichten, in akkurater Handschrift. Zwei Bücher waren besonders ordentlich abgefasst und geordnet. Als stünden sie bereit, um an einen Verlag geschickt zu werden.
Zühal verstaute die Kiste. “Wenn ich sie aufgemacht habe, habe ich geweint. Das war zu heftig, zu hart.”
Sie versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie zog nach München, wo das bayerische Umweltschutzamt ihr einen Job anbot: gutes Gehalt, eigenes Auto mit Fahrer. Sie hätte durch Bayern fahren und die Landschaft kartieren dürfen, planen, wo eine Autobahn gebaut werden soll.
“Aber ich war so weit weg davon”, erzählt Zühal. Sie sah, was Semra gesehen hatte. In München trieben sich junge Migranten auf der Straße herum, sie hatten keine Arbeit. Es gab kaum Sprachkurse oder Einrichtungen für sie. Die Zeit Anfang der 1990er war geprägt von Solingen und Mölln, von der Angst vor rassistischer Gewalt. Zühal begann, soziale Arbeit zu studieren. Sie wollte nicht mehr Bäumen helfen, sondern Menschen. Als Semra vier Jahre tot war, bekam Zühal eine Tochter. Sie nannte sie Cana mit erstem Namen und mit drittem Namen: Semra.
Cana
Ihre Tante Semra sei immer da gewesen, erzählt Cana. Sie wusste von der Kiste und las manchmal in den Kladden, die darin lagen, hielt in der Schule Vorträge über das Leben der Türken in Deutschland. Dabei war sie an der Münchner Montessorischule das einzige Kind mit Migrationshintergrund.
Für Cana ist alles in den Gedichten politisch: die Sehnsucht im “Brief an Emine”, die Beschreibung des Ausgeschlossenseins. “Sie war bescheiden, klug und genau. Die Gedichte waren wie Werkzeuge für mein eigenes Leben.”
Im Februar 1977 schrieb Semra Ertan: “Erst später werden sie es schätzen/ Deren Wert…/Dann werde ich/Allen unbekannt/In weiter Ferne sein.
Also holte Cana eines Tages die Kiste wieder hervor. Sie legte alle Notizbücher auf den Kopierer, öffnete ein Word-Dokument und tippte: “Notizbuch eins: grün. Notizbuch zwei: rot. Notizbuch drei: blau.”
Drei Jahre lang begann und endete von da an jeder Tag mit Semra. Cana las jedes einzelne Gedicht, jeden Zeitungsartikel. 180 der Gedichte tippte sie ab. Sie lernte, wie Semra gelebt hatte.
Ein kalter Wintertag/ Es könnte ein Donnerstag sein/ Und leise Schnee rieseln/ Ich säße an einem Ofen/ Und für euch / Fange ich an zu schreiben
Fragt sie sich manchmal, warum ihre Tante sich umgebracht hat? “Wir müssen über ihren Tod nachdenken und ihre Arbeit wertschätzen”, sagt Cana. Zühal sagt: “Manche Menschen sterben wie Bäume, im Stehen. Ihre Wurzeln sind kaputt, sie sind angeknackst, aber man merkt nichts, weil sie noch stehen. Und irgendwann, da fallen sie einfach um.”
Cana holte ihre Mutter Zühal und ihren Bruder dazu. Sie engagierten einen professionellen Übersetzer, aber die Gedichte klangen auf deutsch schal.
Als die Pandemie kam, saßen sie gemeinsam in der Wohnung in München und entschieden: Wir machen es selbst. Monatelang schlossen sie sich dafür ein.
Der Vater gab abends oft als erster auf. Er sei jetzt müde. Cana und ihre Mutter saßen bis in die Morgenstunden zwischen den Bücherstapeln, Kopien und Kladden. Nahmen Sprachnachrichten an Freunde auf: “Ist das so richtig übertragen?” 100 Gedichte übersetzten sie. Dann suchten sie 82 davon aus – Semras Todesjahr – und schicken alles an einen Verlag.
Gerade ist der Band beim Assemblage-Verlag erschienen. Cana hofft, dass das Bild ihrer Tante Semra Ertan wieder facettenreicher wird. Sie will nicht, dass die erste Version sich durchsetzt.
Das Buch endet mit einem Brief, den Semra Ertan im April 1982 schrieb, auf Türkisch, von Hand, in sauberer Druckschrift auf kariertem Papier. Es ist ein überschwänglicher, fast alberner, zuversichtlicher Brief. Ertan war kurz zuvor in den “Verband deutscher Schriftsteller” aufgenommen worden, der Brief richtet sich an einen Kollegen dort:
“Ihr zweites Angebot, dass Sie mir dabei behilflich sein werden, meine Gedichte gesammelt als Buch herauszubringen, ist eine tolle Sache.” Ertan endet mit Yanıtlarınızı bekleyeceğim – Ich warte auf ihre Rückmeldung.
Ob Semra eine Antwort bekommen hat, kann Zühal nicht sagen. Sechs Wochen später war sie tot.
Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Suizid denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden bei Organisationen wie Agus Hilfe.
Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist: 143. Hier gibt es auch einen Chat. In dieser Liste sind weitere Anlaufstellen für Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Schweiz aufgeführt.
Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist: 142. Auch hier gibt es einen Chat. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden in Österreich bei Organisationen wie SUPRA Hilfe.
Update 16. Dezember 2020, 18.06 Uhr: Cana Bilir-Meier hat eine Montessorischule besucht, keine Waldorfschule. Wir haben das berichtigt.
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