Wenn junge Mädchen herausfinden, dass sie genetisch gesehen männlich sind

Die Natur macht es Jugendlichen nicht leicht: Überall sprießen Pickel und Haare und der Körper verwandelt sich wie die High School Musical-Version von American Werewolf. Aber manche jungen Mädchen—etwa eine von 80.000, um genau zu sein—machen das nie durch. Ihre Brüste wachsen nicht und sie bekommen auch ihre Tage nie. Sie sind meistens viel größer und breiter als ihre Altersgenossinnen und haben größere Füße. Aufgrund einer Krankheit, die sich Swyer-Syndrom nennt, sind diese Mädchen schon ihr ganzes Leben genetisch gesehen männlich, ohne es zu wissen.

Bethan aus Swansea in Wales weiß, wie sich das anfühlt. Sie wurde aufgrund des Syndroms während ihrer gesamten Schulzeit gehänselt. „Sie nannten mich ‚Mannsweib’, ‚Männerbrüste’ und ‚Shrek’”, sagte die 23-Jährige. „Es war eine sehr schwierige Zeit.” Diese Art von Missbrauch auf dem Schulhof ist leider die Norm. Dass es keine leicht verfügbaren Informationen über diese Krankheit gibt, hilft der Sache auch nicht. Für Mädchen mit dem Swyer-Sydrom ist alles, was sie im Sexualkundeunterricht über ihre Körper gelernt haben, plötzlich falsch und viele von ihnen wissen nicht weiter und fragen sich, wo sie hingehören.

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Frauen mit dem Swyer-Syndrom werden mit einem XY (männlichen)-Chromosomensatz geboren, was bedeutet, dass sich ihre Fortpflanzungsorgane nicht richtig entwickeln. Nach außen hin sehen sie weiblich aus, aber ihre unterentwickelten Organe haben einen Dominoeffekt auf ihre Hormone. Diese Mädchen kommen nie in die Pubertät, weil ihnen dazu die Hormone fehlen, die andere junge Frauen besitzen. Rein genetisch gesehen sind sie männlich. Da die Krankheit aber selten vor dem zehnten Lebensjahr diagnostiziert wird, wenn das Fehlen von Brüsten und das Ausbleiben der Periode darauf hinweisen, identifizieren sich die meisten als weiblich und das ändert sich bei vielen auch durch die Diagnose nicht. In diesen Fällen wird von der medizinischen Gemeinschaft die individuelle Geschlechtsidentität als medizinisch definiertes Geschlecht akzeptiert.

Ich stieß auf Bethan in einem Online-Forum, in dem User mit dem Syndrom sich gegenseitig ihre Geschichten erzählten und sich austauschten. Bethan sowie drei weitere Frauen erklärten sich bereit, sich mit mir darüber zu unterhalten, wie es sich anfühlt, mit dem Swyer-Syndrom aufzuwachsen und wie es sich auf ihre Leben ausgewirkt hat.

Georgia, die heute 22 Jahre alt ist, bemerkte erstmals mit 15, dass etwas an ihr anders ist. „Ich war so groß wie mein Vater, was ich komisch fand—der Großteil meiner Familie ist sehr klein. Ich hatte meine Tage immer noch nicht bekommen und auch keine Brüste. Ich hatte Schuhgröße 42 bis 43 und Probleme, T-Shirts und Hosen zu finden, die lang genug waren.”

Bethans Mutter war sich sicher, dass sie nur eine Spätzünderin war. Weitere Jahre vergingen, in denen sich für Bethan immer noch nichts veränderte. Ein Arzt stellte schließlich die Diagnose Swyer-Syndrom—obwohl er genauso verblüfft war wie ihre Eltern. „Der Arzt, der meine Diagnose stellte, war selbst noch nie auf dieses Syndrom gestoßen”, sagte Bethan, „für ihn war es also genau so neu wie für mich und meine Familie.” Weil man nur so wenig über das Syndrom wusste, fühlte sie sich in der ersten Zeit nach der Diagnose isoliert: „Ich verstand meine Krankheit nicht wirklich. Ich war anders als meine Freundinnen und ich hatte das Gefühl, dass keiner jemals jemanden lieben wollen würde, der genetisch gesehen ein Mann ist.”

Um es einfach auszudrücken: Wenn du unter Flammen ums Leben kämest und der Körper bis zur Unkenntlichkeit zerstört würde, würde der Gerichtsmediziner davon ausgehen, dass du ein Mann bist.

Diese Angst kennt auch Georgia, die mit mir über ihre Zukunftssorgen sprach. „Ich habe große Angst davor, eine Beziehung einzugehen. Ich habe das Gefühl, mein Freund könnte sich von mir abwenden, weil ich X- und Y-Chromosomen habe und ich möchte keine künstliche Befruchtung”, sagte sie und bezog sich dabei auf die Fruchtbarkeitsbehandlung, der sich Frauen mit dem Swyer-Snydrom unterziehen, um Kinder bekommen zu können. „Wenn ich an den Tag denke, an dem ich jemanden erzählen muss, dass ich das Swyer-Syndrom habe, macht mir das Angst.”

Für Stephanie war es nie ein Problem, einem Partner über ihre männlichen Chromosomen zu erzählen. Das liegt vor allem daran, dass ihr erster Arzt ihr nie etwas davon erzählte. Bei der heute 43-Jährigen aus South Carolina wurden im Alter von 16 Jahren „unterentwickelte Eierstöcke” diagnostiziert, die ihr daraufhin entfernt wurden. Als sie und ihr Ehemann mit der Behandlung mit Spendereizellen begannen, erklärte ihr ihr Arzt schließlich, dass sie genetisch gesehen männlich ist. Sie war 36. Damals waren seine Worte: „Um es einfach auszudrücken: Wenn du unter Flammen ums Leben kämest und der Körper bis zur Unkenntlichkeit zerstört würde, würde der Gerichtsmediziner davon ausgehen, dass du ein Mann bist.”

Das ‚I’ in ‚LGBTQI’ steht für intersexuelle Menschen wie Frauen mit dem Swyer-Syndrom, aber intersexuelle Männer und Frauen gehen auf dem queeren Regenbogenspektrum oft unter. Die Krankheit könnte man jedoch als den ultimativen Beweis für das Verschwimmen von Geschlechtsidentitäten sehen. Die meisten Frauen mit dem Syndrom sehen sich selbst nicht als „männlich” (was auch immer das bedeutet), mal abgesehen von ein paar willkürlichen äußerlichen Merkmalen wie die Körpergröße. In anderen Worten, ein männliches Chromosom ist nicht genug, um jemanden zum Mann zu machen. Geschlechtsidentitäten übersteigen die Genetik.

Trotzdem ist es mit 15 oder 16 nicht ganz einfach, dieses Prinzip zu verstehen, wenn doch die Vorstellung, eine Frau zu werden, schon beängstigend genug ist. Sich darauf einzustellen, dass man nie die gleichen Übergangsriten, über die sich Freundinnen unterhalten—die Periode, PMS, Brüste—, durchmachen wird, ist eine ziemlich große Sache.

Das Schwierigste an der Krankheit ist für die meisten Frauen, ihre Diagnose zu verstehen und sie ihren Freunden und ihrer Familie zu erklären. Dank transsexueller Celebritys wie Laverne Cox und Caitlyn Jenner haben Diskussionen um Gender und Sexualität dieses Jahr die Schlagzeilen dominiert. Obwohl Frauen mit dem Swyer-Syndrom nicht trans sind (und nicht alle identifizieren sich gerne als intersexuell), bedeutet das dennoch, dass sich unsere Gesellschaft seit 1988, als Stephanie zuerst unter dem verschleierten Vorwand von „unterentwickelten Eierstöcken” behandelt wurde, immens weiterentwickelt hat.

Aufgrund unserer typischen großen Statur als männlich oder trans angesehen zu werden, ist an sich schon schlimm genug.

„Die Gesellschaft akzeptiert es mittlerweile definitiv mehr”, sagte sie zu mir. „Intersex- und Gender-Themen werden so oft in den Nachrichten erwähnt, sodass es viel einfacher ist, ein solches Thema in einer Unterhaltung anzusprechen. Ich bin mir relativ sicher, dass ich meine Diagnose als Teenagerin geheim gehalten hätte.”

Alex* hatte das Gefühl, dass ihm die Diagnose dabei half, seine sexuelle Identität zu erklären, obwohl er sie von seinen konservativen, religiösen Eltern geheim hielt. „Ich wusste mit 14, dass ich queer bin, aber beschloss—weil ich nicht in der Hölle verbrennen wollte—, es für mich zu behalten.” Alex wurde mit sehr vielen Vorurteilen konfrontiert. Die Leute reagierten negativ, manchmal sogar aggressiv, auf die körperlichen Merkmale des Syndroms. „Aufgrund unserer typischen großen Statur als männlich oder trans angesehen zu werden, ist an sich schon schlimm genug. Ich wurde zusammengeschlagen, aus den Toiletten vertrieben, der Manager wurde wegen mir gerufen, nur weil ich versuchte, als Frau pinkeln zu gehen.”

Mittlerweile hat Alex durch eine Testosteronbehandlung seine Umwandlung zum Mann begonnen, er identifiziert sich aber weiterhin als intersexuell. Alex möchte vermitteln, wie komplex die Auswirkungen des Syndroms auf die Betroffenen sind. Ihre queere und intersexuelle Identität ist das Ergebnis mehrerer Aspekte ihrer Persönlichkeit und ihrer Sexualität und das Swyer-Syndrom ist nur ein Element, das dazu beiträgt.

Wenn irgendjemand mit dem Swyer-Syndrom das Gefühl hat, nicht ‚normal’ zu sein, dann ermutige ich die Person, zu hinterfragen, was ‚normal’ für sie überhaupt bedeutet.

Eine Expertin aus New York sagte zu uns, dass ihre Patientinnen oft unglücklich über die fehlenden Informationen über die Krankheit sind. Dr. Heather Applebaum, die ein Projekt mit dem Titel PURE (Pediatric Urogenital, Reproductive, and Endocrine) Disorders Program am Steven and Alexandra Cohen Children’s Medical Center leitet, sagte, dass ein ganzheitlicher medizinischer Ansatz nötig wäre. „Patientinnen können sehr von einem multidisziplinären Team von Gesundheitsexperten profitieren, die das Syndrom mitfühlend und sachgerecht erklären und diese einzigartigen Persönlichkeiten angemessen behandeln können.”

Würde eine bessere Aufklärung diesen jungen Frauen helfen? Was wäre, wenn man im Sexualkundeunterricht über das Swyer-Syndrom lernen würde? „Sicher ist, je besser die Leute informiert sind, desto größer ist das Verständnis für Unterschiede.”

Die Komplexität des Syndroms macht es für Betroffene sowie Ärzte so frustrierend. Junge Mädchen haben ohnehin schon Schwierigkeiten mit ihrem Selbstempfinden, ganz zu schweigen von ihrem Platz auf dem Gender-Spektrum. Bethan hat die Hänseleien in ihrer Jugend überwunden, deshalb fragte ich sie, welchen Ratschlag sie einem jungen Mädchen mit Swyer-Syndrom geben würde. „Man ist nie völlig normal”, sagte sie. „Jeder hat seine Eigenheiten, die ihn zu einem Individuum machen. Das Swyer-Syndrom ist meine ‚Eigenheit’. Ich wäre heute nicht dieselbe Person, wenn ich das alles nicht durchgemacht hätte. Wenn irgendjemand mit dem Swyer-Syndrom das Gefühl hat, nicht ‚normal’ zu sein, dann ermutige ich die Person, zu hinterfragen, was ‚normal’ für sie überhaupt bedeutet. Ich wette, dass sie niemanden auf der ganzen Welt findet, der vollkommen normal ist.”


*Name wurde geändert