Wie der Antiheld Maradona das geächtete Neapel eroberte

Maradona

Im Fußball gibt es die alte Weisheit, die besagt, dass kein Spieler größer ist als sein Verein. Sich über seinen Klub zu stellen, ist nicht nur ein Affront gegen die eigenen Fans, sondern tritt auch die wichtigsten Werte im Sport mit den Füßen. Ganz nach dem Motto: „Wir sind die Wächter unserer Farben und du nur ihr kurzfristiger Träger.” Wenn aber eine Sache diese Logik herausfordern kann, dann ist es wohl die Liebesbeziehung zwischen Diego Maradona und der Stadt Neapel. Neapel – von keinem in Italien geliebt und zur Zielscheibe unzähliger Witze verdammt – und Maradona – argentinischer Rebell und Antiheld. Der berühmte schottische Trainer Jock Stein meinte mal, dass ein Celtic-Trikot nicht kleiner wird, um schlechten Spielern zu passen. Doch in Neapel wirkte es zeitweilig so, als ob das Napoli-Trikot auf den Schultern von Maradona wachsen würde.

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Das soll nicht heißen, dass Napoli vor El Diegos Ankunft ein Niemand war. Doch es wäre töricht zu behaupten, dass jemand anders als Maradona für den Aufstieg der Partenopei verantwortlich war – oder überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre. Was manch einer vielleicht gar nicht mehr weiß: Der Maradona, der zum SSC wechselte, hatte seinen Zenit eigentlich schon überschritten. Eigentlich. Wenn überhaupt, spotteten Kritiker, hatte sich Napoli für unfassbar viel Kohle beschädigte Ware eingekauft. Denn auch wenn seine Karriere bei Barcelona und Boca Juniors von vielen glanzvollen Momenten geprägt war, so hatte er sich gleichzeitig schon mit Hepatitis B infiziert und war vor allem auf dem besten Weg in eine schwere Kokainabhängigkeit. Nicht zu vergessen sein Auftritt im Pokalfinale gegen Athletic Bilbao, als er gefühlt jeden gegnerischen Spieler umtrat. Als Napoli-Präsident Corrado Ferlaino mit 12 Millionen Euro im Gepäck – damals eine neue Rekordablöse – in Barcelona ankam, waren die Katalanen mehr als froh, den Unruhestifter ziehen zu lassen.

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Vom Moment seiner Vorstellung im Stadio San Paolo an, am 5. Juli 1984, war es so, als hätte ein ewiger Rebell endlich seine Berufung gefunden – und die Masse ihren Messias. 75.000 Menschen kamen, um den Heilsbringer zu begrüßen. Eine lokale Tageszeitung schrieb, dass es Neapel zwar neben einem Bürgermeister an „Wohnungen, Schulen, Bussen, Arbeitsplätzen und sanitären Anlagen fehlen” würde, das aber kein Problem sei, weil man jetzt ja Maradona hätte. Und weil wir von Neapel sprechen, wurde der Sensationstransfer mit Mafiagerüchten in Verbindung gebracht. Diego schrieb später dazu: „Vor meiner Ankunft wollte sich Paolo Rossi wegen der Mafia in der Stadt nicht dem Team anschließen. Die Wahrheit ist doch, dass sich vor meiner Ankunft niemand Neapel anschließen wollte”.

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Wer dachte, dass Napoli mit Maradona sofort zu Wunderwerken fähig wäre, wurde enttäuscht. Am Ende der Saison 1984/85 landete der SSC nur auf einem achten Platz. In der Folgesaison wurde man schon Dritter. Und noch viel wichtiger: Um den Superstar aus Argentinien formte sich eine schlagfertige Truppe. Neben Ciro Ferrara und Salvatore Bagni, die den Maestro zu beschützen hatten, wurden mit Andrea Carnevale und Bruno Giordano Spieler geholt, die ihn beim Toreschießen unterstützen sollten.

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Wenn Diegos Stern mit seinem Wechsel nach Neapel auf den ersten Blick gefallen war, so stieg er bei der WM 1986 in Mexiko wieder in ungeahnte Höhen. Gegen England traf er doppelt, im Halbfinale ließ er einen weiteren Doppelpack folgen und am Ende stemmte er den Pokal in den Himmel von Mexiko City, sehr zum Leidwesen von Brehme, Matthäus, Magath, Rummenigge, Allofs und Co. Jetzt war er der unbestritten feinste Fußballer der Welt. Bei seiner Rückkehr nach Neapel hatte er nur ein Ziel: der Stadt ihren allerersten Scudetto schenken.

Vor Maradona hatte kein Team aus dem Süden Italiens jemals die Serie A gewinnen können. In der Saison 1986/87 holte Napoli dann das Double. In der folgenden Spielzeit wurden sie Vizemeister – und Diego Torschützenkönig. 1988/89 gewannen sie schließlich auch noch den UEFA-Pokal. Für eine Mannschaft, der viele noch kurz vorher die Erstligatauglichkeit abgesprochen hatten, die Schwierigkeiten hatte, ihr Stadion voll zu bekommen und die in ihrer langen Geschichte nur zwei mickrige Coppa-Italia-Titel gewinnen konnte, war der Aufstieg der letzten Jahre nicht weniger als kometenhaft.

Maradona feiert Napolis Scudetto 1987 // PA Images

Es begann die Zeit der Diegomania. Berichten zufolge wurde jedes vierte Baby in Neapel Diego getauft. Und für die ehemals alles dominierenden Teams aus Norditalien wurden Spaßbeerdigungen abgehalten. Auch damals war in Diegos Leben schon lange nicht mehr alles rosig, doch solange er weiter seine Buden machte, wurde ihm jeder Fehltritt freilich verziehen.

Maradonas ausschweifender Lebensstil war schon in Barcelona ein offenes Geheimnis, aber die Freiheiten im quasi-anarchischen Neapel ließen den Argentinier endgültig die Kontrolle über sein Leben verlieren. Er ging mit Mafiabossen feiern, machte Bekanntschaft mit anderen Unterwelt-Vertretern, hatte eine Vaterschaftsklage am Hals und verfiel dem lieben Koks immer mehr. Gleichzeitig wurde er in einer Tour von fanatischen Fans bedrängt. Das ging irgendwann soweit, dass er immer mehr Zeit in Argentinien verbrachte, aus Angst vor einer Stadt, die ihn mit ihrer Liebe erdrückte.

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Zum Saisonbeginn 1989/90 kam er zwar zu spät – und ließ Frau und Tochter zur eigenen Sicherheit in Buenos Aires zurück –, machte sich aber gleich wieder mit Furore an die Arbeit. Napoli lieferte sich mit Milan ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Meisterschaft. Bei einem Auswärtsspiel in Bergamo vier Spieltage vor Schluss sollte der Zweikampf zugunsten der Neapolitaner entschieden werden – und das, obwohl es nach 90 Minuten eigentlich 0:0 stand. Doch weil der Brasilianer Alemao von einer Münze aus dem Atalanta-Block getroffen worden war, wurde das Spiel am grünen Tisch mit 2:0 für den SSC gewertet. Am Ende der Saison sicherte sich Napoli die zweite Meisterschaft der Vereinsgeschichte.

Maradonas Gesicht ist in Neapel allgegenwärtig // PA Images

Letzte Zweifel, was die Ausnahmestellung dieses Mannes betraf, waren damit endgültig aus der Welt geschafft. Erneut war er jedermanns Liebling in Neapel. Doch außerhalb der Stadttore war er noch immer verhasst, galt als Mafiafreund und Koksnase. Auch wenn ihn das in den Augen der Neapolitaner, die Spott und Hohn aus Norditalien längst gewohnt waren, nur noch liebenswerter machte.

Doch ein wichtiger Gipfel musste noch erklommen werden. Italia 90 – die Weltmeisterschaft, die Andy Brehme unsterblich machen sollte – stand auf dem Programm. Titelverteidiger Argentinien hatte neben Maradona auch noch Abel Balbo, Claudio Caniggia und Roberto Sensini in den eigenen Reihen, die übrigens allesamt ihr Geld in Italien verdienten. Trotz einer überraschenden Niederlage im Auftaktspiel gegen Kamerun erreichten die Gauchos nach Siegen gegen die Sowjetunion, Brasilien und Jugoslawien das Halbfinale. Dort trafen Maradona und seine Mannen natürlich auf … Italien. Und Austragungsort war natürlich … Neapel. Besser hätte es in keinem Drehbuch stehen können.

Maradona machte, was sich wohl nur ein Maradona trauen würde: Er forderte die heimischen Fans auf, ihn und Argentinien statt die Azzurri anzufeuern. Und begründete diesen Vorschlag mit eindringlichen Worten: „364 Tage im Jahr geltet ihr als Ausländer im eigenen Land; doch heute wollen sie, dass ihr die Nationalmannschaft bedingungslos unterstützt. Ich aber bin 365 Tage im Jahr ein Neapolitaner.” In Diegos Vorstellung hatte er Neapel komplett um den Finger gewickelt. Doch als beide Teams dann das Spielfeld betraten, verkündete ein Banner in der Kurve eine unmissverständliche Botschaft: „Maradona, Neapel liebt dich, aber Italien ist unser Land”. Argentinien gewann am Ende im Elfmeterschießen und die Einwohner Neapels, obwohl am Boden zerstört, jubelten ihrem Diego zu.

Maradona nach seinem wichtigen Elfmeter im WM-Halbfinale gegen Italien // PA Images

Dass Maradona so wichtig für Neapel wurde, dass er von ihnen einfordern konnte, gegen das eigene Heimatland zu sein, zeigt nur zu gut, was er alles für die Stadt geleistet hat. Dass sie sich am Ende trotzdem für ihre Azzurri entschieden haben, zeigt dann wiederum, dass die eigenen Farben und das Trikot doch größer sind als Einzelpersonen, egal, wie groß diese sein mögen. Wenn in Maradonas Fall auch nur knapp – und nicht immer.

Doch nach 1990 ging die Beziehung langsam, aber sicher den Bach runter. Maradona wurde immer übergewichtiger, musste Geldstrafe um Geldstrafe blechen, weil er Spiele verpasste, und wurde am Ende positiv auf Drogen getestet.

El Diego sollte nicht mehr der Alte sein. Seitdem ist er immer wieder mal nach Neapel zurückgekehrt. Seine Angst vor dem, was ihn dabei erwarten würde, ist geblieben – auch wenn er mittlerweile eher Bekanntschaft mit dem Steuerfahnder als der Camorra machen würde. Aber wenn er zurückkehrt, steht Neapel jedes Mal Kopf und feiert ihren Messias in den Himmel. Und auch in seiner Abwesenheit grüßt er verlässlich von zahlreichen Mauern im Stadtbild. Seine Nummer 10 wurde übrigens nie wieder vergeben. Wie auch, kann doch ein Trikot nicht eingehen, um auch weniger bedeutsamen Spielern zu passen.