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Wie ein Ex-Bundeswehroffizier mit einer App die Welt sicherer machen will

Es war ein Checkpoint in Mexiko, der Kevin-Chris Gründels Leben umkrempelte, ihn jahrelang nicht schlafen ließ, eine Familie auseinanderriss und ihn schließlich zum App-Entwickler machte.

An dem Checkpoint standen zwei hochaggressive Typen auf Drogen mit ihren Gewehren und spielten Rambo. Ein enger Verwandter der Gastfamilie, die Gründel für fünf Monate beherbergte, während er ausgerechnet über den mexikanischen Drogenkrieg forschte, überlebte die unvorhergesehene Begegnung mit diesem Duo nicht: Sie schossen dem Mann nach einer kurzen Auseinandersetzung kaltblütig direkt in den Kopf.

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Im Ex-Bundeswehrsoldaten Gründel—ein Mann mit Auslandserfahrung in 45 Ländern inklusive Einsätzen in Mexiko und Usbekistan— löste dieses unmittelbare Erlebnis der eskalierenden Alltagsgewalt tiefe Schuldgefühle aus: „Ich habe zwei Jahre gebraucht, um damit zurecht zu kommen”, so Gründel. Im Zuge seiner Traumabewältigung kam er zu dem Schluss, dass der sinnlose Tod des Mannes durch ein öffentliches Frühwarnsystem verhindert werden könnte.

Demokratisierung von Kommunikation trifft liberale Staatskritik.

Das Ergbnis dieser Überlegungen: Die App RiskAhead, die ab heute (11.2.) im Play Store erhältlich ist—und mit der sich die Zivilbevölkerung gegenseitig vor Gewaltdelikten in Öffentlichkeit warnen kann. Das Prinzip: Gewalt- und Gefahrenvorfälle werden durch User gemeldet, die simultan andere User automatisiert vorwarnen. Durch verschiedenfarbige Markierungen auf einer Karte kann jeder über Gefahren in der Nähe informiert werden kann. Das können homophobe Beleidigungen sein, Prügeleien vor Clubs, Straßenblockaden, Naturkatastrophen oder sexuelle Belästigungen.

Die RiskMap in Berlin am Tag eins nach dem Start | Alle Bilder: Screenshot RiskAhead | Mit freundlicher Genehmigung

Als bekennender Technik-Noob konnte Gründel zwar auf Kontakte zur Übersetzung der Inhalte durch seine Aulandsaufenthalte in 45 Nationen zurückgreifen, die Realiserung der Risikobewertungsapp ist allerdings Kevins Freund, dem Software-Engineer Dennis Thießen zu verdanken, der sich schnell vom Projekt überzeugen ließ: „In Zeiten eines Überangebots an allerlei Social Media Aktivitäten stellt sich mir die Frage, warum es so leicht ist, sich darüber auszutauschen, was man zuletzt gegessen hat, aber kein User sich über lebensrettende Maßnahmen informiert.”, wird Thießen in der Pressemitteilung zitiert.

Erlebe null Risiko“, prangt auf der Website. Doch kann ein kleines Hilfsprogramm dieses Versprechen überhaupt einhalten? Kann eine App jede Gefahr des öffentlichen Lebens bannen? Die Macher von RiskAhead sehen ihr Programm als unterstützendes Hilfsmittel für Sicherheitskräfte zum Zivilschutz, zur Vorbereitung einer Reise oder im Ausland, zur Analyse globaler Konflikte und vor allem als ein Hilfsmittel zur Selbsthilfe und Zivilcourage.

„RiskAhead wäre perfekt für Köln gewesen”

Denn nicht nur in durch Milizen und mafiöse Strukturen geschwächten Staatsgefügen sieht Gründel Bedarf für so ein Frühwarnsystem: „Auch in Europa müssen wir gerade leider eine Zunahme an sozialer Gewalt erleben”. Die RiskAhead-App „wäre perfekt für Köln gewesen”, erklärt Gündel gegenüber Motherboard am Telefon. Nutzer, die sich in Richtung Hauptbahnhof zum Feiern begeben hätte, wären also per Nachricht vor den massiven Diebstählen und Übergriffen gewarnt worden, sobald sie sich in einen festgelegten Radius um die Gefahrenstelle begeben hätten.

Zweitens kann jeder User einen Vorfall melden, indem er sich durch einen kurzen Fragebogen klickt, der einem Anruf beim Polizeinotruf ähnelt: Was ist wann wo in welcher Form passiert, wer ist der mögliche Täter? Dabei müssen nicht alle Angaben gemacht werden, um eine Warnung abzusetzen. Der User markiert den Ort des Vorfalls, daraufhin wird die Gefahr für alle anderen User auf der RiskMap sichtbar und automatisch in andere Sprachen übersetzt. Apropos Polizeinotruf—übernehmen RiskAhead-Nutzer nicht gerade die Jobs, die eigentlich die staatlichen Ordnungshüter erledigen sollten?

Gründel ist da skeptisch. Geprägt von seinen Erfahrungen in Lateinamerika und im Auslandseinsatz glaubt er nicht mehr an ein festes staatliches Gewaltmonopol, das die Bürger tatsächlich vor Straßengewalt schützen könnte. Damit steht er nicht allein; zumindest, wenn man den deutschen Bürgerwehren auf Facebook Glauben schenken mag. Doch ihr Aktionismus, der häufig mehr mit Wehr als mit Bürgerlichkeit zu tun hat, ist anders gelagert als Gründels Selbsthilfe-App. Statt mit Stöcken bewaffnet mit einem Trupp Hools um die Häuser zu ziehen, setzt RiskAhead auf aktive Risikovermeidung und punktuell eingesetzte Zivilcourage—und verbindet damit das Prinzip der Demokratisierung von Kommunikation mit radikal-liberaler Staatskritik.

In Staaten wie Mexiko wurden von der Zivilbevölkerung ausgehende Versuche einer Aufklärung über regionale Gewalttaten bereits staatlich torpediert, erzählt Gründel: So verschrieb sich der Blog Del Narco der unanhängigen Berichterstattung über die grassierende Gewalt durch Drogenkartelle in Mexiko—und sah sich von Anfang an staatlich gesponsorter Cyberattacken ausgesetzt—man wollte durch die Hackerangriffe auf die unabhängige, ehrenamtliche Bürgerinitiative die eigene Unfähigkeit wohl beschönigen, „für soziale Ruhe statt für soziale Ordnung sorgen”, wie Gründel es ausdrückt. Informationen von Behördeseite liefen laut Gründel Gefahr, „vorselektiert” zu werden.

Gründel sieht eine Entstaatlichung des Gewaltmonopols als globale Tendenz—und hat auch eine Antwort darauf: „Die Möglichkeit des Bürgers zur politischer Partizipation muss steigen”, ist er überzeugt. Mit seinem Risiko-Bewertungstool sollen die Nutzer ein Mittel an die Hand bekommen, sich selbst zu helfen und sich gegenseitig zu warnen.

Doch könnte es nicht auch sein, dass besorgte Bürger die Karte mit Dutzenden Falschmeldungen zu angeblichen Flüchtlingsverbrechen fluten, politisch instrumentalisieren und nutzlos machen? „Darüber haben wir uns auch schon Gedanken gemacht”, so Gründel. Der Wahrheitsgehalt einer Meldung lässt sich momentan nur per Schwarmintelligenz mit einem Punktesystem verifizieren: Jeder Gefahrenreporter kann von anderen öffentlich bewertet werden; wer fünf Negativbewertungen für falsche Meldungen anhäuft, wird gelöscht. „Aber das ist keine Garantie, theoretisch könnte man sich immer neue Konten erstellen”, räumt Gründel ein.

Die beiden Entwickler haben die App ohne Inkubator-Geld oder Start-up-Finanzierungen ehrenamtlich entwickelt. RiskAhead ist kostenlos für Android-Geräte im Play Store erhältlich und blendet gelegentlich Werbebanner ein. Wer aber den größeren regionalen oder globalen Überblick über alle Gefahrenherde weltweit haben möchte, kann eine werbefreie Premiumversion kaufen, bei der Nutzer unabängig von der eigenen GPS-Position auch über Gefahrenherde an entfernten Gebieten informiert werden können—richtig benutzt, könnte die App also tatsächlich einen kleinen Beitrag zur globalen Sicherheit leisten.

Am Ende des Gesprächs mit Gründel möchte ich nochmal nachhaken: Wäre seine wirklich schlaue und schöne Idee nicht noch effektiver, wenn sie auch die Informationen von Polizeitickern implementieren würde? Der App-Entwickler zögert—sein Misstrauen sitzt tief. Dann sagt er aber doch: „Wenn die Polizei zu einer Zusammenarbeit bereit wäre, wären wir dafür offen.”