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Wie die ukrainische Raveszene im Krieg überlebt

BRUDNIY PES Ukraine party – photo of a crowd of people dancing and shouting outside, surrounded by clouds of smoke.

In den Jahren vor dem Krieg hatte sich Kiews Clubszene den Ruf als das neue Berlin erarbeitet. Mit dem ∄, auch K41 genannt, hatte die ukrainische Hauptstadt sogar so was wie ihr eigenes Berghain. Am 24. Februar 2022 war es damit schlagartig vorbei. Der russische Angriff veränderte das Leben der Menschen radikal. Plötzlich ging es ums nackte Überleben, an Party war nicht mehr zu denken.

Aber nach der Abwehr der ersten Angriffswellen kehrte nach ein paar Monaten wieder etwas Normalität in Kiew ein – und mit ihr auch das Bedürfnis, gemeinsam Musik zu hören und zu tanzen.

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Der DJ und Veranstalter Harry Pledov war einer der ersten, die nach der russischen Invasion ein großes Event organisierten. Direkt nach Kriegsbeginn hatte er noch seinen Job gekündigt, um bei der Herstellung kugelsicherer Westen zu helfen. Inzwischen widmet er sich wieder voll der Musik.


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“Wir sind Teil einer kulturellen Front”, sagt Pledov, der mit Art is a Weapon im Mai vergangenes Jahr das erste große Festival seit dem Beginn der Invasion organisierte. “Es war eine interdisziplinäre Veranstaltung mit Kunst, Musik, Theater und Film – vorrangig mit Werken junger ukrainischer Künstlerinnen und Künstler.” Das sei aber noch keine echte Party gewesen, sagt er. “Wir hätten dafür viel Hass abbekommen und ich war selbst auch noch dafür nicht bereit. Aber jetzt, wo sich der Krieg in die Länge zieht, versteht jeder, wie wichtig Partys sind.”

In den vergangenen Monaten haben die Menschen in der Ukraine wieder damit begonnen, ins Kino und in Restaurants zu gehen. “Wir dürfen auch nicht vergessen, wie sich Normalität anfühlt”, sagt Pledov. 

Im Sommer veranstaltete Pledov mit seinem Label Polygon und den Organisationen SVYST und Grvgrv dann das erste richtige elektronische Musikfestival seit Kriegsbeginn. Der Name des Events, Brudniy Pes, bedeutet auf Deutsch “dreckiger Hund”. Wegen der seit Kriegsbeginn geltenden Sperrstunde ab 23 Uhr musste alles tagsüber stattfinden. Die ganzen Einnahmen, etwa 2.500 Euro, gingen als Spende ans ukrainische Militär.

“Es war richtig groß, 2.500 Menschen kamen”, sagt Pledov. “Wir hatten B-Boys und professionelle Graffitikünstler.” Aktuell liege sein Hauptfokus allerdings darauf, etwa einmal im Monat kleinere Partys für 500 bis 600 Menschen zu organisieren. Auch das ist in Kiew keine Selbstverständlichkeit. “Wir erleben manchmal Stromausfälle von zwölf Stunden oder mehr”, sagt Pledov. “Und viele Verleihfirmen – für Veranstaltungsbeleuchtung zum Beispiel – existieren nicht mehr.”

Ein DJ und ein junger Mann mit Mikrofon auf einer Bühne umgeben von tanzenden Menschen
Ein DJ-Set beim Brudniy Pes | Foto mit freundlicher Genehmigung von Harry Pledov​

Auch die Einnahmen der kleineren Partys gehen an die Armee. Ihr Nutzen reicht laut Pledov aber weit darüber hinaus. “Sie geben den Menschen Energie”, sagt er. “Energie, die sie zum Beispiel in Freiwilligenarbeit einfließen lassen können.” Abgesehen davon sind einige DJs, die auf diesen Partys spielen, Soldaten beim Fronturlaub. “Manchmal gehen sie direkt danach wieder zurück in den Kampf.”

Der Krieg habe der elektronischen Musikszene im Land sogar einen großen Schub gegeben. “Internationale DJs trauen sich wegen des Beschusses nicht mehr her”, sagt Pledov. “Dazu haben wir uns hier von allem Russischen getrennt – von Liedern, Videos und Filmen, die hier früher beliebt waren. Wir sehen es jetzt als unsere Aufgabe, diese Lücken mit ukrainischer Kultur zu füllen.” Mit diesem Gedanken veröffentlicht das Label am 3. März die digitale Compilation Volunteers.

Zum Jahrestag des russischen Angriffs bringt Pledov das Art-is-a-Weapon-Festival nach Berlin, komplett mit ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern.

Die Szene in Kiew ist durch den Krieg nicht nur lokaler, sondern auch unkommerzieller geworden. Kollaborationen stehen viel stärker im Mittelpunkt. Der Künstler Ruslan Pylypenko, auch bekannt als RUSIIICK, hat zum Beispiel schon oft mit Pledov zusammengearbeitet. Vor dem Krieg sang er vor allem in Rockbands, dann fragte ihn Pledov einmal, ob er es nicht auch mal als MC versuchen möchte. Heute leitet Pylypenko sein eigenes Partykollektiv.

“Niemand weiß, wann der Krieg enden wird. Wir können nicht die ganze Zeit in Todesangst zu Hause hocken”, sagt Pylypenko. Vergangenen Sommer arbeitete er zusammen mit Pledov am Brudniy Pes. Wie alle anderen Veranstaltungen, die er in der letzten Zeit organisiert hat, war auch das Festival nicht kommerziell. Der Eintritt betrug etwa fünf Euro pro Tag.

Pylypenko sagt, die Szene habe sich während des Kriegs stark verändert – vor allem, da die meisten Partys jetzt tagsüber stattfinden. “Alle sind nüchtern”, sagt er. “Dir bleiben nur fünf Stunden zum Feiern, du triffst ein paar Freunde und hörst ein bisschen Musik, dann ist die Party vorbei und du musst nach Hause.” Abgesehen von der Sperrstunde wollen die Menschen jederzeit bereit sein, in Deckung gehen zu können. “Es ist Krieg”, sagt Pylypenko. “Man muss konzentriert und nüchtern bleiben, weil jederzeit Raketen einschlagen können und niemand weiß, was als nächstes passiert.”

Auch die Geschmäcker haben sich durch den Krieg verändert. “Vor Jahren sah Kiew wie Berlin aus: dunkle Clubs, Darkrooms, düstere Musik”, sagt Pylypenko. “Aber weil jetzt alles tagsüber stattfindet und weil dies nicht die Zeit für Drogen und Alkohol ist, wird es ukrainischer.” Aber auch britische Sounds wie Breakbeat sind beliebt. “Die Menschen wollen etwas Neues, und die britische Musik ist fröhlicher”, sagt Pylypenko.

Diese Veränderung hat auch DJ Igor Zadorozhnyi bemerkt, der häufig auf Pledovs Partys spielt. “Vor dem Krieg hörten die meisten Menschen Tech-House und Techno”, sagt Zadorozhnyi. “Aber alle berühmten DJs, die diese Richtungen gespielt haben, haben das Land verlassen, als der Krieg begann.”

Zadorozhnyi spielt vor allem Breakbeat und Drum’n’Bass und bekommt immer mehr Auftritte. “Zuerst war es nur mein Hobby, inzwischen ist es mein Leben”, sagt er. Das Fehlen großer Namen in der Szene ließ Platz für ihn und andere, noch unbekanntere Künstlerinnen und Künstler. “Die Musik, die wir spielen, klingt wie Krieg”, sagt Zadorozhnyi. “Ich spiele viel Neurofunk und Hard Drum’n’Bass. Da gibt es metallische Sounds, Maschinengeräusche und Explosionen.” 

Zadorozhnyi war 14 Jahre lang in der Armee. In den ersten Kriegswochen wurde er eingezogen, um die Stadt Irpin vor den Toren Kiews zu verteidigen. Die wochenlangen Kämpfe dort gehören zu den heftigsten des Krieges. 

“Das war sehr ernst, mit Minen und Artillerie”, erinnert er sich. Als er nach Hause zurückkehrte und erfuhr, dass seine Frau schwanger war, entschloss er sich, das Militär zu verlassen. Neben dem Auflegen leitet er jetzt noch die ukrainische Abteilung des High Reliability Organisation Council (HROC), einem Think-Tank, der sich vor allem mit dem Gesundheitswesen beschäftigt und mit dem US-Verteidigungsministerium zusammenarbeitet.

Zadororzhnyi glaubt nicht, dass die Menschen mit den Partys versuchen, den psychischen Auswirkungen des Krieges zu entfliehen. Stattdessen würden sie dort reflektieren und ihre Erlebnisse verarbeiten. “Es würde niemanden wundern, wenn das hier noch zehn Jahre so geht”, sagt er. “Und nach dem Krieg brauchen wir noch mal ein paar Jahre, um unseren Sieg zu feiern.”

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