Wie der Kriegsfotograf Dominic Nahr versucht, mit seinen Erlebnissen fertig zu werden

Eines der ersten Fotos, das ich von Dominic Nahrs Arbeit sah, hat sich tief in meinen Kopf eingebrannt: Es zeigt einen dreckverkrusteten Toten, der mit dem Gesicht nach unten in einer Öllache treibt. Auf ihrer dunklen Oberfläche spiegeln sich Wolken. Es ist die Surrealität und Unheimlichkeit des Bildes, die mich fasziniert, es scheint, als trete der Mann gerade in den Himmel ein, als werde er von ihm eingesogen.

Dominic schoss das Foto 2012 im Sudan. “Das Bild bringt den Konflikt auf den Punkt”, sagt der Schweizer Kriegsfotograf. Er erzählt von dem Tag, an dem er auf den Auslöser drückte: “Ich begleitete einen Vorstoß der Armee. Es war ein Schlachtfeld, crazy. Die Soldaten brauchten unser Fahrzeug, um geplünderte Beute aufzuladen. Gegen Abend kamen wir an dieser Ölförderanlage vorbei, bei der die Gegner Deckung gesucht hatten. Öl spritzte, in einer Lache lag der tote Soldat.” Es ist nicht das krasseste Foto, das er an diesem Tag schoss. Mehr als 20 Tote hatte er fotografiert. Darunter Brandleichen. Verschickt hatte er aber nur das eine, an die Redaktion des Time Magazine. “Die anderen Bilder waren zu brutal.”

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Als ich Dominic Nahr treffe und er mir das alles erzählt, könnte der Kontrast nicht größer sein. Wir sitzen morgens im Garten eines Züricher Cafés, die Sonne scheint. Der 33-Jährige hat vor ein paar Tagen seine Ausstellung “Blind Spots” im Fotomuseum Winterthur eröffnet. Er zeigt darin die Geschichten von Menschen aus den Krisengebieten Südsudan, Somalia, Mali und dem Kongo. Es sind Staaten, in denen es für die Bevölkerungen weder Sicherheit noch Grundversorgung gibt. Schwelende Konflikte, für deren menschliche Tragödien Dominic Nahr mehr Bewusstsein schaffen will. “Während der letzten Hungersnot in Somalia gab es 250.000 Tote, ich fotografierte Kinder, die vor meinen Augen starben.” Er fügt hinzu: “Ich wundere mich, warum im Westen kaum darüber berichtet wird. Diese Geschichte droht, sich jetzt gerade im Südsudan zu wiederholen.”

Dominics Interesse für das Leben in ehemaligen Kolonien ist auch ein persönliches: Der gebürtige Appenzeller ist in Hongkong aufgewachsen – Großbritanniens letztem Überseebesitz, den das Empire erst 1997 aufgab. Vieles, was er aus seiner Kindheit kannte, existiert dort nicht mehr: “Alles, was Englisch war, wurde unkenntlich gemacht. Häuser wurden abgerissen und Straßen umbenannt. Du merkst in Hongkong nichts mehr von den Briten. In Kenia werden die alten Strukturen noch genutzt.” Mit Anfang 20 unternahm Dominic erste Schritte in Richtung Pressefotografie. Er machte ein Praktikum bei einer Lokalzeitung. Darauf folgte ein Studium in Toronto und später erste Reisen nach Afrika.

Heute lebt Dominic in Nairobi, die letzten neun Jahre hat er dort in Ägypten, Japan und dem Irak gewohnt. Er plant, bald in die Schweiz zu ziehen, seine Terra incognita, in der er noch nie länger als ein paar Wochen am Stück verbracht hat, die er nur von den Sommerferienbesuchen bei seiner Großmutter im Appenzell kennt. “Ich möchte entdecken, wie sich das Leben in dem Land anfühlt, von dem ich den Pass habe”, erklärt er. Es graut ihm aber gleichzeitig vor der Schweizer Liebe zur Bürokratie. Er habe sich noch nie mit Dingen wie dem Schweizer Steuersystem auseinandersetzen müssen. “Ich bin es gewohnt, im Zickzack vorwärts zu kommen. In Nairobi musst du immer eine indirekte Lösung finden. In der Schweiz ist alles ziemlich gerade.” Er erzählt mir eine Anekdote von seiner Wohnungssuche in Zürich: “Ich bin im Januar einfach mal spontan ein günstiges Apartment im Kreis 4 anschauen gegangen. 40 Minuten vor dem Termin bin ich angekommen und dann warteten schon 200 Leute vor mir in der Schlange. I was like… hä? Es ist hier nicht easy für mich”, sagt er in seinem von Anglizismen gespickten Schweizerdeutsch.

Ein weiterer Grund für Dominics Umzugsplan ist, dass er besser verstehen will, was er an seinen Geschichten ändern muss, damit sie mehr Menschen erreichen. “Ich weiß von Nairobi aus nicht, wer meine Bilder sieht und wie sie ankommen oder was sie auslösen.” Weniger in Afrika fotografieren will er wegen seines Wegzugs nicht. Es sei nicht so, dass er den Tag permanent hinter der Kamera verbringe und immer vor Ort wäre: “Es braucht Wochen an Planung, um in ein Krisengebiet einreisen zu können. Man wird von den Behörden durchleuchtet und muss dann noch ein Visum beantragen.”

Ich frage ihn, ob er in gewissen Situationen nicht lieber aktiv helfen möchte, statt zu fotografieren. “Wenn du in ein Krisengebiet fliegst, musst du dir bewusst sein, was dein Job ist. Mit einer ‘Ich-weiß-nicht-ganz-ich-such-mich-selber’-Attitüde hinzugehen, ist fatal. Du musst wissen, was du machst: Ich bin Fotograf und dokumentiere.”

Dominic schießt Fotos gegen das Vergessen. Heute gegen das der Öffentlichkeit, früher gegen sein persönliches: “Mein Gedächtnis ist so schlecht, dass ich mich an keine Ferien mit meinen Eltern erinnere. Meine Mutter hat mir gesagt, ich solle fotografieren, damit ich nichts mehr vergesse. So habe ich angefangen.”

Wir kommen noch einmal auf seine Ausstellung zu sprechen. Ich frage, ob sie nicht Gefahr läuft, zu einem sinnentleerten Kunst-Happening zu verkommen. Was, wenn irgendwelche reichen Champagnerschlürfer sich “einen Dominic Nahr” ins Wohnzimmer hängen wollen, weil er so gut zum Sofa passt? Er denkt kurz nach und antwortet: “Es fällt mir generell nicht leicht, meine Bilder eingerahmt und so groß zu sehen. Gewalt und Elend werden immer ästhetisiert, wenn sie in einer Galerie ausgestellt werden. Ich glaube aber, so wie wir die Ausstellung aufgezogen haben, gibt sie den Besuchern viel mehr.” Die Ausstellung sei so kuratiert, dass die Besucher sich mit der Geschichte hinter den Fotos auseinandersetzen können. “Es sind nicht nur eingerahmte Bilder mit einer Beschreibung. Wir haben eine Videoinstallation, die sich dem Clash zwischen der Kunstwelt und dem Fotojournalismus widmet. Auf dem einen Bildschirm siehst du den Kurator, wie er auf einer schönen weißen Wand meine Fotos arrangiert und auf dem anderen siehst du mich, wie ich in einer gefährlichen Situation durch Afrika renne.” Er fährt fort: “Wir wollen, dass die Besucher sich Fragen stellen wie: ‘Darf ein schreckliches Bild schön sein?’”

Was sein nächstes grosses Projekt werden soll, weiß er noch nicht. Es werde immer schwieriger, in den Südsudan zu reisen. Sicher ist für ihn, dass er in der Schweiz Fotos machen will. Er gehe bald ins Onsernonetal im Tessin, um dort einen Landarzt zu fotografieren, den er zufällig getroffen habe. “Mein Großvater war auch Landarzt, darum interessiert mich das. Ich will solche Geschichten machen, um die Schweiz zu entdecken. Sie ist eine fremde Welt für mich. Es reizt mich, visuell herausfinden, wie hier alles funktioniert.”

Auf Dauer nur bedrückende Geschichten zu fotografieren, kann und will Dominic nicht. Im Irak habe er gemerkt, dass es ihm zusetzt, über Monate keine einzige positive Story zu machen. “Du musst die Balance finden. Die ständige Negativität macht sonst etwas mit dir. Ich mache schöne Geschichten zum Ausgleich, um mich zu stärken. Sonst siehst du nur noch das Schlechte in der Welt. Man muss eine spezielle Person sein, um diesen Job zu machen. Und um starke Bilder zu schießen, brauchst du ab und zu einen Perspektivwechsel, neue Reize.”

Zum Abschluss frage ich, wie er es schafft, eine so intime Beziehung zu den Menschen aufzubauen, die er fotografiert. Er sieht den Grund in seiner Vergangenheit: “Ich war immer der Außenseiter, weil ich im Ausland gelebt habe. Besonders Hongkong hat mich trainiert. Ich musste mich immer auf neue Leute einstellen und mit ihnen klarkommen. Ich treffe im Jahr Tausende von Leuten. Manchmal sind es zwanzig neue Menschen pro Tag.”

Wir verabschieden uns mit einem Händedruck. Er macht sich zu Fuß auf den Weg. So bewege er sich am liebsten fort, sagt er. Die nächste Geschichte könnte schließlich um die Ecke warten.

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