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Der explodierende LKW, München, mein Smartphone und ich

„Ist was passiert? Hier war was wie eine Bombenexplosion!” schreibt meine Frau im Facebook-Messenger während ich im Büro sitze und E-Mails hin- und herschiebe. Bestimmt Großstadtlärm, denke ich. „Alles voller Sirenen” setzt sie nach. O.k., das klingt nicht gut. Sie schickt mir ein Foto, das sie vom Balkon aus gemacht hat: Eine dicke Rauchschwade steigt in den blau-weißen Himmel.

Jetzt bin ich auch beunruhigt. Wir wohnen mit unserer fünfköpfigen Familie nahe der Kampfzone Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain. Erst vor wenigen Tagen musste ich nachts mit NachbarInnen eine mit Feuerwerkskörpern in Brand gesteckte Papiertonne löschen und mir nach Abzug eines mauligen Feuerwehr-Trupps von der Polizei sagen lassen, doch selbst „noch einen Eimer Wasser nachzukippen.” Die zwei brennenden Autos hinterm Haus vor ein paar Monaten und das lodernde Nachbarhaus vor zwei Jahren haben auch ihre Spuren hinterlassen. Eines unserer Kinder weigert sich, nachts im Hochbett zu schlafen, mit der Begründung, es könne sonst nicht schnell genug das Haus verlassen, wenn es wieder brenne.

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Wir werden noch viele Attentate, Amokläufe und Unfälle sehen. Viele davon live. Wir werden ein Gespür entwickeln, wann wir senden können und wann wir wegsehen sollten.

Die Angst vor Feuer in Friedrichshain ist also begründet. Was ist es diesmal? Ist ein Haus in der Rigaer Straße explodiert? Oder doch ein Attentat? War nicht letzte Woche erst wieder eins irgendwo? Ich rufe zu Hause an und beruhige. Bitte Fenster zu machen, nicht rausgehen, ich finde schon raus, was passiert ist. Auf Twitter häufen sich schnell die Berichte: Ein LKW sei auf der Frankfurter Allee explodiert. Was für eine Geschichte. Dann kommen die ersten Fotos rein. Sie beruhigen auf seltsame Weise, denn sie zeigen: Es brennt tatsächlich nur ein LKW, die Lage scheint im Griff zu sein. Menschen stehen um den Brand, niemand rennt, keine allgemeine Panik.

Nach ein paar Fotos bin ich überzeugt: Es besteht keine akute Gefahr. Ich gebe Entwarnung nach Hause, die Lage entspannt sich. Ich bin dankbar für die zeitnahen vor-Ort-Informationen. Irgendjemand mault rum, warum wir denn alle nicht auf den offiziellen Polizeibericht warten könnten? „Weil wir halt hier leben, Du Idiot”, denke ich. Ist es nicht normal, wissen zu wollen, was zu Hause geschieht?

Alle Screenshots aus dem Periscope-Stream von jackyFakkinDaniels

Was eigentlich los ist, kann der Streamende nicht sagen. Er gibt sich Mühe, immer wieder drauf hinzuweisen, dass er nichts Konkretes wisse. ZuschauerInnen werfen die kursierenden Gerüchte ein: drei Angreifende, fünfzehn Tote, Islamismus. Fernsehsender übernehmen den Stream.

Ich sehe zu, wie bei einem Autounfall. München ist hunderte Kilometer entfernt. Ich kenne dort kaum jemanden. Meine Familie ist nicht in Gefahr. Doch ich kann nicht nicht hinsehen. Wie am Mittwoch sauge ich jede Information in mich auf, nicht mal fähig, die Treppen zur Wohnung zu nehmen.

Kurz habe ich überlegt, den Periscope-Link zu twittern, doch etwas hielt mich ab. Es fühlte sich nicht richtig an. Warum nur? Ich gehe hoch und halte alle paar Minuten mit einem Auge aufs Smartphone Ausschau nach verlässlicheren Nachrichten. Immer mehr Tweets mit Fotos von der Gegend ums OEZ kommen rein.

Das nächste mal werde ich mich zumindest nicht auf die Treppe setzen und eine Viertelstunde virtuellem Angst-Tourismus fröhnen, sondern nach Hause gehen und meine Familie begrüßen.

Wie im Actionfilm sehen die tausenden Zuschauer, wie sich PolizistInnen mit Maschinenpistolen postieren. Und dann kommt ein Tweet der Münchner Polizei, der mir klarmacht, warum es gut war, dass ich den Stream-Link nicht geteilt habe: Es wird darum gebeten, keine Einsatzfotos zu zeigen—sie helfen Verdächtigen.

So abwägig es klingt, ist es doch nicht von der Hand zu weisen. Man stelle sich flüchtende Attentäter vor, die nur auf den nächstbesten Periscope-Link oder ein trendendes Twitter-Foto sehen müssten, um zu wissen, wo sie mit welcher bewaffneten Gegenwehr zu rechnen haben, wo genau sich Polizisten und potentielle Opfer verstecken. Es erscheint wie im Film, wo dem Einbrecher der Fluchtweg per Funk durchgegeben wird—in Zeiten von Echtzeit-Updates über öffentliche Gewalttaten ist das Szenario realistischer als uns lieb sein kann.

Ob es ein Attentat war, ob Attentäter auf der Flucht sind: Man wusste es zu dem Zeitpunkt, wo ich vor dem Periscope-Stream sitze, nicht. Aber allein die Möglichkeit aus News-Interesse, Terroristen einen Fluchtplan auf dem Silbertablett zu servieren, erscheint absurd. Auch die Münchner Polizei, die live in verschiedenen Sprachen twittert, schreibt schon am Freitagabend: „KEINE Videos oder Bilder von Polizeikräften im Einsatz online stellen, helft nicht den Tätern!!!”

Doch auch danach kursieren noch Bilder. Wer ignoriert trotz der dramatischen Lage die mehrmalige Aufforderung der Polizei? Erstaunlicherweise setzen sich nicht nur Nutzer, die zufällig vor Ort sind, sondern auch mehrere journalistische News-Plattformen über die klare Aufforderung hinweg. Scheiß egal, Hauptsache schnell geile Bilder. Auch in die Live-Ticker gesetzter Nachrichtenportale finden Bilder Eingang, die Polizisten zeigen, wie sie sich mit Waffe im Anschlag hinter einer Litfasssäule verstecken, während die ARD in der Tagesschau weitgehend nur zu einem mehrere 100 Meter entfernt stehenden Reporter schaltet.

Smartphones und Terrorismus

Doch die Frage, die ich mir selbst stelle: Warum widersprechen sich mein Mittwoch- und mein Freitag-Ich? Am Mittwoch war ich großer Verfechter der freien Information vom Unfallort (Es hätte auch ein Attentat sein können!)—am Freitag sehe ich es kritisch. Sind die Situationen einfach verschieden, fühlt es sich anders an, wenn es nah ist oder mache ich mir einfach etwas vor? Letztlich war das eine ein Amoklauf, das andere ein absurder Unfall. Das wusste man jedoch nicht während der frühen Berichterstattung. In Zeiten in denen jeder Smartphone Nutzer in Echtzeit empfangen und auch senden kann, ist es mehr denn je unsere Pflicht unsere Mediennutzung zu hinterfragen. Ich sollte ehrlich zu mir selbst sein, und mir die Frage stellen, wie ich es nun halte mit dem Smartphone und der Angst vor dem Terror.

Am Samstag nach dem Amoklauf hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Deutschlandfunk die problematische Wirkung einer überhasteten Live-Berichterstattung kritisiert: „Diese gestrige Ereignisfolge zeigt, dass es so eine Art nervöse Attentatserwartung, nervöse Terrorerwartung in dieser Gesellschaft gibt und, dass wir natürlich in einer Medienwelt leben, die regiert wird von hoch elektrischen, hoch nervösen Wirkungsnetzen. „Irgendetwas passiert und auf einmal stürzen sich alle darauf, man weiß noch gar nichts Genaues, und das ist das Dilemma eines solchen Amoklaufs oder auch das Dilemma eines Terrorattentats.”

Es geschieht aus dem Nichts, es versetzt Menschen in Angst und Schrecken, und dann beginnt sofort das Dauerkommunizieren, das Dauerreden darüber, fast so als sei es eine Art Abwehrzauber einer Kommunikations- und Mediengesellschaft, permanent zu sprechen, permanent zu reden, permanent zu interpretieren und zu deuten, als sei die Wiedergewinnung von Deutungshoheit schon gleichsam die Lösung des Problems. Das hat natürlich—auch das hat man gestern und heute gesehen—eigene Schäden erzeugt, Genauigkeitsschäden, sinnlos gestreute Gerüchte, Sofortdeutungen, „Endlosschleifen der Spekulationen”, wie es eine Zeitung ausdrückte.

Pörksen hat Recht: Es hat Schäden erzeugt: Menschen wurden verunsichert, die Polizei ging falschen Spuren nach. Und wenn Bundesinnenminister de Maizière in diesem Zusammenhang vor Fehlinformationen im Internet warnt, liegt er nicht ganz falsch. Dennoch können wir das Smartphone als Publikationsinstrument für „Selfmade News” auch nicht einfach beiseite legen und den Newsportalen die alleinige Arbeit überlassen. Mehrere journalistische Plattformen haben in München gezeigt, dass sie selbst noch nicht sicher im Umgang mit dem neuen Wechselspiel aus Terror-Angst und Smartphone sind. Dass wir ohne aufwändiges Equipment live jederzeit berichten können, ist eine vergleichsweise junge technische Errungenschaft. Wir alle müssen lernen, damit umzugehen.

Am anderen Ende der Leitung in Berlin-Friedrichshain kann und will ich dem Periscoper keinen Vorwurf machen. Ich hätte vielleicht das selbe gemacht. Als ich am Wochenende an zwei Massenkarambolagen auf der A11 vorbeigefahren bin, hat mich nur die Tatsache, dass ich am Steuer sitze, vom Impuls abgehalten, ein Foto davon zu veröffentlichen. So habe ich es nach der Fahrt nur in Worten zusammengefasst und vielleicht war das auch die bessere Information als nur ein betroffenes Foto? Ich weiß es nicht.

Wir werden noch viele Attentate, Amokläufe und Unfälle sehen. Viele davon live. Wir werden ein Gespür entwickeln, wann wir senden können und wann wir wegsehen sollten. Wir werden geschriebene und ungeschriebene Gesetze haben, wann es sinnvoll und wann es schädlich ist, ungefiltert zu publizieren. Das nächste Mal werde ich mich zumindest nicht auf die Treppe setzen und eine Viertelstunde virtuellem Angst-Tourismus fröhnen, sondern nach Hause gehen und meine Familie begrüßen. Sonst hat der Terror schon gewonnen.

Caspar Clemens Mierau, darf sich laut seinem Ausweis offiziell „Leitmedium” nennen. Er bezeichnet sich selbst als „Post-Privatier”, arbeitet in Berliner Startups und schreibt als Blogger und freier Journalist über Medien, (Post-)Privatsphäre und die gesellschaftlichen Auswirkungen durch technologischen Wandel.