Wenn du in gemütlicher Runde das Deepweb als nerdiges Small-Talk-Thema einbringst, dann dürfte das Gespräch schnell auf Waffen, digitale Drogenimperien und vielleicht noch auf die Gerüchte grotesker lebender, menschlicher Sexpuppen hinauslaufen. Es gibt jedoch deutlich mehr Angebote im Darknet, die weder illegal, pervers noch abartig sind, sondern höchstens bizarr, revolutionär oder einfach nur harmlos.
Versteckt vom Surface Web gibt es Webseiten von „Urban Explorers”, die gerne unterirdische Tunnel erkunden oder Seiten von Dissidenten, die wortwörtlich gezwungen sind im Untergrund zu leben, weil sie von einem diktatorischen Regime verfolgt werden. Und dann gibt es da noch die einfachen Randgruppen wie unanständige Buchklubs und Spanking-Foren, die aus verschiedenen Gründen nicht offen in der Gesellschaft agieren können.
Videos by VICE
Die Datenanalysten von BrightPlanet haben eine theoretisch ziemlich klare Definition des Deepwebs: „Alles was eine Suchmaschine nicht finden kann.” Suchmaschinen verwenden sogenannte Crawler, die den Links im Internet soweit folgen, wie sie nur können. Dabei merken sie sich die Namen und ein wenig vom Inhalt der Seite (das sogenannte „indexen”).
Das Deepweb ist 500 mal größer, als dass für Suchmaschinen indexierbare Netz
Schwierig wird es für die Suchmaschinen bei URLs, die in private Netzwerke führen, die nicht zur Indexierung freigegeben sind, oder die schlicht nirgendwo im Web verlinkt sind. In vielen Fällen musst du die komplexe URL kennen, um die dazugehörige Seite zu erreichen. (Auch das im Aufbau befindliche Deepweb-Google Grams funktioniert nur für die Plattformen, die sich an die API der Schwarzmarkt-Suchmaschine angedockt haben.)
Das Ausmaß dieses Hidden Webs ist entsprechend schwer zu bemessen, aber eine Studie im Journal of Electronic Publishing schätzt, dass das Deepweb 500 mal grösser ist, als dass was für Crawler sichtbar ist. Und allein die Nutzerzahl von denjenigen, die über TOR das Deepweb betreten geht in die Millionen.
Tor ist ein Akronym für The Onion Router. Das Tor-Netz wurde ursprünglich von der US Marine als anonymes Kommunikationstool entwickelt und macht nur eine Ecke des Deepwebs aus. Selbstverständlich wird das Anonymisierungsnetzwerk von Freunden der Silk Road und anderen Online-Schwarzmärkte frequentiert—aber eben nicht nur von ihnen.
Jotunbane’s Reading Club ist ein gutes Beispiel. Das Motto der Seite ist kaum verhohlen: „Leser gegen DRM”, also gegen die geltenden Copyright-Regeln für digitale Werke. Die beliebtesten Bücher der Seite sind passenderweise dann auch George Orwell’s 1984 und William Gibson’s Neuromancer. Es scheint zunächst naheliegend, dass Deepweb-Nutzer stets auch irgendwie politisch gesinnt sind, aber das ist bei weitem nicht überall so.
Neben Seiten wie dem „Anarchist Cookbook” und bedrohlich klingenden Werken wie „So öffnest du elektromagnetische Türschlösser”, findest du auch erstaunlich aktive Blogs für „Leute, die Spanking mögen.” Dort werden teils rührselige alte private Spanking-Episoden ausgebreitet. Andere Nutzer wiederum geben dort ihre erotischen Fan-Geschichten zum Besten: Zu meinen schrägen Favoriten gehören zum Beispiel die Stories vom leidenschaftlichen Rendevous mit Balu dem Bären aus dem Dschungelbuch oder von Harry Poter und seinem (entschuldige) Zauberstab. Andere Nutzer outen sich dort wiederum als bekennende Anti-Potter-Fundamentalisten.
Das Deepweb kann Trost spenden. Eine psychologische Gemeinschaft der Gleichgesinnten.
Bei manchen Seiten fragt man sich, warum sie überhaupt im Deepweb existieren. Eine Seite namens Beneath VT beschreibt die Erkundung der Tunnel under der Virginia Tech Universität. Anonym erklären die Autoren, dass „die wenigsten Menschen wissen, was dahinter liegt, obwohl sie jeden Tag an den Eingängen der Tunnel vorbeigehen.”
Es ist nicht so, dass es Seiten dieser Art nicht auch im Surface Web gäbe. Aber das Deepweb scheint für seine Nutzer eine Art psychologischen Verbund zu bieten. Eine Gemeinschaft in der sie nach Gleichgesinnten suchen können, ohne Gefahr zu laufen wegen der eigenen Sehsüchte von Cyber-Bullies fertig gemacht zu werden. Und sogar romantische Gefühle finden sich im Deepweb. So verspricht zum Beispiel die Radiostation Clandestina unmissverständlich: „Musik zum tiefer gehen und liebe machen.”
Dr. Ian Walden sieht die Ehrlichkeit, die das Deepweb erlaube, als einen der Hauptgründe dafür, dass sich Nutzer im Deepweb austauschen. Laut dem Professor für Informations- und Kommunikationsrecht von der Londoner Queen Mary Universität realisierten erfahrene Internetznutzer schnell, dass man im Surface Web zu viele Spuren hinterlasse, um sensibles Terrain zu erkunden—sei es auf persönlicher oder auf praktischer Ebene. Du triffst dich mit deinem MDMA-Dealer oder deinem Psychologen ja auch nicht direkt im Lichte einer staatlichen oder privaten Überwachungskamera.
Für Professor Walden war das Deepweb auch entscheidend am sogenannten arabischen Frühling beteiligt, weil es Dissidenten ermöglichte sich unerkannt zu vernetzen. Auch viele der Bilder und Videos der syrischen Revolution von 2011 wurden zuerst im Deepweb veröffentlicht. Von dort aus fanden sie ihren Weg zu YouTube.
Wenn es so etwas wie eine „zentrale” Seite im Deepweb gibt, dann ist das wahrscheinlich das Hidden Wiki. Auf der ausdrücklich zensurfreien Seite werden die bekanntesten Seiten des Hidden Web aufgelistet (auch wenn vor einigen Monaten ein Hacker für Aufsehen sorgte, als er alle Kinderporno-Links entfernte). Ausserdem wird Whistleblowern und Journalisten erklärt, wie sie sich anonym austauschen können, etwa mit der New Yorker Strongbox. Seiten wie Kavaz wiederum bieten eine beeindruckende unabhängige Quelle für Nachrichten aus dem globalen Osten.
Es kann einem schon ein wohliges Gefühl geben zu wissen, dass einige Leute die Anonymität des Deepweb nutzen, um ihr vielleicht extrem schräges, aber irgendwie harmloses Leben friedlich auszuleben. Frei nach Voltaire ließe sich dazu sagen: „Ich stimme dem, was du sagst vielleicht nicht zu, aber ich werde zumindest dein Recht erotische Geschichten aus meinem liebsten Kindercomic zu dichten, mit meinem Leben verteidigen.”