Die Evolution des deutschen Kannibalismus

Illustrationen von Dennis Busch

Die Deutschen sind weltweit für so einiges berühmt, zum Beispiel für Nazis, Wurst, Sauerkraut oder Autos. Von diesen mehr oder weniger wahren Klischees abgesehen, hat es Anfang der 2000er vor allem ein Deutscher geschafft, weltweit für Aufsehen und eine einmalige Mischung aus Faszination und Ekel zu sorgen: Armin Meiwes, der Kannibale von Rotenburg. Obwohl es damals wie eine völlig abstruse Ausnahme klang, weil sich hier zwei gefunden hatten, deren unvorstellbare Fetische so perfekt aufeinander passten, ist mittlerweile klar, dass Meiwes und Brandes nicht das einzige Perfect Match ihrer Art bleiben würden. Der von der Bild-Zeitung schön anschaulich als „Stückelmörder” titulierte Detlev G. steht seit Ende August vor Gericht für die Tötung von Wojciech S., und führt man sich den Ablauf der Tat vor Augen, scheint sie nahezu komplett eine Meiwes’sche Blaupause zu sein. Über das Internet lernen sich zwei Menschen kennen, von denen einer fressen und der andere gefressen werden möchte. In diversen Chats und E-Mails werden Details besprochen, die Tat akribisch geplant und schließlich in Form eines „Schlachtfests” in die Realität umgesetzt. Das Besondere an diesen beiden Fällen ist aber nicht der Kannibalismus an sich, sondern die Absprache zwischen beiden Parteien.

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Die erste, meist unschuldige Begegnung mit dem Thema Kannibalismus hatten die meisten von uns in der Kindheit, als wir das erste Mal von Hänsel und Gretel hörten. Dass an diesem Märchen vielleicht mehr dran ist, als man zunächst meint, beschreibt Literaturkritiker Michael Maar in seinem Buch Hexengewisper. Hungersnöte wie zu Zeiten des 30-jährigen Krieges könnten aus so manch einer Mutter das Alter Ego der bösen Hexe hervorgelockt haben. Kannibalen der Kategorie Serienmörder, die nicht aus Hunger, sondern aus Lust morden, sind vor allem seit dem letzten Jahrhundert in der deutschen Geschichte bekannt. Interessant ist aber vor allem die Entwicklung, die die Kannibalismusfälle seither genommen haben—vom eindimensionalen Verbrechen an unschuldigen Opfern bis hin zum modernen Kannibalen, der seine Taten in gegenseitigem Einvernehmen mit dem „Opfer” begeht.

Fritz Haarmann wurde 1924 zum Tode verurteilt, weil er 27 Jungen und junge Männer getötet hatte. Teilweise auch als Vampir von Hannover bezeichnet, wurde er richtig bekannt als „Der Totmacher”, ein Titel, der eigentlich dem Serienmörder Rudolf Pleil zustand, der aber spätestens durch den gleichnamigen Götz-George-Film aus den 90ern endgültig mit Haarmann assoziiert wird. Auch wenn es Spekulationen darüber gibt, ob Haarmann wirklich ein Einzeltäter war oder ob er vielleicht mit seinem Freund Hans Grans mehr als nur das Bett teilte, kann man davon ausgehen, dass seine Opfer nicht einverstanden waren mit dem, was ihnen angetan wurde. Als Beamte schließlich in Haarmanns Wohnung in der Roten Reihe 2 im heutigen Stadtteil Calenberger Neustadt diverse blutverschmierte Kleidungsstücke vermisster Männer fanden, überzeugte seine Geschichte, dass es sich dabei nur um Nasenbluten gehandelt habe, keinen mehr. Im Gefängnis scherten sich die Wachen damals wenig um die Rechte Strafgefangener und inszenierten für Haarmann eine Gruselshow mit Schädeln, aus denen rote Augen leuchteten, und einem Sack voller Knochen in der Ecke. Verängstigt von den „Geistern” der Toten, die er auf dem Gewissen hatte, gestand er, der mysteriöse Serienkiller zu sein, der seinen Opfern, nachdem er als Gegenleistung für Unterkunft und Arbeit Sex verlangt hatte, die Kehlen durchbiss.

Karl Denke trieb zwischen 1903 und 1924 sein Unwesen. Der unauffällige, kautzige Alte, von seinen Nachbarn, die erste Beschuldigungen von Obdachlosen als üblen Nachruf abtaten, vertrauensvoll „Papa Denke” genannt, wurde, nachdem seine blutrünstigen Taten aufgeflogen waren, als „Kannibale von Müsterberg” bekannt. Einige nannten ihn auch den „schlesischen Haarmann”, weil dieser mittlerweile zum Synonym eines perversen Mörders geworden war, der seine Opfer schlachtete und auffraß. Wie es sich für einen ordentlichen Deutschen gehört, führte Denke peinlich genau Buch über die Details seiner Schlachtungen. Nachdem er wegen eines anderen Vergehens, eines missglückten Überfalls auf einen Landstreicher, in den Knast kam und sich in seiner Zelle erhängte, fand man bei einer Wohnungsdurchsuchung verschiedene Menschenfleischspezialitäten, wie zum Beispiel Gepökeltes für den Vorratsschrank. Außerdem hatte sich der Ed Gein der deutschen Kannibalen Hosenträger und Schnürsenkel aus Menschenhaut geschneidert. Schnüre aus Menschenhaut hat er angeblich auch in Weidenkörben verarbeitet, die er auf Märkten in Breslau verkaufte, womit er noch mehr Menschen in den Genuss seiner perversen handwerklichen Erzeugnisse brachte. Seine Opfer rekrutierte er meist von der Straße, es waren Landstreicher, deren Fehlen wenigen auffallen würde. Seine Motive nahm er mit ins Grab.

Joachim Kroll, wahlweise bekannt als Ruhrpott-Kannibale oder Menschenfresser von Duisburg, schaffte es 20 Jahre lang, völlig unbehelligt sein Mord-Ding durchzuziehen, wahrscheinlich deswegen, weil er mit einem IQ von 76 minderbemittelt war und somit gar nicht erst die Intelligenz besaß, die Serienmördern oftmals dann zum Verhängnis wird, wenn sie anfangen, Mustern zu folgen. Kroll wiederum war so einfach gestrickt, dass er, nachdem er entdeckt hatte, dass er seine sexuelle Dysfunktion durch das Beobachten von Menschen im Todeskampf kompensieren konnte, einfach möglichst wahllos tötete. Weil ihm das Töten alleine irgendwann nicht mehr ausreichte, entwickelte er die Fantasie, einen Menschen von innen zu sehen. Da er seine meisten Morde auf Reisen verübte, wartete er lange auf die perfekte Gelegenheit, die sich ihm in der Form der vierjährigen Marion Kettner bot. Er lockte sie in seine Wohnung und kochte sich aus Teilen von ihr mit Karotten und Kartoffeln eine Mahlzeit. Er habe einfach mal wissen wollen, wie Menschenfleisch schmeckt, soll er laut Serienkiller-Experte Stephan Harbort sein Handeln begründet haben. Diese morbide Neugier sei der Höhepunkt seiner perversen Entwicklung gewesen.

Zu diesen historisch belegten deutschen Kannibalen kommen aller Wahrscheinlichkeit nach noch ein paar mehr, die einfach nicht erwischt wurden. Gemeinsam haben sie vor allem eins: Die Täter stehen in einem asymmetrischen Verhältnis zu ihren Opfern, befriedigen ihre Bedürfnisse ganz eindeutig zulasten der Opfer. Der ihnen innewohnende Gruselfaktor bildet klassischerweise die Grundlage für den Erfolg von Serien, Krimis und Seminaren für Hobby-Forensiker. Die seit Urzeiten bekannte Mär vom Bösen, das Einzug hält in unsere Welt und sich jeden von uns krallen könnte, erschreckt, aber sie bietet eben auch Sicherheit, weil man zu wissen glaubt, woran man ist. Die Täter sind krank, böse oder sadistisch, die Opfer waren zur falschen Zeit am falschen Ort oder hatten die falsche Haarfarbe.

Armin Meiwes und Detlev G. wiederum stellen diese Weltordnung auf den Kopf. Wie der Sexualmediziner Prof. Dr. Beier, der als Gutachter im Fall Meiwes tätig war, und sein Mitarbeiter Christoph J. Ahlers in diversen Interviews erzählt haben, ist Meiwes kein Sadist, sondern eigentlich ein eher netter, ruhiger Typ, der sich nach einer Beziehung sehnte und sich seinen großen Traum erfüllen wollte, komplett mit einem Mann seiner Wahl zu verschmelzen—durch das Verspeisen von dessen Fleisch. Es scheint viel mehr sogar so, als wäre Brandes der Krassere von beiden, derjenige, der sich nach dem „maximalen Schmerz” sehnte und von Meiwes restlos ausgelöscht werden wollte. Meiwes scheint weiterhin davon überzeugt, dass Brandes ihn ihm weiterleben wollte. Vielleicht hat Brandes in Meiwes aber auch einfach nur einen Dienstleister gesehen, der ihm das Ritual des Tötens abnahm. Darauf lassen Einzelheiten des ersten Aufeinandertreffens schließen: Meiwes wollte sich die Zeit nehmen, Brandes kennenzulernen, hatte einen Kuchen gebacken, Brandes war ungeduldig und wollte es hinter sich bringen mit dem Penis-Abbeißen. Meiwes wiederum soll später ausgesagt haben, dass er sich beim nächsten Mal, wenn es dazugekommen wäre, den „Quatsch” mit dem Penis-Abschneiden gespart hätte. Es klingt geradezu so, als hätten sich Meiwes und Brandes gegenseitig ausgenutzt, um sich ihre Fantasien zu erfüllen. Eine Win-win-Situation, aber trotzdem kein Traumpaar. Wo der eine sich emotionale Erfüllung verspricht, sieht der andere einen folgsamen Handlanger, der die Tötung fein säuberlich nach den von ihm festgelegten Regeln ausführt.

Die klare Absprache ähnelt der Verhandlung, die ein BDSM-Pärchen vor einer Session durchführt. Beide halten sich genau ans Skript, der eine tut dem anderen weh, weil dieser sich das so wünscht. Der Unterschied ist, dass es hier am Ende einen Toten gibt, und einen, der sich zum Mörder gemacht hat. Der unberechenbare Gruselfaktor, der normalerweise Serienmörder ausmacht und uns allen eine irrationale Angst einjagt, ist bei Typen wie Meiwes oder Detlev G. nicht gegeben. Solchen Tätern wird keiner zum Opfer fallen, der das nicht ausdrücklich wünscht und der nicht seit Monaten oder wahrscheinlich Jahren auf Seiten wie zambianmeat.com abhängt.

Bevor Internet und Darknet es Leuten mit den abwegigsten Nischenvorlieben ermöglichten, einander aufzuspüren, gab es womöglich auch schon den ein oder anderen, der eine bizarre Vorliebe hatte, aber es war mehr als unwahrscheinlich, auf jemanden zu treffen, der diese teilte. Meiwes inspirierte sich erst nach dem Tod seiner Mutter im Internet, fand heraus, dass er nicht allein ist und auch andere diesen Wunsch nach der vollkommenen Verschmelzung durch Verzehr haben. Man könnte also durchaus sagen, dass auch diese neue Art des Kannibalismus mit Ansage, so wie damals schon das Kindermorden während Hungersnöten, mit den Lebensumständen unseres Zeitalters zu tun hat.

Laut einer Schätzung des mittlerweile verstorbenen Filmemachers Günter Stampf, der über seine Begegnungen mit Meiwes das Buch Interview mit einem Kannibalen geschrieben hat, treiben sich um die 10.000 Menschen auf einschlägigen Kannibalenforen herum. In Anlehnung an die Bezeichnung der Kannibalen der Marquesas-Inseln für Menschenfleisch bezeichnen sich die, die gegessen werden wollen, meist als Longpigs, die Kannibalen als Chefs. Nicknames in Zambianmeat sind zum Beispiel Rubberapron, slitmythroat, bigbeef oder Real_man_Chef. Es scheint einen Überschuss an Longpigs zu geben und außerdem stellt sich natürlich immer die Frage, ob jeder, der sich im Internet mit irgendwelchen Fantasien beschäftigt, es auch wirklich so ernst meint, dass er sich irgendwann zum Coq au Vin zubereiten lässt. User Yukon_100 beschreibt in seinem Blog über das Dasein als Longpig seit 2004 seine Suche nach einem geeigneten, es ernst meinenden Chef und dass er zwar immer wieder gleichgesinnte Longpigs findet, aber Chefs Mangelware seien. Zwischendurch scheint er immer wieder kalte Füße zu bekommen und zu überlegen, ob er wirklich so weit ist. Sein vorletzter Eintrag fasst noch mal seine Beweggründe zusammen. Es geht ihm um totale Unterordnung, Sex, darum die Kontrolle zu verlieren und sich jemand anderem zu überlassen. In seinem letzten Eintrag steht: „Seem to be close to finding what I want. Complete my desire.” Seit August 2012 war dies der letzte Eintrag. Vielleicht hat er das Interesse verloren. Vielleicht gehört er aber auch zu dem verschwindend geringen Anteil derjenigen, die ihre Sexfantasie tatsächlich in die Tat umsetzen und ernst machen.

Die Gefahr, die von diesen Chefs, den echten Kannibalen ausgeht, geht im Gegensatz zu der von Mördern wie Haarmann oder Kroll für den Durchschnittsmenschen gegen null. Die moralische Frage aber, wie man darüber denken soll, dass ein Mensch einen anderen ermordet, weil dieser sich das so wünscht, wenn man im Endeffekt aber bei beiden davon ausgehen kann, dass sie, wenn auch nicht psychiatrisch, so sicherlich sexualmedizinisch krank sind, bleibt kompliziert.