Er wolle nicht bemitleidet werden. Der weinerliche Typ sei er nun wirklich nicht. „Es ist eine Angst, die aus mir kommt. Ich will nicht jammern und die Welt dafür verantwortlich machen”. Und es sei ja nicht so, dass er sie hasse. „Ich fühle mich einfach unwohl, wenn ich in ihrer Gegenwart bin”. Wenn Patrick, von „ihnen” spricht, meint er Frauen. Ganz gleich, ob alt oder jung, dick oder dünn—der 24-Jährige hat Angst vor ihnen allen. „Obwohl ich schon glaube, dass es schlimmer ist, je schöner sie sind”, gibt der angehende Bauingenieur zu.
Die Gynophobie, die Angst vor Frauen, ist ein seltenes Phänomen und wird oft verwechselt mit der Misogynie, der Frauenfeindlichkeit. Zahlen, wie viele Menschen davon im deutschsprachigen Raum betroffen sind, gibt es nicht.
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Der britische Sexual- und Sozialwissenschaftler Havelock Ellis sah in der Horror Feminae eine neurotische Hypersensitivität gegenüber den Geschlechtsorganen des anderen Geschlechts. Laut Ellis, einem der ersten Wissenschaftler, die sich im 19. Jahrhundert mit menschlicher Sexualität und Transgender-Fragen beschäftigten, ist die Angst vor Frauen eine der Hauptantriebskräfte der männlichen Homosexualität. Eine gewagte These.
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In der Tat laufen Patrick bei der Vorstellung von Sex mit einer Frau unangenehme Schauer den Rücken hinunter; eine Vagina findet er nach eigener Aussage „skurril”. Dabei sei es nicht bloß die Vorstellung vom Geschlechtsverkehr mit einer Frau, die ihn nervös macht. Auch die soziale Interaktion fällt ihm schwer. Meist schweigt er in der Anwesenheit weiblicher Personen und wenn er doch sprechen muss, dann stottert er. Augenkontakt macht ihm Angst, Berührungen vermeidet er panisch. Vor einigen Jahren noch waren U-Bahn-Fahrten eine Herausforderung und nach kurzen Smalltalks fühlte er sich, als wäre er einen Marathon gelaufen.
Ganz zuwider der Aussage von Ellis haben es aber auch Männer Patrick nicht gänzlich angetan. Irgendwann habe er es sich geradezu gewünscht, schwul zu sein. Endlich eine Definition, eine Erklärung. Dann hätte es zumindest einen Grund für sein Verhalten und sein Gefühl gegeben. Aber diese Genugtuung wollte sich nicht einstellen: „Ich habe zwar winzige Erfahrungen mit Männern gemacht. Aber ob ich schwul bin, kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen”.
Der Diplom-Psychologe Manfred Söder erklärt diese Angst vor dem anderen Geschlecht im Gespräch mit Broadly folgendermaßen: „In den meisten Fällen handelt es sich um zurückhaltende Männer mit idealisiertem Frauenbild, die den ‚normalen’ Zeitpunkt für die ersten sexuellen Begegnungen verpasst haben und mit der Zeit nur noch auf erfahrenere Partnerinnen treffen, denen sie sich unterlegen fühlen.” Der Therapeut aus Düsseldorf hat sich auf Sexualtherapie und Beziehungsmanagement spezialisiert. Dabei komme eine allgemeine Sexualangst oder Frauenphobie wie die von Patrick durchaus auch in seiner Praxis vor; sie sei jedoch eher eine Seltenheit. Begleiterscheinungen einer solchen Angststörung seien starke Leistungs- und Versagensängste, die nur durch eine erste positive, intime Erfahrung gelöst werden könnten.
Ich habe mich natürlich schon gefragt, was da nicht mit mir stimmt. Kein Verlangen. Gar nichts.
„Den sogenannten idealen Zeitpunkt verpassen vor allem Männer mit schwachem Sexualtrieb oder beziehungsinkompatiblen Interessen im frühen Erwachsenenalter”, sagt Söder gegenüber Broadly. Ursachen dafür seien vor allem in Familie und der persönlichen Entwicklung zu suchen. Direkte Traumata finde man seltener.
Patrick hatte noch nie eine Freundin, noch nie Sex mit einer Frau. Wie einer der Kandidaten, die RTL und Co. für Sendungen wie Schwiegertochter gesucht vor die Kamera zerrt, wirkt er allerdings nicht. Patrick hat dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar, einen roten Bart, ist schlank und hochgewachsen. Bei unserem Gespräch vermeidet er allerdings jeglichen Augenkontakt.
Als Teenager habe er mit Übergewicht und Akne zu kämpfen gehabt, erzählt er. Auch der sportlichste wäre er nie gewesen. „Aber gemobbt? Nein, das kann man nicht sagen. Ich hatte meinen kleinen Zirkel an engen Freunden. Die Streber und Seltsamen der Klasse, das kann man schon so sagen, und die waren, tja, auch nicht besonders erfolgreich oder beliebt bei Frauen”. Der einzige Unterschied war: Im Gegensatz zu seinen Freunden hat Patrick dabei den Kontakt zu Frauen nie vermisst. Wenn die anderen Jungs klagten oder tratschten, heimlich Bilder nackter Frauen oder später Pornofilme anschauten, war all das für Patrick eher befremdlich.
„Ich habe mich natürlich schon gefragt, was da nicht mit mir stimmt. Kein Verlangen. Gar nichts”. Nie habe er Frauen nachgeschaut, nie hatte er das Bedürfnis, sie anzufassen. Es war eher der Druck der Gesellschaft, der ihn nervös machte. „Ich tat dann einfach oft so, als wäre ich an irgendeiner interessiert und nur zu schüchtern, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Dabei war es eher so etwas wie Unwillen. Gereiztheit. Wie wenn manche Leute eine Spinne fangen und nach draußen tragen müssen. So ein leichter Schauer”.
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Natürlich beschäftigte sich auch Sigmund Freud mit dem Thema der Sexual- und Frauenangst. Ähnlich wie der berühmte Psychiater Harry Stack Sullivan verortete Freud—wie könnte es auch anders sein—die Ursachen dafür in einer entweder übersexualisierten oder puritanischen, körperfeindlichen Kindheit. Patrick wuchs ohne die Präsenz einer Frau zu Hause auf. Sein Blick verfinstert sich. „Meine Mutter hat einen neuen Mann kennengelernt, als ich zwei Jahre alt war und hat meinen Vater mit mir und meinem Bruder alleine gelassen”. Jeder Psychologe, der das höre, würde sich sofort darauf stürzen und darin den Grund allen Übels sehen. Patrick zuckt mit den Schultern. „Mein Bruder hat aber keine Probleme. Das macht doch dann keinen Sinn, oder? Der hat ständig irgendwelche Frauen am Wickel und scheint das zu genießen.”
Patrick und sein sechs Jahre älterer Bruder waren in ihrer Kindheit viel allein. Fremde Kinder hat er erst in der Schule getroffen. Eine von ihnen war Anna-Maria, ein Mädchen aus dem Nachbarort, an das sich Patrick bis heute erinnert. Hellbraune kurze Locken habe sie gehabt und nach der Schule hätten sie oft Brennball und Völkerball gespielt. „Ohne Team, nur wir zwei. Ich glaube, auch sie war ein seltsames Kind, deswegen passten wir wohl gut zusammen”. Vor allem aber erinnere er sich an Anna-Maria, weil sie seine bisher einzige sexuelle Erfahrung mit einem Mädchen darstellt. „Manchmal, wenn wir mit dem Auto von der Schule abgeholt wurden, haben wir uns auf dem Rücksitz geduckt, sodass mein Vater oder ihre Eltern uns nicht mehr im Rückspiegel sehen konnten.” Dann hätten sie einander angefasst. Wie, wo und was genau passiert ist—Patrick will oder kann sich die Einzelheiten nicht mehr ins Gedächtnis rufen: „Irgendwie ist das alles etwas neblig. Und irgendwie habe ich mich schuldig gefühlt, ja.”
Patrick tut sich schwer, über diese Dinge zu reden. Er habe natürlich Angst, als Frauenhasser zu gelten. Dabei verspüre er keinerlei Wut gegen sie. „Natürlich finde ich, sie sollten genau die gleichen Rechte und die gleiche Achtung wie jeder andere Mensch genießen”, betont er. Er sei es, der sich ändern müsse, nicht die Frauen. Es sei mittlerweile weniger schmerzhaft, dieser Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Sein Ziel sei es dabei jedoch nicht, sofort mit einer Frau im Bett zu landen. „Langsam, langsam. Lieber kleine Brötchen backen”, sagt er und lacht.
Der Fakt, dass ich dieses Gespräch mit einer Frau führen kann, ist einer der größten Fortschritte der letzten Dekade.
Nach Jahren voller Selbstzweifel und Depression versucht Patrick mittlerweile, seine Situation mit Humor zu nehmen. Er sei an einem Punkt angekommen, sagt er, an dem er sich wirklich die Besserung wünsche. Nicht, weil die Gegenwart einer Frau in seinem Leben fehle, sondern einfach, weil er sich unbefangener in der Welt bewegen wolle. „Ich will mit Frauen sprechen können. Nicht stocken und schwitzen. Ich will nicht, dass die Leute denken, ich sei insgeheim in sie verliebt und deswegen nervös. Ich will ernstgenommen werden”. In einem halben Jahr macht er seinen Universitätsabschluss. Dann würde er sich nicht mehr hinter einer Bank im Hörsaal verstecken oder immer männliche Kommilitonen für gemeinsame Referate wählen können.
Patrick versucht deswegen seit einigen Monaten, in die Offensive zu gehen—Frauen im Supermarkt oder in der Bahn in die Augen zu schauen. Berührungen nicht zu vermeiden. Sein Psychologe habe ihn ermuntert, Hobbys zu beginnen, bei denen auch Frauen anwesend sind. Ab und zu nehme er außerdem eine weibliche Kollegin mit ins Therapiegespräch. „Wir üben Konfrontation”, erzählt Patrick. Auch Manfred Söder unterstützt diese Strategie. Es sei der einzig richtige Weg, dass Patrick in seinem Alltag aktiv den Kontakt mit Frauen sucht. „Ein verhaltenstherapeutisches Vorgehen ist auch aus meiner Sicht die beste Wahl, da es dabei nicht um die Ursachen der Ängste, sondern um die Faktoren geht, die die Ängste aufrecht erhalten”.
Nur schwerlich könne jedoch bei dieser Art der Phobie der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten den Ängsten begegnen. „Leider steht oft kein Beziehungspartner zur Verfügung, mit dessen Hilfe man eine klassische Konfrontationsbehandlung durchführen könnte, sodass die Therapie oft in der Fantasie durchgeführt werden muss. Natürlich wird man den Klienten immer wieder ermutigen, sich eine Sexualpartnerin zu suchen, da sich die Ängste nur durch neue Erfahrungen überschreiben lassen”. Das verhaltenstherapeutische Setting finde jedoch immer dort seine Grenze, wo die Intimsphäre des Klienten beginnt. Eine optimale Begleitung sei in der Sexualtherapie daher immer problematisch. Patrick jedoch zeigt sich optimistisch. Er wäre bereits jetzt an einem Punkt, den er sich vor Jahren nicht einmal erträumt hätte: „Das hier ist bereits ein Meilenstein. Der Fakt, dass ich dieses Gespräch mit einer Frau führen kann, ist einer der größten Fortschritte der letzten Dekade”.
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Titelfoto: Demeter Attila via pexels | CC0